Kognitionsforschung:Brauchen wir den Osterhasen?

Symbolfiguren bringen mehr als Geschenke und bunte Eier - sagt die Psychologin Gudrun Lehmann-Scherf. Sie prägen unseren Geist vom Kindesalter an: Ohne sie würde das Denken verkümmern.

Philip Wolff

Seit drei Jahrzehnten lebt und arbeitet die Kinderpsychologin Gudrun Lehmann-Scherf mit dem großen Märchenforscher Walter Scherf zusammen und macht sich die gemeinsamen Erkenntnisse zunutze - unter anderem in der Traumatherapie. Warum und wozu aber braucht auch der gesunde Mensch, vor allem in sehr jungen Jahren, überhaupt Mythen, Märchen und Fantasiefiguren? Was viele Eltern und Pädagogen vor ein Rätsel des Alltags stellt, ist für die Psychologin eine schlüssig erklärbare Notwendigkeit.

Kognitionsforschung: Der Osterhase - beispielhaft für Mythen und Fantasiefiguren, die der Mensch braucht.

Der Osterhase - beispielhaft für Mythen und Fantasiefiguren, die der Mensch braucht.

(Foto: Foto: iStockphoto)

SZ-Wissen: Man erzählt Kindern häufig kleine Geschichten, statt ihnen rationale Erklärungen zu geben - warum eigentlich?

Gudrun Lehmann-Scherf: Weil das der kindlichen Weltvorstellung und Wahrnehmung entspricht. Kinder denken hauptsächlich in Bildern, sie verarbeiten äußere Eindrücke in den ersten Lebensjahren vor allem phantasmatisch: mithilfe ihrer Vorstellungskraft.

Auch wenn ein Kind etwas mitteilen will, was es fühlt oder erlebt hat, spielt Fantasie eine wesentliche Rolle. Das Kind erzählt dann oft selbst Geschichten, es malt oder stellt etwas im Spiel dar. Das eigentliche Ereignis ist dabei jedoch symbolisch verändert und nur indirekt wiedergegeben. Erst in dieser Verfremdung können Kinder Erlebnisse verarbeiten und begreifen.

SZ-Wissen: Wie kann man sich das als Erwachsener vorstellen - etwa so, wie man auch selbst manchmal nachts in verrücktesten Bildern träumt, wenn sich im Gehirn die Eindrücke des Tages ordnen und dort abgespeichert werden?

Lehmann-Scherf: Das kann man damit vergleichen. Jeder muss ja in seinem Gehirn aus eingehenden Informationen Sinn für sich selbst immer erst herstellen und ein Verständnis seiner Umwelt produzieren. Das tun auch Erwachsene ständig, nicht nur im Schlaf. Auch sie erzählen sich über das schlechthin Unbekannte gern Mythen, zum Beispiel darüber, wie die Welt entstanden ist. Aber bei einem Kind ist es mehr als nur das. Für ein Kind sind die meisten Eindrücke noch neu und fremdartig. Umso wichtiger ist es, dass es sich mithilfe seiner Vorstellungskraft ein eigenes Weltbild machen kann.

SZ-Wissen: Heißt das, Geschichten sind mehr als schmückendes Beiwerk zum Alltag? Die Hirnforschung sagt, die Bildung von Neuronengruppen, die sprachlich-bildhafte Sinnzusammenhänge repräsentieren, erleichtert oder ermöglicht erst das Erfassen der Umwelt.

Lehmann-Scherf: Natürlich, wir spielen das Denken in solchen Sinnzusammenhängen nur gern herunter. Dabei ist auch für erwachsene Menschen rationales Denken allein nicht maßgeblich. Es existiert parallel und im Austausch mit einer bildhaften Verarbeitung unserer Umwelt. Das zeigt zum Beispiel der Ehering, den Sie da am Finger tragen: Wenn Sie den verlieren würden, bedauerten Sie dann - rein rational - nur den Verlust einer bestimmten Menge Edelmetalls? Nein, denn der Ring hat für sie eine symbolische Bedeutung, um derentwillen Ihnen der Verlust sehr leid täte, und zwar ganz real und schmerzlich. Wie sehr jeder Mensch diese Art zu denken braucht, wird uns aber oft erst bei Kindern klar.

SZ-Wissen: In welchen Situationen zum Beispiel?

