Krebs in Deutschland:Die Zahlen täuschen

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Doppelt so viele Menschen wie vor 35 Jahren erkranken heute an Krebs. Das heißt aber nicht, dass die Krankheit bedrohlicher geworden ist. Im Gegenteil.

Von Werner Bartens

Auf den ersten Blick klingt die Nachricht erschreckend: In Deutschland erkranken fast doppelt so viele Menschen an Krebs wie noch vor 35 Jahren. Die Zahlen scheinen unbestechlich zu sein: Rund 482 500 Menschen sind im Jahr 2013 an Krebs erkrankt. Im Jahr 1980 lag die Zahl noch unter 280 000. Auch die Todesfälle, die auf Krebs zurückgehen, haben zugenommen, wenn auch nicht so drastisch. Starben 1980 noch etwa 193 000 Menschen an einem bösartigen Tumor, waren es im Jahr 2014 ungefähr 224 000 Krebstote.

Die Vermutung, dass Krebs eine zunehmend bedrohliche Krankheit sei, trifft trotz dieser so aussagekräftig wirkenden Zahlen jedoch nicht zu. Das hat vor allem zwei Gründe: Die Lebenserwartung ist seit 1980 kontinuierlich gestiegen - und der wichtigste Risikofaktor dafür, dass Zellen entarten, der Körper sie nicht mehr selbst reparieren kann und sie zum Krebs auswachsen, ist nun mal zunehmendes Alter. Bevölkerungsforschern zufolge steigt die Lebenserwartung in West- und Mitteleuropa in jedem Jahr um ungefähr drei Monate. Ein erfreulicher Trend, der aber eben auch bedeutet, dass in einer durchschnittlich älteren Bevölkerung Tumorleiden insgesamt häufiger auftreten.

Mehr Tumore werden immer früher entdeckt - auch wenn das dem Patienten nicht immer hilft

Es gibt jedoch einen weiteren Grund, warum in der Statistik immer mehr Krebskranke auftauchen: Mehr Tumore werden immer früher entdeckt. Das kann erfreulich sein, wenn die frühere Diagnose zu einer optimalen Behandlung führt und die Aussicht auf Heilung steigt. Das ist aber nicht immer der Fall. Unter den früh entdeckten Tumoren sind auch Krebsformen, die vielen Patienten zeitlebens nie Beschwerden bereiten würden, weil sie so langsam wachsen und so harmlos sind. Werden diese indes aufgespürt, steigt in der Statistik die Zahl der diagnostizierten Krebserkrankungen.

Das niedrig maligne Prostata-Karzinom oder das zu den Brustkrebsformen gerechnete Ductale Carcinoma in Situ (DCIS) beispielsweise sind in vielen Fällen (wenn auch nicht in allen) Tumore, die so gemächlich entarten, dass sie zwar in der Statistik als Krebs auftauchen, von Patienten aber meist nicht als lebensbedrohlich erlebt werden. Ohne entsprechende Untersuchungen, Tests und die nachfolgende Diagnose hätten viele Menschen nichts von dem Tumor bemerkt, der in ihnen schlummert. Deswegen gibt es immer wieder Debatten darüber, ob bevölkerungsweite Früherkennungstests auf Brust- und Prostatakrebs sinnvoll sind.

Insofern kann man den aktuellen Zahlen, die das Robert-Koch-Institut (RKI) am Dienstag in seinem "Bericht zum Krebsgeschehen in Deutschland" vorgestellt hat, durchaus etwas Positives abgewinnen. Das Durchschnittsalter, in dem Menschen in Deutschland an einem Tumor sterben, hat sich seit 1980 von 70 auf 74 Jahre erhöht. "Die Erfolge bei der Krebsbekämpfung haben inzwischen auch zum Anstieg der Lebenserwartung beigetragen", sagt Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, zu dieser erfreulichen Entwicklung.

Was außerdem zu der längeren Lebenserwartung mit Krebs beiträgt, ist der von Wissenschaftlern so genannte Lead-Time-Bias - eine Verzerrung der Statistik durch zunehmend frühere Diagnosen. Wird ein weitgehend harmloser und langsam wachsender Tumor früh entdeckt, schlägt sich das in der Statistik als eine verlängerte Überlebenszeit mit dem Krebs nieder. Wenn der Patient dann mit 82 beispielsweise an Herzversagen stirbt, gilt er als jemand, der den Krebs lange überlebt hat - auch wenn er vielleicht nie davon beeinträchtigt wurde.

Verbesserungen in der Behandlung, Fortschritte in manchen Bereichen der Früherkennung und ein gestiegenes Gesundheitsbewusstsein tragen weiterhin dazu bei, dass Menschen mit Krebs oftmals länger leben und das Leben mit der Erkrankung besser bewältigen. Trotzdem gibt es noch Verbesserungspotenzial. 30 Prozent der Krebsformen lassen sich vermeiden; als wichtigster Risikofaktor gilt das Rauchen. In Deutschland ist der Anteil der Raucher seit den 1970er-Jahren stark rückläufig, besonders deutlich ist der Rückgang etwa ab dem Jahr 2000.

Auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen setzt sich dieser positive Trend fort. "Da allein 15 Prozent aller Krebserkrankungen auf das Rauchen zurückzuführen sind, ist das eine erfreuliche Entwicklung", sagt Wieler. Tatsächlich kommt Lungenkrebs in Deutschland seltener vor. Die Erkrankungsraten für einen Krebs der Bauchspeicheldrüse und der Leber steigen hingegen.

© SZ vom 30.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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