Krebsforschung und Mobilfunk:Handy am Hirn

Eigentlich betrifft das Urteil nur den konkreten Fall, trotzdem hat es weltweit Wellen geschlagen: Ein italienisches Gericht hat geurteilt, Mobilfunk könnte Hirntumore auslösen. Nachweisen, ob dem wirklich so ist, kann die Krebsforschung gerade nicht. Die Wissenschaftler sind mit Streiten beschäftigt.

Christopher Schrader

Der Spruch des italienischen Kassationsgerichts in Sachen Innocente Marcolini trägt die Nummer 17438. Eigentlich hat er nur Bedeutung für den Geschäftsmann aus Brescia und seine Berufsversicherung. Doch das Urteil hat Wellen bis nach Schweden geschlagen, in die USA und nach Bremen, und eigentlich hätten die Wogen noch viel weiter laufen können. Schließlich hat zum ersten Mal ein oberstes Gericht festgestellt, dass Mobiltelefone Tumore im Kopf auslösen können. Doch was der Spruch vor allem zur Folge hat, ist eine Auseinandersetzungen unter Krebsforschern, die mit Wörtern wie "Debatte" oder "Streit" unzureichend beschrieben wäre. Es ist eine Schlammschlacht.

Alte Feindschaften sind neu aufgebrochen, Vorwürfe von Forschungsfälschung und Rufmord wabern durch das Netz. Es geht um Rechthaberei, Rache, dubiose Dokumente und viel Geld. Und um das Versagen der Wissenschaft. Statt den noch unklaren Hinweisen auf eine Krebsgefahr durch Handys rational und professionell nachzugehen, igeln sich die Fachleute in ihren Lagern ein. Ein Drama in drei Akten.

Erster Akt: das Urteil

Angefangen hat alles Mitte Oktober, als das Kassationsgericht in Rom letztinstanzlich verkündet, Handys und schnurlose Telefone könnten Tumore im Kopf auslösen - und dem Kläger eine Rente zuspricht. In Marcolinis Kopf war 2002 ein gutartiger Tumor am Trigeminus-Nerv entdeckt worden. Der Knoten saß beim linken Ohr und ließ sich problemlos entfernen, Marcolini aber klagt bei seiner Berufsgenossenschaft auf eine Entschädigung. Er habe aus beruflichen Gründen zwölf Jahre lang sechs Stunden am Tag schnurlose Telefone und Handys an seinen Kopf gehalten, argumentiert er. Das habe den Tumor ausgelöst. Die Richter stimmen zu, verweisen allerdings auch darauf, dass der Fall sich vom "normalen, nicht professionellen Gebrauch mobiler Telefone" unterscheide.

Das Urteil ist nun aus mehreren Gründen erstaunlich. Bei weniger umstrittenen Gefahren etwa durch Asbest haben Gerichte Jahrzehnte gebraucht, Betroffenen recht zu geben. Zudem haben sich die Richter in Rom wissenschaftlich gesehen in der Causa Marcolini auf einen dünnen Ast hinausgewagt - selbst wenn man die Argumente einer Minderheit unter den Krebsforschern ernst nimmt.

Die Richter stützten sich vor allem auf Daten des schwedischen Epidemiologen Lennart Hardell vom Universitätskrankenhaus Örebro. Er hat über viele Jahre hinweg immer wieder Ergebnisse veröffentlicht, wonach der intensive Gebrauch mobiler Telefone seltene Gehirntumore begünstigt: Natürlicherweise werden solche Krebsfälle bei etwa fünf von hunderttausend Menschen im Jahr diagnostiziert. Hardell zufolge machen Mobiltelefone sie zwei- bis dreimal so häufig. Viele Kollegen bestreiten Hardells Daten, weil ihre eigenen Untersuchungen keine solchen Effekte zeigen. Er hat aber auch Fürsprecher.

Bei der Forschung geht es vor allem um bösartige Gliome, die tödlich sein können, und gutartige Neurinome. Diese entstehen meist in den Schwann-Zellen, die Nervenfasern umhüllen. In Hardells Studien, wie auch vielen anderen, werden sie meist am Acusticus, dem Hörnerv, untersucht. Auch Marcolinis Tumor betraf die Schwann-Zellen, aber an einem Nerv, über den es keine solchen wissenschaftlichen Studien gibt.

Die Richter in Rom beschließen, sich auf die Acusticus-Daten zu stützen. Und sie fokussieren einseitig auf Hardells Studien, während sie Daten einer anderen Forschungsgruppe als unbrauchbar abqualifizieren. Diese hatte im Rahmen der "Interphone"-Studie in insgesamt 13 Ländern nach eigener Darstellung keinen Zusammenhang zwischen den Nerventumoren und Handys gefunden. Die Interphone-Experten gelten den italienischen Richtern aber als industrienah, weil Geld der Mobilfunkwirtschaft zur Finanzierung der Studien genutzt wurde. Hardell hingegen habe nichts von der Industrie angenommen.

Diese Wertung halten Kritiker für absurd. Laut Alexander Lerchl von der Jacobs-Universität in Bremen, dem engagiertesten Gegner Hardells, habe der Schwede bei Studien zwischen 2002 und 2004 den Telefonkonzern Telia als Sponsor angegeben. Michael Repacholi, der früher die Arbeit der Weltgesundheitsorganisation WHO zu der Frage koordiniert hat, protestiert zudem im Wissenschaftsmagazin Nature gegen die Ausgrenzung der Interphone-Daten: "Das Geld wurde über eine zwischengeschaltete Organisation gezahlt, die als Brandmauer wirkte. Die Industrie hatte überhaupt keinen Einfluss auf das Resultat der Studie."

WHO: "Womöglich krebserregend"

Zudem hat auch die Krebsforschungsagentur IARC in Lyon, die zur Weltgesundheitsorganisation WHO gehört, Handystrahlung im Frühjahr 2011 als "womöglich krebserregend" eingestuft. Sie stützte sich dabei auf Hardell, der bei den entscheidenden Sitzungen anwesend war, aber auch auf die Interphone-Daten. Diese zeigen nämlich bei Intensivnutzern eine leichte Erhöhung der Krebszahlen. Das Risiko für Gliome nimmt um ungefähr 40 Prozent zu, das für Acusticus-Neurinome um 180 Prozent, wenn das Telefon jahrelang benutzt wird. In diesem Fall wären die seltenen Tumore etwas weniger selten.

Diese Zahlen stehen in den Abschlussberichten der Interphone-Gruppe, sie sind statistisch signifikant, beruhen aber auf kleinen Fallzahlen. Viele Forscher misstrauen ihnen. Manche zweifeln an der Aussagekraft von Hirntumor-Patienten, die rückblickend ihren Handygebrauch angeben. Patienten überhöhen oft eine vermutete Ursache ihres Leidens. Man kann daher Fragenzeichen an den Rand schreiben, aber eindeutig hinwegfegen lassen sich die Daten nicht.

Die Richter in Rom hätten sich also auf eine breitere wissenschaftliche Basis stützen können. Ob ihr Urteil damit gerechtfertigt ist, kann man dennoch bezweifeln. Der Effekt von Handys wäre klein, selbst wenn er eine Verdopplung der seltenen Tumoren bedeuten sollte. Zudem sind auch Windpocken, Lärm und Röntgenstrahlung als Risikofaktoren für Acusticus-Neurinome bekannt.

Zweiter Akt: die Vorwürfe

Nachdem die römischen Richter sich ausschließlich auf Hardell stützen, beginnt eine handfeste Kampagne gegen den Schweden. Im Zentrum steht Alexander Lerchl, der auch Mitglied der deutschen Strahlenschutz-Kommission ist. Lerchl hat belastendes Material aus der Vergangenheit des Schweden in die Hand bekommen. Dieses bezieht sich auf Vorgänge Mitte der 1980er-Jahre. Hardell forschte damals an der Universität Umea über die Krebswirkung von Pestiziden und Dioxinen. Lerchl hat ein brisantes Papier aus dem Schwedischen ins Englische übersetzen lassen, ins Internet gestellt, und einen Link dazu in einem Kommentar zum Nature-Bericht über das italienische Gerichtsurteil veröffentlicht. Es ist ein privater Bericht des inzwischen verstorbenen ehemaligen Rektors der Universität Umea, Lars-Gunnar Larsson, vom 15. Mai 1986. Drei weitere Personen haben ihn gezeichnet.

Larsson zufolge hat Hardell 1984 eine Vereinbarung unterlaufen, wonach Patientendaten für eine Krebsstudie anonymisiert und "verblindet" werden sollten. "Er hat an die Patienten mit dem Krebs oder deren Familien andere Briefe geschrieben, ihnen zum Dank Bücher versprochen sowie die ausgefüllten Fragebögen selbst entgegengenommen", sagt Lars-Eric Holm, der 2002 Leiter des Schwedischen Instituts für Strahlenschutz war. Ihm hatte sich Larsson damals, nach 16 Jahren des Schweigens, anvertraut. Seither ist Larssons Report im Archiv der Organisation öffentlich verfügbar. Da Holm die Universität Örebro informiert hat, liegt das Dokument auch dort in den Akten.

Larssons Schilderung zufolge sind die Abweichungen von der vereinbarten Prozedur einst unter anderem aufgeflogen, weil sich jemand für das empfangene Buch bedankte. Der ehemalige Rektor schreibt, er habe Hardell zur Rede gestellt. Der Angegriffene habe sich mit Ausreden verteidigt; Larsson behauptet, so erschüttert gewesen zu sein, dass er eine offizielle Meldung unterließ. Sollten seine Notizen stimmen, so hätte sich Hardell wohl des wissenschaftlichen Fehlverhaltens schuldig gemacht.

Alexander Lerchl macht den Larsson-Bericht nicht nur öffentlich, er schickt ihn auch an die Redaktion des Journal of the National Cancer Institute (JNCI). Dort hatte Hardell 1990 über eine deutlich erhöhte Krebsgefahr durch Dioxin-verunreinigte Pestizide berichtet. Der Chefredakteur des JNCI, Carmen Allegra, erkundigt sich prompt bei Hardell nach dessen Reaktion, der ebenso schnell antwortet. Der Schwede erklärt, das Versenden der Fragebögen für die JNCI-Studie habe erst Ende Juni 1986 begonnen, also sechs Wochen, nachdem Larsson die Publikation verfasst habe. "Dieser unbegründete ,Brief' hat natürlich überhaupt nichts zu tun mit der Studie, die in JNCI veröffentlicht wurde", schreibt Hardell.

Damit ist er aber noch nicht ganz entlastet. Schließlich hat er in jenen Jahren eine weitere Studie zum gleichen Thema veröffentlicht, wie auch Larsson angemerkt hatte. Vor der Untersuchung für das JNCI hatte der Schwede 1988 in der Zeitschrift Cancer publiziert. Darin wertet er Daten von 55 Sarkom-Patienten aus; die zeitlichen Angaben passen zu den Vorgängen, die Larsson schildert. Auf Nachfrage erklärt Hardell, zwischen den 55 Patienten der Cancer-Studie und den 237 Fallbeispielen für die JNCI-Veröffentlichung gebe es keine Überschneidung. Damit ist aber nicht geklärt, ob die Cancer-Studie sauber war.

Dritter Akt: die Kampagne

Alexander Lerchl erklärt freimütig, warum er die Vorwürfe gegen Hardell verbreitet. Es geht um jene Sitzungen des WHO-Gremiums IARC in Lyon, bei denen über eine Klassifizierung von Handystrahlen als krebserregend entschieden wird. Lerchl möchte teilnehmen, wird aber als voreingenommen abgelehnt, obwohl er dem offiziellen deutschen Beratungsgremium für diese Fragen angehört. Man hält ihm Vorträge bei einer mobilfunkfreundlichen deutschen Organisation vor. Zudem habe er in zu vielen Veröffentlichungen Studien anderer kritisiert und zu wenig eigene Forschung zum Thema veröffentlicht.

Hardell aber reist zu der Sitzung, obwohl auch er kaum als unbefangen gelten kann. Die WHO erfährt sogar von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen aus den 1980er-Jahren. "Wir wurden nach der offiziellen Einladung informiert", sagt Kurt Straif, der bei der IARC die großen Berichte verantwortet. "Wir sind den Vorwürfen sofort und sorgfältig nachgegangen, haben aber erfahren, dass es kein offizielles Urteil gab, wonach Hardell wissenschaftlichen Betrug begangen hat."

