Konfliktforschung:Massaker im Paradies

Konfliktforschung: Der Schädel des Mannes, der vor 10 000 Jahren am Turkana-See lebte, wurde gewaltsam zertrümmert.

Der Schädel des Mannes, der vor 10 000 Jahren am Turkana-See lebte, wurde gewaltsam zertrümmert.

(Foto: Marta Mirazon Lahr)

In Kenia haben Archäologen die Spuren eines Gemetzels vor 10 000 Jahren entdeckt. Brach am Turkana-See der erste Krieg in der Geschichte der Menschheit aus?

Von Sebastian Herrmann

Nicht einmal Kinder und schwangere Frauen wurden verschont. Mit Keulen, Pfeilen und Klingen malträtierten die Angreifer ihre Opfer, schlugen Schädel ein, brachen Knochen und fügten tiefe Fleischwunden zu. Die Toten blieben mit dem Gesicht im Schlamm liegen, manche von ihnen in seltsam verdrehter Position, Hände und Füße gefesselt, die Kniescheiben zerschmettert.

27 Männer, Frauen und Kinder starben am Westufer des Turkana-Sees im heutigen Kenia. Die Spuren des Massakers gelten als älteste Indizien für eine Gewalttat, die eindeutig auf einen Kampf zwischen zwei Gruppen einander fremder Menschen hinweisen. Der blutige Überfall muss vor 9500 bis 10 500 Jahren stattgefunden haben. Wissenschaftler um Marta Mirazón Lahr von der britischen Universität Cambridge werten die prähistorische Bluttat als Beleg für die äußerst gewalttätige Vergangenheit des Homo sapiens - und dafür, dass schon frühe Jäger-und-Sammler-Kulturen Kämpfe ausfochten, welche die Bezeichnung "Krieg" verdienen.

Vor etwa 10 000 Jahren bot die Gegend um den Fundort Nataruk beste Lebensbedingungen. Der Turkana-See dehnte sich damals bis dort aus, heute liegt das Ufer etwa 30 Kilometer entfernt. Die Menschen fanden hier sauberes Trinkwasser und reiche Fischbestände. Wälder bereicherten die Gegend. Dieses Land ernährte große Gruppen von Jägern und Sammlern, schreiben die Wissenschaftler um Lahr und Robert Foley im Fachmagazin Nature. Ein Paradies, das auch Feinde anlockte.

Die Menschen lebten in Wohlstand, doch ihre Feinde hatten bessere Waffen

In der Region um Nataruk finden sich an manchen Grabungsorten Keramiken. Ein entscheidendes Detail: Die Menschen am Turkana-See fanden wohl so viel Nahrung, dass sie Vorräte anlegen konnten. Und damit - ein wichtiger Schritt in der Argumentation der Forscher - seien die "sozioökonomischen Voraussetzungen vorhanden gewesen, die auch andere Fälle früher kriegerischer Konflikte charakterisieren", so Lahr.

Anders gesagt: Hier drängte sich ein lohnendes Ziel für einen Raubzug auf. Die Menschen am Turkana-See lebten halbwegs sesshaft, niemand schleppte schwere Vorratstöpfe über weite Strecken herum; es existierte eine Form kollektiven Besitzes; und die Gemeinschaften verfügten über materiellen Wohlstand. Das weckte die Gier aggressiver Rivalen, die selbst Zugang zu diesen Ressourcen erlangen wollten. Zwar gelten Ackerbau, Viehzucht, Eigentum und Sesshaftigkeit als notwendige Faktoren, um Kriegszüge beutegieriger Aggressoren auszulösen. Aber waren in Nataruk nicht ähnliche Voraussetzungen gegeben, noch bevor die Menschheit sesshaft wurde und Felder bestellte? So spekulieren Lahr und Foley.

Die Skelette der Opfer dieses Proto-Krieges hatten Wissenschaftler im Jahr 2012 entdeckt. Die Leichen verwesten einst nach dem Massaker in einer Lagune, die Knochen haben sich im Schlamm gut erhalten. Sechs Kinder waren unter den Toten, von den 21 Erwachsenen waren mindestens acht Frauen. An zehn Skeletten finden sich Spuren extremer Gewalteinwirkung: Die Schädeldecken sind eingeschlagen, die Kiefer geborsten, Hände, Rippen und Knie gebrochen. Einige Opfer hatten die Angreifer gefesselt, auch die Frau, die mindestens im sechsten Monat schwanger war. Die Ausgräber fanden die Gebeine ihres ungeborenen Kindes.

In manchen Knochen steckten Pfeilspitzen und Klingen aus Obsidian. Dieses vulkanische Gesteinsglas war zur fraglichen Zeit vor etwa 10 000 Jahren in der Gegend am westlichen Turkana-See eine kostbare Seltenheit. Das lege den Gedanken nahe, "dass die beiden Konfliktparteien aus unterschiedlichen Herkunftsregionen stammten", sagt Lahr.

Die Steinzeit war kein friedfertiges Hippie-Utopia

Waren die Angreifer auf einem Feldzug, für den sie lange Märsche in Kauf nehmen mussten? Brachten sie überlegene Waffentechnik mit? Wer weiß das schon. Doch passen die Indizien zur These eines kriegerischen Akts zweier verfeindeter Jäger-und-Sammlergesellschaften. Ob das Blutbad von Nataruk nun den Namen "Krieg" verdient, mag in der Fachwelt kontrovers diskutiert werden. Ohne Zweifel ist jedoch, dass die Toten vom Turkana-See ein Beleg dafür sind, wie grausam es in der Menschheitsgeschichte einst zuging.

Unter dem Eindruck der blutigen Katastrophen des 20. Jahrhunderts herrschte lange die Deutung vor, die Menschheit habe erst in der Moderne ihren erschreckenden Blutdurst entwickelt. Das Leben in der Steinzeit interpretieren viele Anthropologen der 1960er- bis 1980er-Jahre als Epoche der Friedfertigkeit, als Hippie-Utopia, durch das edle Wilde schritten, die einander mit dem Herzen verbunden waren. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau hätte seine helle Freude an dieser Version des Neolithikums gehabt, unkte einmal Jörg Petrasch von der Universität Tübingen in einem Vortrag.

Dann aber tauchten Funde auf, die den rosigen Blick auf die frühe Menschheitsgeschichte trübten. Zum Beispiel in Talheim am Neckar. Dort vertiefte 1983 ein Gemüsebauer ein Beet auf seinem Hof und stieß auf einen großen Haufen menschlicher Gebeine. Die Überreste von 34 Frauen, Männern und Kindern lagen auf seinem Grund. Vier Familien waren dort vor etwa 7000 Jahren von unbekannten Angreifern niedergemetzelt worden. Die Traumata an den Schädeln lassen vermuten, dass die Mörder mit Schuhleistenkeilen auf die Opfer einschlugen, quergeschäftete Beile aus Stein.

Der Massenmord von Talheim taucht seitdem in fast jeder Beweisführung auf, deren Urheber der Menschheit besonderen Hang zur Grausamkeit gegenüber seinesgleichen attestieren will. Weitere Massengräber aus prähistorischen Zeiten fügten sich in das von Talheim heraufbeschworene Schreckensszenario.

Im österreichischen Schletz fanden Archäologen die demolierten Schädel von etwa 200 Menschen, erschlagen, ermordet, verscharrt vor rund 7000 Jahren. In Herxheim in der Pfalz lagen die Überreste von mindestens 500 getöteten Individuen im Boden - die Schädel entlang der Hutlinie geöffnet. In Eulau, Sachsen-Anhalt, ruhten zwei Männer, drei Frauen, acht Kinder vergraben im Boden. Ermordet vor etwa 5000 Jahren. Oder in Jebel Sahaba, Sudan, hier zeigen die Überreste von 23 Menschen in einem Gräberfeld Spuren tödlicher Gewalt. Was mit diesen Individuen vor etwa 12 000 Jahren passiert ist? Man weiß es nicht, nur dass ein schweres Schicksal und stumpfe Gegenstände diese Menschen trafen.

Fundstätten wie Talheim und andere Massengräber übertünchten die Vorstellung vom friedlichen Wilden mit tiefrotem Blut. Der Blick in die Vergangenheit fiel nun über die Maßen pessimistisch aus. Der Mensch, ein triebhaft mordendes Monster - das nächste, wahrscheinlich ebenso übertriebene Zerrbild.

Doch auch ethnografische Berichte schienen diese Deutung der Vergangenheit zu stützen. So wertete zum Beispiel die Kriminologin Amy Nivette im Jahr 2011 Studien zur Prävalenz von Gewalt unter nicht-staatlich organisierten Gesellschaften aus. Selbst die friedfertigsten der beschriebenen indigenen Völker, schrieb sie im British Journal of Criminology, fielen mit enorm hohen Gewaltraten auf.

Die Waorani mussten von außen befriedet werden, das Volk hätte sich sonst ausgelöscht

Der Ethnologe Jürg Helbling von der Universität Luzern, Autor des Buches "Tribale Kriege. Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt", zeichnet ein ähnliches Bild. In manchen indigenen Gesellschaften ohne zentrales Gewaltmonopol sterben etwa ein Drittel der Männer durch Bluttaten. Besonders kriegerisch waren die Waorani im Regenwald des östlichen Ecuadors. Die Angehörigen dieses Volkes lieferten sich ein hundertjähriges Gemetzel von 1860 bis 1960. Unter den Männern lag die Rate derjenigen, die eines gewaltsamen Todes starben, in dieser Phase bei mehr als 50 Prozent. Die Waorani habe man von außen quasi gewaltsam befrieden müssen, berichtete Helbling, die Ethnie hätte sich sonst selbst ausgelöscht.

Was also nun? Wie viel Blut vergossen die Menschen dereinst? Das Gewaltpotenzial längst vergessener Gesellschaften lässt sich kaum quantifizieren. Funde wie nun in Kenia oder in Talheim stellen lediglich punktuelle Befunde dar, aus denen sich keine umfassenden Schätzungen über das Ausmaß von Mord und Totschlag vor Jahrtausenden erstellen lassen. Dazu fehlen Daten und Befunde. Auch einzelne ethnologische Beobachtungen dürfen kaum verallgemeinert werden. Plausibel klingen jedoch die Thesen des Evolutionspsychologen Steven Pinker, wonach die Welt heute generell friedlicher geworden ist, als sie es in Frühzeit der Menschheit war. Der Trend sei deutlich, das Ausmaß ungewiss.

Ob die 27 Toten vom Ufer des Turkana-Sees nun als die ersten bekannten Kriegstoten zu gelten haben? Das ist eine Definitionsfrage. Für manche Forscher führen Kombattanten bereits Krieg, wenn eine Gruppe gemeinsam mehr als ein Opfer angreift. Nach einer so losen Definition fand in Nataruk vor etwa 10 000 Jahren mindestens ein Kleinkrieg statt. Andere Wissenschaftler fassen den Begriff enger und verweisen dazu - unter anderem - auf die Motive der Kämpfer.

Hinter den steinzeitlichen Konflikten steckten wohl meist persönliche Motive

Douglas Fry und Patrik Söderberg von der finnischen Universität Vasa argumentierten 2013 im Fachmagazin Science, dass die meisten Konflikte mit tödlichem Ausgang unter nomadischen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften aus persönlichen Motiven verübt würden. Zwei Männer streiten sich um eine Frau, der Konflikt endet blutig. Die Gewalttat provoziert Racheakte, die Familie des Opfers schlägt zurück, am Ende schaukelt sich die Keilerei zu einem Konflikt mit mehreren Beteiligten hoch. Doch von einem Krieg zu sprechen, sei hier nicht angemessen. Krieg finde demnach erst statt, sobald politische Hierarchien existieren und Krieger ohne persönliche Ziele töten.

Ob Krieg oder Keilerei, sicher ist nur, dass Gewalt nie eine Ausnahme in der Geschichte der Menschheit war, weder in Talheim noch in Nataruk. Dauerhafter Frieden, das ist die Besonderheit.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: