Kuba:Unbekanntes Tagebuch Humboldts schildert Gräuel der Sklaverei

Africa: European slave traders attack and capture victims in Africa.

Spanische Sklavenhänder waren die Ersten, die Menschen aus Afrika in die neue Welt verschleppten.

(Foto: picture alliance/CPA Media Co.)

Sklaven werden in brennende Plantagen gejagt, Menschen verhungern. In dem bislang unbekannten Dokument schildert der Naturforscher die Gräuel des Sklavenhandels. Forscher sind begeistert.

Von Kathrin Zinkant

Es dauerte nicht lange, bis die Rauchschwaden mehr als hundert Meter in den schwarzen Nachthimmel hinaufgestiegen waren. Das Zuckerrohrfeld brannte. Blaue, grüne, rote Flammen schossen aus der Glut heraus. Sklaven hatten sich um das Feuer aufgestellt, sie sollten verhindern, dass das Inferno weiter um sich griff. Und nein, bei dem spektakulären Schauspiel handelte es sich nicht etwa um ein Versehen oder gar um ein Unglück. Es war eine Jagd, eine Jagd auf Menschen. Ein flüchtiger Sklave hatte sich im Dickicht des Feldes versteckt. Die Feuersbrunst sollte ihn nun wieder heraustreiben - oder ihn für seine Flucht mit dem Tod bestrafen. Gefunden wurde der Mann am nächsten Tag, erstickt im Rauch des Feuers. "Er zog den Tod gegenüber der Gefahr vor, sich fangen zu lassen", notierte ein Augenzeuge damals, vor mehr als 200 Jahren, voller Bewunderung in seinem Tagebuch. Der Name dieses Zeugen: Alexander von Humboldt. Das Tagebuch aus jener Zeit: bisher völlig unbekannt.

Es ist schon eine Sensation, was Forscher aus Berlin und Potsdam vor wenigen Tagen in der Hauptstadt vorgestellt haben: 37 Seiten Aufzeichnungen, die erstmalig Einblick in die unmittelbaren Erlebnisse des Naturforschers auf der großen Antilleninsel Kuba im Jahre 1804 geben. Der Inhalt dieses kurzen Dokuments ist so brisant, dass zur Präsentation des "Tagebuchs Havanna 1804" eine Delegation der kubanischen Wissenschaftsakademie nach Berlin reiste. Gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wollen die Besucher nun Humboldts Schriften erforschen. Und sie zugleich für ein technisches Pilotprojekt nutzen. Für die Kubaner geht es dabei um Vergangenheitsbewältigung.

Denn obwohl mit der Insel heute meist eher Kommunismus, Fidel Castro und Che Guevara verbunden werden, gehörte Kuba einst zum spanischen Kolonialimperium - und es spielte eine zentrale Rolle im modernen Sklavenhandel des 19. Jahrhunderts. Humboldt wiederum, der Naturforscher, Pflanzenkenner und Erdvermesser, präsentiert sich im Tagebuch Havanna vor allem als Ökonom und Sozialwissenschaftler, der das Phänomen der Sklaverei akribisch beobachtete und es in einen globalen, vor allem wirtschaftlichen Zusammenhang setzte. Das neue Fragment ist also ein veritabler Schatz - und erst der Anfang.

Es ist schwer zu glauben, dass von der großen Ikone der deutschen Wissenschaftsgeschichte überhaupt noch etwas existiert, das nicht längst in mehreren Fassungen auf Papier gedruckt, zu Büchern gebunden und wissenschaftlich exzessiv analysiert worden ist. Tatsächlich aber lagerten im Berliner Schloss Tegel bis vor zwei Jahren noch 3500 Manuskriptseiten, die Humboldt während seiner Reisen durch die Amerikas, also Nord-, Mittel- und vor allem Südamerika, angefertigt hat - und deren Inhalt er für seine späteren Veröffentlichungen über Kuba nur in Bruchteilen benutzte. Inzwischen sind diese unbekannten Schriften von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erworben worden. Sie sollen nach und nach vollständig erschlossen werden, oder "ediert", wie Geisteswissenschaftler es nennen.

Zweifelsohne wird das eine Mammutaufgabe. Denn wie das jetzt veröffentlichte Fragment von nur 37 Seiten enthalten auch die vielen anderen, noch nicht bearbeiteten Seiten Informationen einzigartiger Dichte. Humboldt war eben durch und durch Wissenschaftler, er notierte nicht nur Reiseerlebnisse oder schockierende Eindrücke wie brennende Zuckerrohrfelder. Vor allem notierte er Zahlen. Der erste Eintrag des Tagebuchs Havanna 1804 nennt die Produktionsmengen der Zuckerplantagen, und immer wieder beziffert Humboldt im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Leistung auch, wie viele Sklaven auf Kuba und den benachbarten Inseln der Karibik leben. Auf Kuba selbst sind es nach Angaben von Humboldt damals bis zu 180 000. Und in Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, leben laut Humboldt zeitweise mehr als 450 000 Sklaven - mehr als zehnmal so viele, wie es Weiße in der Kolonie gibt.

Spaniens Kolonialreich erstreckte sich fast über die gesamten Amerikas

Vor allem für Sklavenforscher ist das verschollene Tagebuch Havanna deshalb ein großes Glück. "Es gab Zeiten, da habe ich selbst nicht daran geglaubt, dass es existieren könnte", sagt der Historiker Michael Zeuske von der Universität in Köln. Zeuske befasst sich vorwiegend mit der Erforschung des Sklavenhandels in den Amerikas, er gilt als großer Kubakenner und hat selbst auf der Insel gelebt. Anlässlich der Veröffentlichung des Tagebuchs Havanna 1804 hat Zeuske einen Forschungsessay verfasst, der zusammen mit dem Fragment erschienen ist. Darin beschreibt er detailreich, in welchen fast vergessenen weltpolitischen Zusammenhängen sich der junge Humboldt bewegte. Spaniens Kolonialreich erstreckte sich um die Wende zum 19. Jahrhundert fast über die gesamten Amerikas, mit der Karibik in der strategischen Mitte. Und Kuba war schon 1492 von Christoph Kolumbus in Besitz genommen worden.

Als Humboldt 1799 erstmals auf der Insel landete, war sie - mit kurzer Unterbrechung - bereits mehr als 250 Jahre in spanischer Hand. Sklaverei hatte es in den amerikanischen Kolonialgebieten seit Beginn der Conquista gegeben: Wer von den indigenen Bewohnern der Amerikas nach der Eroberung nicht ausgelöscht worden war, fristete sein Dasein meist als sklavenähnlicher Zwangsarbeiter im Dienste der Kolonialherren, wie Zeuske berichtet.

Der Naturforscher wollte Sklaven befreien - ein Revolutionär war er nicht

Zum Ende des 18. Jahrhunderts hin entwickelte sich allerdings ein Problem. Der Anbau von Tabak, Kaffee, Kakao und vor allem von Zuckerrohr geriet in den Sog der industriellen Verarbeitungsmethoden. Neue Maschinen hielten Einzug in die Fabriken, und sie waren hungrig. Immer schneller verarbeiteten sie immer größere Mengen von Rohstoffen. Vor allem der Anbau von Zuckerrohr ließ sich in dem gewünschten Maßstab nicht mehr mit der vorhandenen Arbeitskraft bewältigen. Es gab einfach zu wenige Sklaven, die Indigenen galten nicht als besonders ausdauernd. Und so begann eine neue Ära der Sklavenhaltung, in deren Zuge Millionen Afrikaner von ihrem Heimatkontinent über den Atlantik nach Amerika verschleppt wurden.

Friedrich Georg Weitsch - Portrait of Alexander von Humboldt- 1806 - XIX th century - German school - Alte Nationalgalerie - Berlin

Porträt Alexander von Humboldts 1806

(Foto: Alamy/mauritius images)

Die "Negros" waren in der Szenerie der Amerikas natürlich nicht völlig neu. Schwarze Sklaven hatte es in den Kolonialreichen schon vorher gegeben, und auch nach Kuba waren vor dem 19. Jahrhundert bereits viele Afrikaner verschleppt worden. Aber erst um 1790 setzte der massive Menschenhandel ein. Das spanische Generalkapitanat Kuba entwickelte sich binnen 30 Jahren zum Zentrum der second slavery, zur Drehscheibe der Sklavenökonomie in den Amerikas. Und mittendrin der junge Alexander von Humboldt, der im Frühjahr 1804 gerade mal 34 Jahre alt war - und die Vorgänge dennoch mit Distanz und Weitblick dokumentierte. Dass Humboldt den Sklavenhandel ablehnte, hat er später in einem zweibändigen Essay über Kuba mehr als deutlich gemacht.

Pilotprojekt der Digital Humanities

Wie der Naturforscher die Freiheitsberaubung jedoch aus der Nähe erlebte, in "real time", wie Zeuske sagt, werden die Wissenschaftler nun nach und nach aus den neuen Schriften rekonstruieren können. Das Jahr 1804 ist in dieser Rekonstruktion ein besonders wichtiges, weil es die Unabhängigkeit im zu Kuba benachbarten Haiti markiert. Die unter den spanischen Eroberern zunächst Santo Domingo und in französischen Händen später dann Saint-Domingue genannte Kolonie auf der Insel Hispaniola hatte dreizehn Jahre blutiger Sklavenaufstände hinter sich, eine Entwicklung, die Humboldt mit Sorge verfolgte. Der Naturforscher war zwar für eine Sklavenbefreiung, aber er war alles andere als ein revolutionärer Charakter. Saint-Domingue taucht deshalb häufig im Tagebuch Havanna auf, unter anderem beziffert Humboldt die Konsequenzen der gewaltsamen Befreiung mit dem wirtschaftlichen Verlust: Die Produktion von Kaffee und Zucker sei zwischen 1788, also vor dem Beginn der Aufstände, und 1799 um drei Viertel eingebrochen.

Das Tagebuch Havanna ist aber nicht allein wegen seiner Details zum Sklavenhandel von Bedeutung für das Team um den Projektleiter Ottmar Ette von der Universität in Potsdam. Das Fragment ist zum methodischen Pilotprojekt der Digital Humanities in Berlin geworden. Und in dieser Rolle liefert es ein sehr gutes Beispiel dafür, dass die Digitalisierung in den Geisteswissenschaften sich nicht allein darauf beschränkt, hoch aufgelöste Scans von vergilbten Dokumenten anzufertigen, bevor diese zerbröseln. Wissenschaftlich ausschöpfen lässt sich eine Schrift wie das Kuba-Tagebuch nur, wenn man es in Bezug zu anderen Schriftstücken, zu Personen, Ereignissen setzen kann, und zwar nicht durch händisches Verlinken, sondern automatisiert und weltweit. Gelingen kann das nur, wenn die edierten Texte in der digitalen Abschrift mit einheitlichen Auszeichnungen in einer maschinenlesbaren Sprache versehen werden - so, wie der Inhalt von Webseiten mit der Hypertext Markup Language, kurz HTML, ausgezeichnet ist.

In den Geisteswissenschaften, die besondere Anforderungen an so eine Sprache stellen, hatte es einen solchen Standard lange nicht gegeben. Viele Forscher kochten ihr eigenes Süppchen mit dem Ergebnis, dass sich vergleichende Studien im Netz kaum anstellen ließen und die Dokumente nicht dauerhaft verfügbar waren. Umso stolzer ist der Arbeitsstellenleiter der BBAW, Tobias Kraft, jetzt auf die Betaversion einer neuen Plattform, die zusammen mit dem Kuba-Tagebuch in Berlin vorgestellt wurde. Sie heißt "Alexander von Humboldt auf Reisen" und ist unter dem Link avhr.bbaw.de zu finden. Hier sollen alle edierten Texte der neuen Manuskripte gesammelt werden, nachdem man sie mit dem Standard TEI der Text Encoding Initiative ausgezeichnet hat. TEI ist eine für die Digital Humanities entwickelte Sprache, auf die man sich in den vergangenen 29 Jahren mit einigem Aufwand geeinigt hat. Der Text kann durch wenige Klicks mit Schriften in Verbindung gebracht werden, die in Bibliotheken auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel lagern, oder mit Personen, die in einer entsprechend ausgezeichneten Datenbank geführt sind.

"Humboldt verwendet in seinen Schriften zum Beispiel immer wieder neue Maßeinheiten, je nachdem, wo er sich gerade aufhält", sagt Kraft. "Unser System ermöglicht est, diese Angaben vergleichbar zu machen." Querverweise, Quellenangaben, lexikalische Erläuterungen, Ortsbezüge - es gibt schon auf den 37 Seiten des neuen Fragments sehr viel zu entdecken, wenn man es auf der Website durchforstet. Vorausgesetzt natürlich, man beherrscht die französische Sprache, die Humboldt im Tagebuch benutzt. Was mag noch alles aus den übrigen 3463 Seiten Aufzeichnungen folgen, sobald sie bearbeitet sind? Das Tagebuch Havanna 1804 ist wohl nur ein erstes, wichtiges Puzzlestück, das Humboldts Bedeutung als Sklavenforscher unterstreicht. Und ihn erneut als Wissenschaftler zeigt, der die Welt als Ganzes betrachtete.

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