Die Vorwürfe gegen Hardell erreichen jetzt zum zweiten Mal die Öffentlichkeit, wieder zu einem Zeitpunkt, als seine Arbeit viel Aufmerksamkeit erhält. Larsson hatte 2002 dem Svenska Dagbladet ein Interview gegeben. Der Artikel endete mit der Feststellung, wonach es keine Beweise gebe für eine Datenfälschung Hardells. Dennoch verbreitet eine amerikanische Organisation namens Science and Environmental Policy Project (SEPP), die schwedische Zeitung habe angedeutet, Hardell hätte die Fragebögen selbst ausgefüllt. Und irgendwie bleibt das kleben. Hinter dem klangvollen Namen der US-Gruppe verbergen sich rechte Lobbyisten, angeführt von dem amerikanischen Klimaskeptiker Fred Singer. Die SEPP-Mitteilung gelangt zehn Jahre später, kurz nach dem italienischen Urteil über Japan nach Lerchls Worten in seine Hände. Und der schickt die Anmerkung wie ein neues Beweisstück weiter.

Lerchls Online-Kommentar in Nature löst zudem Erwiderungen aus. Hardell meldet sich im Forum und erklärt, der Bericht des ehemaligen Rektors Larsson sei in keinem offiziellen Archiv zu finden - was nicht stimmt. Er rückt den Bremer in die Nähe "dunkler Mächte" und wirft ihm Verleumdung vor. Lerchl wiederum spricht von "klaren Belegen für wissenschaftlichen Betrug".

Nach bisherigem Stand gibt es gegen Hardell nur die Vorwürfe aus dem Larsson-Bericht, dessen Beweiskraft noch zu bewerten ist. Doch sie berühren ein zentrales Merkmal von Hardells Arbeit: In dessen Studien ist die Rücklaufquote von Patientenbefragungen auffallend hoch. Sie liegt oft über 90 Prozent, wo andere Forscher bestenfalls auf 70 Prozent kommen. Dies macht Konkurrenten argwöhnisch. In einem SZ-Interview hat Hardell vor einigen Jahren erklärt, er gebe sich eben mehr Mühe, die Patienten und Probanden bei der Stange zu halten. Darum zeigten seine Studien Effekte, die andere nicht finden.

Fazit: Versagen der Wissenschaft

Das alles wäre nur eine Kabbelei zwischen Forschern, ginge es nicht auch um enorm viel Geld. Mobilfunk ist eine milliardenschwere Industrie, die ungerührt die Botschaft verbreitet, ihre Technik stelle keine Gefahr dar. Kommt es irgendwo zum Prozess, besonders in den USA, engagieren beide Seiten Forscher als bezahlte Zeugen. Von einem von diesen, Meir Stampfer, dem ehemaligen Leiter des Epidemiologie-Departments der Harvard University, heißt es, er habe 2002 Anwälten eine Rechnung über 80.000 Dollar ausgestellt. Damals lief ein Prozess in den USA, in dem ein Arzt wegen seines Gehirntumors den Handyhersteller Motorola verklagt. Hardell stand auf anderen Seite: Er war von der Anklage angeheuert und bekam Dokumenten zufolge 560 Dollar die Stunde.

Einige Jahre später fing Stampfer dann an, Hardell eines Meineids in dem Gerichtsverfahren zu beschuldigen. Es ging um Aussagen zu eingereichten Forschungsaufsätzen, aber Stampfer tat so, als habe Hardell über seine eigenen Daten gelogen. Er stimmte damit in eine Flüsterkampagne ein, die der Schwede Hans-Olov Adami schon 2002 begonnen hatte. Das Pikante daran: Adami war Hardells Ko-Autor bei der fraglichen Publikation in JNCI; und er ist Stampfers Nachfolger in Harvard und mit dem Kollegen vielfältig verbunden.

Offenbar sind die verfeindeten Forscher nach mehr als zehn Jahren der Auseinandersetzung kaum mehr in der Lage, ihre eigene Ansicht zu hinterfragen. Aus Sicht der Mobilfunknutzer ist das allerdings eine entsetzliche Situation. Eigentlich müssten alle Seiten zusammenarbeiten, um methodisch sauber die Frage zu klären: Kann der langjährige, intensive Gebrauch von Handys die Gesundheit schädigen?

Das Risiko ist vermutlich klein, sonst hätte es sich bereits in den Krebsstatistiken offenbart. Aber womöglich ist es nicht gleich null. Es ist Zeit für die Wissenschaftler, jene Arbeit zu leisten, für die sie mit Steuergeld gefördert werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: