Kriegsverbrechen:Psychologie des Massenmords

Hermann Göring bei den Nürnberger Prozessen, 1945

Der Angeklagte Hermann Göring am 2.12.1945 in seiner Gefängniszelle während der Nürnberger Prozesse.

(Foto: SZ Photo)

Interviews mit 55 verurteilten Kriegsverbrechern zeigen, dass kaum einer Reue empfindet. Fast alle rechtfertigen sich nach dem gleichen Schema.

Von Ronen Steinke

Wer die Pforte eines Gefängnisses passiert, betritt eine Zone, in der sich schon von Gesetzes wegen niemand selbst belasten muss, und wer dann noch all die weiteren Sicherheitsschleusen überwindet bis hin zu dem Bereich, in dem die politischen Gewalttäter leben, der findet sich erst recht nicht an einem Ort der ehrlichen Bekenntnisse wieder, sondern in der wundersamen Welt der politischen Propaganda. Da darf man sich nichts vormachen: Männer, die sich für historische Figuren halten, über die dereinst der Weltgeist urteilen werde, lassen sich nicht mit Fakten festnageln.

Abwarten, sagte zum Beispiel der einstige Serbenführer Radovan Karadžić im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung vor einigen Jahren, als er auf den Massenmord an mehr als 7000 muslimischen Jungen und Männern im Ort Srebrenica angesprochen wurde - verübt von serbischen Kämpfern im Juli 1995. Die Dinge seien komplizierter, als es in Europa viele wahrhaben wollten, sagte Karadžić. Außerdem sei er kurz davor, die Wahrheit aufzudecken, und nun bitte zurück zum Smalltalk über das Essen im Gefängnis.

Was bringt so ein Gespräch? Durchaus einiges, meinte als Erster der amerikanische Psychologe Gustave M. Gilbert, der 1945 in Nürnberg die Chance bekam, NS-Größen wie Hermann Göring, Rudolf Heß und Ernst Kaltenbrunner unter vier Augen in deren U-Haft-Zellen zu befragen. Die Interviews, die Gilbert führte, gelten heute als wertvolle Zeitdokumente - nicht, weil sie historische Wahrheiten enthalten würden, sondern, weil sie psychologische Verhaltensmuster aufzeigen: So klar sah man selten, wie die Angeklagten alle Schuld von sich wiesen, nicht indem sie an Details von Beweisketten herumdeutelten - sondern indem sie ihre Taten in einen größeren, angeblich rechtfertigenden Kontext rückten. Das Muster war auffällig.

Das schlechte Gewissen wird neutralisiert - zum Beispiel durch die Entmenschlichung der Opfer

Jeder Befragte verfuhr so. Dahinter steckt mehr als nur oberflächliche ideologische Rhetorik. Dieses Verhalten ist, wie die Kriminalpsychologie besonders seit den Studien der US-Psychologen Gresham M. Sykes und David Matza in den 1950er-Jahren beobachtet, ein bedeutender Teil jener psychologischen Voraussetzung, die Verbrechen überhaupt erst ermöglicht. Es braucht die Fähigkeit, Skrupel auszuschalten, das schlechte Gewissen gewissermaßen zu neutralisieren, ob durch Entmenschlichung der Opfer oder zumindest durch Kleinreden des angerichteten Schadens. Das Prinzip gibt es in allen Gewichtsklassen von Delikten, vom Gelegenheitsdiebstahl eines Bademantels im Hotelzimmer bis zum Mord.

Der belgische Kriminologe Damien Scalia nun hat die Interview-Leistung des einstigen Nürnberger Gefangenen-Psychologen Gustave M. Gilbert um das Dreifache übertroffen: Über einen Zeitraum von vier Jahren (2011-2015) hat er 55 Männer befragt, denen die schwersten Verbrechen nach internationalem Recht vorgeworfen werden; Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 37 dieser Männer wurden vom UN-Tribunal für Ruanda wegen der Beteiligung am Völkermord im Jahr 1994 verfolgt. Der Kriminologe traf sie zum Gespräch in einem Besuchsraum der Untersuchungshaftanstalt der Vereinten Nationen in der tansanischen Stadt Arusha sowie in Gefängnissen in Mali und Benin. Die übrigen 18 Männer stammen vom Balkan, sie sind verurteilt wegen Verbrechen in den Jugoslawien-Kriegen. Sie hat der Forscher Damien Scalia, der an der Universität Leuven lehrt, in Gefängnissen getroffen, die über ganz Europa verstreut sind.

Die Kriminologen waren überrascht: Niemand leugnete die Verbrechen

Der Kriminologe Scalia sicherte den befragten Männern stets Anonymität zu, er bemühte sich herausfinden, ob sie sich selbst und ihre Taten infolge ihres Strafprozesses oder ihrer Strafe anders sehen. Die Ergebnisse hat er jetzt gemeinsam mit seinen Kolleginnen Marie-Sophie Devresse und Mina Rauschenbach in der dieser Tage erscheinenden Ausgabe der Fachzeitschrift International Criminal Law Review zusammengefasst; ein Buch soll noch folgen. Empirisch steht der Masse an Material, welches sie dokumentiert haben, eine nur sehr kleine Zahl von validen Schlussfolgerungen gegenüber: Die Befragten sind nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden, sondern sie haben sich freiwillig gemeldet. Zu betrachten sind hier also nur Männer mit einer besonderen Motivation zum Psychologen-Gespräch. Den ersten Gefangenen zu finden, der reden wollte, sei sehr schwierig gewesen, erzählt der Forscher Scalia. "Aber als das geklappt hatte, meldeten sich immer mehr Leute bei mir. Es sprach sich herum, dass ich offen dafür war, mir auch Beschwerden über die Justiz anzuhören."

Das Interesse der Verurteilten, an der eigenen und der kollektiven Legende zu stricken, lässt sich schwer von ihren Aussagen abtrennen. Hinzu kommt, dass bei jenen Gefangenen, die vielleicht tatsächlich von Selbstzweifeln oder Reue beschlichen werden, die Ehrlichkeit dadurch gehemmt worden sein dürfte, dass die Gespräche zwar anonym geführt wurden, aber nicht geheim. Mitgefangene - ehemalige Kampfgenossen - bekamen es mit.

Gerade deshalb ist überraschend, was die Kriminologen zu hören bekamen. Niemand leugnete die eigenen Verbrechen. Niemand stritt die gerichtlich festgestellten Fakten ab. Typisch für die Rechtfertigungen, welche die Gefangenen vortrugen, war etwa die Aussage eines Mannes, den die Forscher nur als Nummer sechs bezeichnen: "Du findest dich zwischen zwei Türen. Auf der ersten Tür steht, du wirst dich verteidigen, auf der zweiten Tür, du wirst zulassen, dass sie dich umbringen. Eine dritte Tür gibt es nicht. Meine Wahl war, dass ich mich verteidigt habe. Mir war klar, dass sie, wenn sie in unsere Stadt gekommen wären, Frauen vergewaltigt, meinen Vater umgebracht und allerlei weitere Gräuel gegen uns begangen hätten."

Die Ausnahme waren zwei Männer, die beide wegen Vergewaltigung angeklagt waren

Der behauptete Mangel an Handlungsalternativen ist, wie die Forscher schreiben, die häufigste Begründungsfigur in allen Interviews gewesen. Die Befragten präsentierten "sich als Spielfiguren, die den Gesetzmäßigkeiten des Krieges unterworfen seien", was indes die Gerichte in jedem dieser Fälle als unwahre Schutzbehauptung zurückgewiesen haben, wie man ergänzen sollte. Der Kriminologe Scalia weiter: "Taten werden als notwendig beschrieben, fast als automatische Reaktionen auf plötzliche, nicht steuerbare Ereignisse."

Interessant ist die Ausnahme davon: Zwei der 55 befragten Männer zeigten Reue, einer aus Ruanda, einer aus dem ehemaligen Jugoslawien. Das verbindende Element? "Ich weiß nicht, ob es Zufall ist", sagt Scalia, "aber beide waren wegen Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt angeklagt." Sind diese Verbrechen selbst nach dem verqueren Kodex von rassistischen Milizionären schwerer zu rechtfertigen als die Tötung von Zivilisten, die man als Kämpfer verbrämen kann? Oder ist es den Gerichten auf eine Weise gelungen, zumindest bei diesen Delikten Risse in die psychologische Schuldabwehr der Angeklagten zu schlagen? Die Kriminologen um Damien Scalia haben keine definitive Antwort darauf, aber sie haben ein neues Projekt. Dieselbe Art von Befragung wollen sie jetzt mit Kriegsverbrechern durchführen, die vor Wahrheitskommissionen angeklagt waren, nicht vor klassischen Gerichten. Wahrheitskommissionen belohnen Geständnisse besonders großzügig. Vielleicht sind sie erfolgreicher darin, die Täter zum Umdenken zu bringen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: