Kommunikationspannen:Die dunkle Seite der Höflichkeit

Manche Menschen riskieren ihr Leben, weil sie nicht unhöflich sein wollen. Die vermeintliche Tugend kann irritieren, zu Missverständnissen führen und manchmal sogar tödlich sein.

Katrin Blawat

Der Kapitän hat die Eisschicht offenbar nicht bemerkt, die Teile der Boeing 737 bedeckt. Vielleicht will er sie auch ignorieren und endlich abheben, immerhin hat der Flug fast zwei Stunden Verspätung. Während sie auf die Starterlaubnis warten, beginnt der Erste Offizier zaghaft, auf die Gefahr hinzuweisen. "Sieh mal, wie da hinten überall das Eis hängt", sagte er. Pause. Dann der nächste Anlauf: "Siehst du all die Eiszapfen da hinten?" Und schließlich sein letzter Versuch: "Junge, das ist eine verlorene Schlacht hier."

Dem Ersten Offizier war offenbar bewusst, dass ein derart vereistes Flugzeug zur Lebensgefahr werden kann. Warum aber wurde er nicht deutlicher? Wollte er vermeiden, den in der Hierarchie höher gestellten Kapitän durch harsche Kritik zu verärgern? Blieb er deshalb trotz der brenzligen Situation zurückhaltend und höflich? Endgültig klären lässt sich das nicht mehr. Kurz nachdem das vereiste Flugzeug vom Washington National Airport in Virginia gestartet war, stürzte es in den Potomac. 78 Menschen, unter ihnen der Erste Offizier und der Kapitän, starben an diesem 13. Januar 1982.

Die Ereignisse im Cockpit der Air Florida-Maschine zeigen die dunklen, verhängnisvollen Seiten eines Verhaltens, das eigentlich als wünschenswert gilt: höflich bleiben, den anderen nicht vor den Kopf stoßen, ihm trotz Kritik die Chance lassen, sein Gesicht zu wahren. Höflichkeit dient im Alltag als Schmiermittel der Kommunikation, ohne sie wären Gesprächspartner auch wegen belangloser Äußerungen schnell beleidigt und zerstritten.

Sinnvoll ist daher, was der Psychologe Jean-François Bonnefon von der Universität Toulouse sagt: "Wir neigen umso eher dazu, uns taktvoll auszudrücken, je unangenehmer eine Situation ist. Welchen Vorteil hätte es schließlich, einem entfernten Bekannten deutlich zu sagen, wie hässlich man seinen neuen Haarschnitt findet? Weil nichts auf dem Spiel steht und um Konflikte zu vermeiden, entscheiden sich die meisten Menschen für einen höflichen Kommentar wie "es passt zu dir" oder "es sieht originell aus". "Im Alltag ist es oft sinnvoll, die eigene Meinung herunterzuspielen oder zu verklausulieren", sagt Bonnefon.

Doch so nützlich höfliches Verhalten oft ist, so verheerend kann es in heiklen Situationen werden. Dann nämlich führe Höflichkeit häufig zu "katastrophalen Missverständnissen", warnen Bonnefon und seine Kollegen (Current Directions in Psychological Science, Bd. 20, S. 321, 2011). Denn allzu höfliche Hinweise sind meist mehrdeutig, damit jeder das hineininterpretieren kann, was er hören will - so aber entstehen Missverständnisse.

Sagt der Arzt das nur aus Höflichkeit?

Das gilt nicht nur für das Flugzeugcockpit, sondern manchmal auch im Alltag, wie eine Studie zeigte. Mehrere hundert Probanden sollten sich folgende Situation vorstellen: Die Versuchsperson leidet unter Schmerzen, und der Arzt sagt ihr, dass die Beschwerden vermutlich zunehmen werden. Die Hälfte der Probanden schlossen aus der Einschränkung "vermutlich", dass sich der Arzt mit seiner Prognose nicht ganz sicher war. Die andere Hälfte der Probanden hingegen interpretierte die Aussage des Arztes im "höflichen Sinn": Für sie stand fest, dass die Schmerzen zunehmen würden - und der Arzt nur zu rücksichtsvoll war, um dies unumwunden mitzuteilen.

Immerhin bleibt bei einem Arztbesuch meist genug Zeit, um nachzufragen, was wirklich gemeint war. In einem Flugzeug-Cockpit sind solche Missverständnisse schwerwiegender, wie auch eine Studie des amerikanischen National Transportation Safety Board zeigt. Demnach spielte es in drei Viertel aller Unfälle von US-Zivilflugzeugen in den Jahren 1978 bis 1990 eine Rolle, dass ein Crewmitglied seine Kollegen allzu zurückhaltend, taktvoll und indirekt auf Fehler und Probleme hingewiesen hatte. Dies erschwerte es dem Rest der Mannschaft, die Gefahr richtig einzuordnen und schnell genug zu reagieren.

Überfordert von der Höflichkeit der Asiaten

Besonders kompliziert wird es, wenn Menschen mit verschiedenen Vorstellungen von Höflichkeit aufeinandertreffen und das taktvolle Verhalten des anderen nicht als solches erkennen. So halten polnische und russische Studenten direkte Aufforderungen wie "Gib mir deine Notizen, bitte" für höflich, wie eine Studie der Kommunikationswissenschaftlerin Eva Ogiermann von der University of Surrey gezeigt hat. Englische und deutsche Studenten hingegen empfinden diese Formulierung als frech. Sie bitten indirekter und dadurch sehr viel umständlicher um einen Gefallen, etwa mit "Es wäre gut, wenn ich von jemandem die Notizen bekommen könnte". Was die einen für angemessenen Takt halten, verstehen die anderen vielleicht nicht einmal als Bitte.

Oft noch größer sind die Missverständnisse zwischen höflichen Asiaten und Amerikanern oder Europäern. Sich mehrmals zum Beispiel für eine Auskunft zu bedanken, halten Amerikaner einer Studie zufolge für den Gipfel der Höflichkeit. Koreaner hingegen können mit diesem Verhalten wenig anfangen. Sie empfinden es stattdessen als höflich, sich ebenso oft für die Belästigung, die eine Frage darstellt, zu entschuldigen. Das Verhalten von Menschen aus der anderen Kultur als höflich zu interpretieren, falle Amerikanern und Koreanern gleichermaßen schwer, schreiben Hye Eun Lee von der University of Hawaii und Hee Sun Park von der Michigan State University.

Doch auch innerhalb einer Kultur lautet eine schwierige Frage, welches Maß an Takt und höflicher Zurückhaltung angemessen ist. Darüber entscheidet unter anderem die Hierarchie, wie abermals Untersuchungen mit Piloten gezeigt haben. So machen Erste Offiziere den Kapitän meist mit indirekten Hinweisen auf einen Fehler aufmerksam, haben Ute Fischer vom Georgia Institute of Technology in Atlanta und Judith Orasanu vom Nasa-Ames Research Center in Kalifornien ermittelt. Das gibt dem höhergestellten Kapitän die Chance, den Fehler zu korrigieren und trotzdem das Kommando zu behalten - birgt aber zugleich das Risiko, missverständlich zu sein.

Ein Kapitän hingegen gibt dem Ersten Offizier bei Problemen meist kurze, eindeutige Befehle. Doch ist dieses Verhalten nicht unbedingt effizienter. "Der Offizier weiß dann zwar, was er tun soll - aber nicht, warum", sagt die Soziologin Kirsten Nazarkiewicz, ehemalige Stewardess und Geschäftsführerin einer Frankfurter Beraterfirma, die eine Studie über Kommunikation im Cockpit erstellt hat. Denn fragt der Erste Offizier nach, um die Situation und den Befehl zu verstehen, kostet das erst recht Zeit. Als Fischer und Orasanu sowohl von Ersten Offizieren als auch von Kapitänen wissen wollten, welche Strategie sie bevorzugen, sprachen sich dann beide Gruppen nur für ein mittleres Maß an Direktheit aus - auch in riskanten Situationen.

Ritualisierte Gesprächsbausteine

Derartige Erkenntnisse - und Unfälle wie mit der Air Florida-Maschine im Jahr 1982 - haben vor fast 30 Jahren dazu geführt, dass in Europa und den USA das sogenannte Crew-Ressource-Management (CRM) Pflicht wurde. Dabei lernt ein Pilot unter anderem, bei Problemen nach einem festgelegten Muster zu kommunizieren: Was hat der Kollege vor? Welches Gefühl hat er selbst bei diesem Plan? Das soll sicherstellen, dass jeder in der Crew weiß, wie die anderen die Situation einschätzen.

Eine weitere Vorsichtsmaßnahme, um Missverständnisse im Cockpit zu vermeiden, sind ritualisierte Gesprächsbausteine. Deren Bedeutungen sind eindeutig und sie haben den Vorteil, dass niemand überlegen muss, wie viel Höflichkeit in der speziellen Situation angebracht ist. Möchte zum Beispiel ein Pilot Pause machen und die Kontrolle an seinen Kollegen übergeben, muss er das nach klaren Vorgaben mitteilen, etwa mit "You have control", und der muss bestätigen: "I have control." Entscheiden, welche Formulierung sowohl höflich als auch eindeutig genug ist, brauchen die Piloten dann nicht mehr - das spart Gehirnressourcen und Zeit.

Das kann auch in anderen Berufen sinnvoll sein, etwa unter Chirurgen und OP-Assistenten. Schon die Anrede des Kollegen kann in Operationssälen zur Höflichkeitsfalle werden: "Du" oder "Sie"? Wer die falsche Form wählt, gilt schnell als unhöflich. Doch wer ständig über die richtige Formulierung nachdenken muss, kann sich schlechter auf den Patienten konzentrieren. Um dies zu umgehen, ist es in Operationssälen üblich, den Infinitiv zu verwenden: "Spülen", zum Beispiel. "Der Infinitiv bietet im Deutschen die einzige Möglichkeit, bei Aufforderungen eine direkte Anrede zu umgehen", sagt die Germanistin Susanne Uhmann von der Universität Wuppertal, die die Kommunikation von Chirurgen untersucht. "Junge Ärzte lernen unbewusst, diese Formulierungen zu verwenden, wenn sie erfahrenen Kollegen assistieren."

Zu CRM-Trainings, die allen Berufsgruppen offenstehen, seien Ärzte hingegen schwieriger zu bewegen als Piloten, sagt Kirsten Nazarkiewicz. "Piloten sind lernbereiter." Das liege nicht nur an der strengen Hierarchie, die im Krankenhaus noch ausgeprägter sei als in der zivilen Luftfahrt. "Im Flugzeug setzt der Pilot sein eigenes Leben immer mit aufs Spiel", so die Soziologin. "Aber der Chirurg fällt nicht selbst tot um, wenn etwas schiefgeht."

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