Lehmann-Scherf: Zum Beispiel, wenn ein Kind auf einen großen Hund trifft und Angst vor ihm hat. Dann wird es wahrscheinlich, wenn es nach Hause kommt, eine Geschichte fabulieren, die mit dem Hund zu tun hat. Sie endet möglicherweise damit, dass da ein Monster gekommen sei, und dann habe das Kind einen Stock geholt, und dann war das Monster plötzlich lieb und ließ sich streicheln. Das Kind wird die Geschichte einer Angstbewältigung erzählen, in der es sich möglicherweise selbst kompensatorisch überhöht und als Helden darstellt. Durch diese phantasmatische Bearbeitung stellt das Kind eine innere Ordnung her, eine Stimmigkeit seines Selbsterlebens, die ihm bestätigt: Ich komme in der Welt zurecht, ich kann sie bewältigen.

SZ-Wissen: Und irgendwann kommt die Einsicht dazu: Ich habe mir die Welt schöngeredet, sie ist noch viel komplizierter und nur mit rationaler Anstrengung zu verstehen?

Lehmann-Scherf: Nein, so läuft die Entwicklung nicht ab, das ist Erwachsenendenken. Das rationale Denken entsteht nicht aus schmerzlichen Einsichten. Es tritt im Rahmen der kognitiven Entwicklung neben die Fantasie. Ein Jugendlicher denkt vielleicht: Oh, da habe ich mir selbst etwas vorgemacht! Aber ein Kind denkt nicht so, für das Kind hat die phantasmatische Verarbeitung eine andere Funktion: der Ordnung von Eindrücken und Erfahrungen, der Stabilisierung, der Gestaltung von Wünschen, Ängsten und so weiter.

Brauchen wir den Osterhasen?

SZ-Wissen: Es geht also bei Weitem nicht nur um Angstbewältigung. Der Osterhase etwa: Muss der nicht etwas ganz anderes leisten?

Kognitionsforschung: Gudrun Lehmann-Scherf, geboren 1951 in Kassel, ist Diplompsychologin, Psychoanalytikerin und lehrte viele Jahre Kunsttherapie an der Universität Innsbruck. Sie lebt in München und unterrichtet heute unter anderem an der Ärztlichen Akademie für Psychotherapie von Kindern.

Gudrun Lehmann-Scherf, geboren 1951 in Kassel, ist Diplompsychologin, Psychoanalytikerin und lehrte viele Jahre Kunsttherapie an der Universität Innsbruck. Sie lebt in München und unterrichtet heute unter anderem an der Ärztlichen Akademie für Psychotherapie von Kindern.

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Lehmann-Scherf: Das macht er auch. Ein Kind lebt ja zunächst in einer festgefügten, kleinen Welt mit den Familienmitgliedern als Bezugsgrößen. Das wäre aber eine sehr kleine Welt, wenn hinter Mutter und Vater nicht mehr stecken würde - und auf dieses Unbekannte "da draußen" gehen die Sehnsüchte eines Kindes. Der Osterhase ist nun eine Figur, die aus der großen Welt draußen in die kleine des Kindes hineinkommt, und er bringt mit den Eiern dem Kind etwas sehr Wichtiges: die Botschaft, dass es Kontakt zur großen Welt außerhalb der Familie haben und sie begreifen kann, ohne den Raum des Deutbaren und Verstehbaren verlassen zu müssen.

SZ-Wissen: Nun ist der Osterhase, bei umstrittener Herkunft, mit dem Osterfest verbunden und wurde vielleicht zuerst von Erwachsenen für Erwachsene geschaffen. Entspricht seine Funktion im Kinderdenken dem, was man bei Erwachsenen Religiosität nennt?

Lehmann-Scherf: Ich glaube, das sollte man nicht vergleichen. Ein erwachsener Glaube hat mit Osterhasen nichts zu tun. Er setzt alles Existierende in eine stimmige, höhere Ordnung. Aber Kinder denken anders, in ihrer Wahrnehmung ist zunächst einmal alles, jeder einzelne Gegenstand, beseelt.

SZ-Wissen: Irgendwann muss das Kind nun aber die Erfahrung machen: Ein Gegenstand lebt nicht, und den Osterhasen gibt es nur in der Fantasie. Der Kinderbuchautor und Zeichner Tomi Ungerer berichtete einmal in einem Interview, als seine Kinder klein gewesen seien, habe er Ostern oft die Flinte genommen und gesagt: "So, heute werde ich den Osterhasen abknallen", um seine Kinder mit der rauen Wirklichkeit zu konfrontieren.

Lehmann-Scherf: Ich schätze Tomi Ungerer als Künstler sehr - aber diese Bemerkung finde ich zynisch. Das geht am Erleben eines Kindes völlig vorbei. Wenn seine kognitive Entwicklung weit genug fortgeschritten ist, fängt das Kind von selbst an zu zweifeln, ob es den Osterhasen oder das Christkind wirklich gibt. Irgendwann ist es damit zufrieden, dass die Mutter oder der Vater dahintersteckt. Aber eine wichtige Zeit lang brauchen Kinder diese Vermischung von Wunderbarem und Realität und verändern ihr Weltbild nach und nach selbst: So lang ein Kind den Osterhasen braucht, behält es ihn in seiner Vorstellung.

SZ-Wissen: Welchen Nutzen zieht es in seiner mentalen Entwicklung aus solchen Vorstellungen?

Lehmann-Scherf: Sie gestatten dem Kind, sich einen eigenen Reim auf die Dinge zu machen und damit zu erfahren, dass es möglich ist, die Welt aus eigener Kraft zu verstehen. Solche fantastischen Figuren, wie auch Märchen und Mythen, Der Osterhase ermöglichen es Kindern, sich die Welt in bildhaften Sinnzusammenhängen zu ordnen. In der beseelten Welt eines Kindes hängt ja alles irgendwie zusammen. Aber wie es zusammenhängt, ist eben subjektiv und immer wieder neu deutbar, das Kind lernt also ständig dazu. Deshalb ist zunächst das Staunen für Kinder wichtig.

SZ-Wissen: Weil es den Lernhunger anregt und dazu herausfordert, unbekannte Dinge zu deuten?

Lehmann-Scherf: Sagen wir es so: Wenn ein Kind den Mond sieht und bemerkt, dass er seine Form verändert, hilft ihm keine naturwissenschaftliche Erklärung. Wer dann etwas von Erdschatten und Sonnenlicht erzählt, würde das Kind in seiner Weltsicht nicht verstehen und ihm nicht helfen, dem Lebewesen Mond überhaupt einen Sinn zu geben. Das wird heute in der Schul-, aber auch schon in der Frühpädagogik zunehmend ignoriert. Kognitive Entwicklung wird mit dem Sammeln von verwertbarem Leistungswissen verwechselt. Das ist ein ungeheurer Verlust. Man kann nur sagen: Rettet den Osterhasen!

SZ-Wissen: Sind Figuren wie er denn vom Aussterben bedroht?

Lehmann-Scherf: Zumindest sind wir dabei, ein mythisches Weltverständnis, ein Denken in bildhaften Zusammenhängen immer mehr abzuwerten. Aber dem kann man entgegenwirken: Wir können den Kindern zum Beispiel Märchen vorlesen. Märchen stellen fast ausnahmslos kindliche Grundkonflikte dar und helfen so dem Kind, seinen Alltag zu bewältigen. Sie bieten in der Vermischung des Realen und des Wunderbaren - eines Prinzen zum Beispiel, der mit den Tieren sprechen kann - ein Äquivalent zum kindlichen Denken. So ermöglichen sie es Kindern, sich verstanden zu fühlen und anhand der Erzählung eigene Konflikte durchzuspielen. Nur sind, was einst erzählte Märchen waren, heute zunehmend Filme. Und wenn es einen Film sieht, hat das Kind fest definierte, äußere Bilder vor sich, die es wesentlich weniger mit eigenen Bildern und eigenem Leben füllen kann.

SZ-Wissen: Der Psychologe Norbert Bischof hat festgestellt, dass die Weltentstehungsmythen der Erwachsenen auf einer ähnlichen Funktion beruhen. Demnach gleichen sie sich über Kulturgrenzen hinweg in universellen Bildern: Sie lassen die Welt so entstehen, wie sie in der Entwicklung der Wahrnehmung jedes Einzelnen tatsächlich entsteht.

Lehmann-Scherf: Etwas Ähnliches tun Märchen. Sie ermöglichen es dem Kind, seine aktuellen, eigenen Probleme mit Bildern zu verbinden und zu einem glücklichen Ausgang weiterzudenken. Märchen enden immer gut. Sie beginnen meist mit der Kernfamilie, aus der ein Heranwachsender hinausgeht in die Welt, Abenteuer besteht, auf Gegenspieler trifft, sie überwältigt und Helfer findet, die ihm zur Seite stehen. Dieses Muster ist universell, es liegt fast allen Märchen zugrunde, und es muss auch so verlässlich sein: Solange Kinder es brauchen, fordern sie bis in einzelne Formulierungen hinein immer wieder dieselbe Geschichte. Wer das erlebt hat, zweifelt nicht mehr an der Bedeutung von Gestalten wie der des Osterhasen.

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