Lebensmittelkontrolleur in Niedersachsen:Don Quichotte in der Küche

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Lebensmittelkontrolleur Rudolf Wilkens (Foto: Christian C. Schmidt)

Rudolf Wilkens schaut auf Zapfhähne, in Kühlräume, in Ställe: Er ist Lebensmittelkontrolleur - von denen es in Deutschland viel zu wenig gibt. Wer ihn betrügen will, hat leichtes Spiel. Und seine Arbeit leidet auch darunter, dass die Politik auf jeden Skandal nach dem gleichen Muster reagiert.

Von Charlotte Frank

So geht es ja nun nicht: Rudolf Wilkens steht im Verkaufsraum eines Obsthofs, er dreht ein Glas Kirschmarmelade in der Hand, er ist unzufrieden. "M? H? D?", sagt er, "da muss stehen: Mindestens haltbar bis". Der Marmeladenverkäufer, ebenfalls unzufrieden, widerspricht: "Das passt nicht. Dann muss ich kleiner drucken." Das aber, belehrt ihn Wilkens, ist auch verboten. Die Mindestschriftgröße sei drei Millimeter, der Marmeladenmann müsse eben ein größeres Etikett nehmen. "Dann wird's teurer", schimpft der.

Wilkens stellt das Glas zurück: "Sie wissen doch: Kosten haben die Lebensmittelsicherheit nicht zu interessieren."

Haben Sie eben doch. Weil die Deutschen so billige Lebensmittel erwarten, dass ständig irgendwo getrickst wird. Weil der Kostendruck immer zulasten eines Glieds in der Kette geht: der Hersteller, der Veredler, der Verkäufer. Weil die Antwort auf jeden neuen Betrug noch mehr Regeln sind. Deshalb ist Wilkens an diesem Tag unterwegs durchs Alte Land südlich von Hamburg, fährt Höfe, Cafés, Mästereien an.

Ist die Häufung in Niedersachsen Zufall?

Rudolf Wilkens ist Lebensmittelkontrolleur im Kreis Stade in Niedersachsen - dem Bundesland, von dem aus im März der mit Schimmelpilzgift belastete Futtermais verschickt worden war. Dem Land, in dem zuvor der Skandal um falsch deklarierte Eier aufgeflogen war. Die Häufung in Niedersachsen mag Zufall sein, schließlich war im Februar und vergangene Woche wieder als Rind deklariertes Pferdefleisch in Supermärkten in ganz Deutschland angeboten worden.

Aber ist es auch Zufall, dass in den ersten vier Monaten des Jahres schon vier Lebensmittelaffären durchs Land gegangen sind? Und dass alle eher zufällig entdeckt wurden? So wie im Eier-Skandal: Da war die falsche Deklaration einem Richter aufgefallen - und nicht einem Lebens- oder Futtermittelkontrolleur. Schon fordert der Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure, das Personal aufzustocken: von aktuell 2400 Prüfern in Deutschland auf 4000. "Wir fühlen uns manchmal wie Don Quichotte", sagte kürzlich Martin Müller, der Verbandsvorsitzende.

Wer wissen will, woher er diese Aussage nimmt, der sollte einen Tag mit einem wie Rudolf Wilkens verbringen, der sozusagen der Don Quichotte von Stade ist. Wilkens ist gelernter Koch und hat sich nach der Meisterprüfung zwei Jahre lang zum Lebensmittelkontrolleur weitergebildet. Seit elf Jahren arbeitet er in Stade, es ist ein guter Job, sagt er. "Obwohl sich natürlich keiner freut, wenn ich komme."

Es ist neun Uhr, als er vor einer Bäckerei in der Nähe von Jork parkt. "Moin", ruft Wilkens in die Backstube, dann nimmt er seine Kontrolleurshaltung ein: setzt eine schmale Brille auf die Nasenspitze, rundet die Schultern, zückt eine Taschenlampe. Seine Bewegungen haben plötzlich etwas Wieselhaftes. Er tastet Schwarzbrotkästen ab, sucht nach Spuren von "Schadnagern", öffnet Schubladen und Türen. Der Bäckermeister läuft verlegen wie ein Schuljunge hinterher. In der Kammer erwischt es ihn: "Was ist das denn?", fragt Wilkens und wedelt mit einem Holzrahmen durch die Luft. "Das ist noch von meinem Vater", sagt der Meister, "ein Abtropfgitter, das kann eigentlich weg." Ja, sagt Wilkens, dann mal weg damit.

Er spürt dann noch Rost im Garraum auf, liest die Hygienezeugnisse der Verkäuferinnen und prüft, ob die Thermometer in den Kühltruhen richtig eingestellt sind. Das Brot? Sieht gut aus, riecht gut, wird schon stimmen. Proben, sagt Wilkens, ziehe er nur etwa in jedem zehnten Betrieb. "Meistens muss ich mich darauf verlassen, was ich sehe und rieche."

Es klingt wie Schiffe versenken

Aber würde er Pferdefleisch sehen? "Im eingefrorenen Zustand wohl nicht." Würde er Schimmelgift riechen? "Nur im Einzelfall." Es sei schon viel Zufall dabei, jemanden zu erwischen, der betrügen wolle, sagt er. Es habe auch viel mit Erfahrung zu tun. Es klingt wie Schiffe versenken.

Lebensmittelkontrollen sind in Deutschland Ländersache, die meisten Länder geben, wie Niedersachsen, die Aufgabe an die Kommunen weiter. Schon 2011 rügte der Bundesrechnungshof dieses System: Der Bund habe allenfalls zufällige Kenntnis darüber, was die Länder im Bereich der Lebensmittelkontrollen so alles anstellen.

In Stade stellen sie es so an: Es gibt 2519 Betriebe, die Lebensmittel herstellen, veredeln oder verkaufen. Im vorigen Jahr wurde die Hälfte davon kontrolliert, dabei geht das Amt nach einer "risikobewährten Vorlagenliste" vor: Jeder Betrieb wird mit einer Zahl an Risikopunkten bewertet - die hängt von den Produkten ab, mit denen er umgeht, von der Menge, von Erfahrungen. Je mehr Punkte ein Laden hat, desto öfter wird er geprüft: Im schlechtesten Fall alle paar Wochen, im besten alle 18 Monate.

Das alte Restaurant in Jork war vor zwölf Monaten zuletzt dran, nun steht dringend wieder ein Besuch an. Es ist elf Uhr, als Rudolf Wilkens Wieselhaltung annimmt und die Küche betritt. Alles glänzt. Wirklich alles? Wilkens bittet den Koch, die Tülle von der Sahne-Sprühdose abzuschrauben. Glänzt immer noch. Und der Schlauch der Zapfanlage? Auch sauber. Selbst das Reinigungsprotokoll für die Espressomaschine ist in Schönschrift geführt. Doch Wilkens entgeht nichts: Auf der Menükarte ist der Kaffee nicht als koffeinhaltig markiert. Ein Regelverstoß.

Es wiederholen sich nach jedem Lebensmittelskandal die gleichen Muster: Auf die Empörung folgt der Ruf nach strengeren Regeln, folgt das Vergessen, folgt mindestens eine neue Norm, die die Prüfer überwachen müssen. Schon lange plädiert der Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure dafür, die Kontrollen zu verändern, anstatt sie weiter zu überfrachten. Sinnvoll sei es etwa, stärker auf risikoreiche Produkte zu schauen als auf das ganze Paket. Auch Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) hat nach den Skandalen vom Frühjahr neuen Gesetzen eine Absage erteilt. "Man muss sich die Betriebe auch mal vor Ort anschauen", sagte sie.

Und Rudolf Wilkens, vor Ort, sagt: "Wir haben genug Regeln. So viele, dass ich oft mehr auf die Qualität der Protokolle achten muss als auf die Qualität der Produkte." Letztlich könne er durch die Kontrollen eh nur das Bewusstsein schärfen. "Die wirklich schlechten Betriebe erreicht man mit den Regeln kaum."

Kein Temperaturprotokoll für die Kühltruhe

Von einem schlechten Betrieb zu sprechen, wäre übertrieben. Aber der Obsthof bei Stade ist zumindest nicht so geführt, dass selbst die Sahnetüllen von innen glänzen. Hat drei eingedellte Äpfel in den Korb der Handelsklasse 1 gelegt. Hat unter dem Preis für die belegten Brötchen nicht die Zusatzstoffe in der Salami aufgeführt. Hat die Marmelade falsch etikettiert. Und obendrein kein Temperaturprotokoll für die Kühltruhen geführt - zum zweiten Mal nicht. "Sie kriegen ein Merkblatt dazu, ich komme bald wieder. Da kann es teuer werden", sagt Wilkens.

Er kann vor Ort Verwarngeld bis zu 35 Euro verlangen, bei größeren Verstößen bis zu mehreren Tausend Euro. Die höchste Strafe sind Betriebsschließungen, Teilschließungen oder Strafen bis 100.000 Euro. "Nee klar. Merkblatt. Alles gut", sagt der Mann vom Obsthof. Dann steigt Wilkens in sein Auto, der Verkäufer winkt ihm nach.

Fünf Minuten später könnte er sämtliche Temperaturprotokolle für die nächsten Tage im Voraus ausgefüllt haben.

© SZ vom 17.04.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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