Klimawandel:Der Nordpol bricht in Stücke

Das Eis der Arktis ist in diesem Jahr nicht ganz so stark geschmolzen wie 2007 - doch Forscher sehen keinen Grund zur Entwarnung.

Birgit Lutz-Temsch

Gespannt haben Klimaforscher, Physiker und Meteorologen in den vergangenen Tagen die Entwicklung auf den Karten verfolgt, die die Ausdehnung des arktischen Meereises zeigen.

Klimawandel: Algenblüte in der Barentssee.

Algenblüte in der Barentssee.

(Foto: Foto: dpa/Esa)

Und jeden Tag wurde klarer: Der Negativrekord der arktischen Eisausdehnung vom Sommer 2007 ist in diesem Jahr nicht unterboten worden. "Die minimale Eisausdehnung betrug 2008 etwa 4,3 Millionen Quadratkilometer. Das ist die zweitniedrigste Ausdehnung, die jemals beobachtet worden ist, nach 2007 mit etwa 3,9 Millionen", sagt Georg Heygster, Akademischer Direktor am Institut für Umweltphysik der Universität Bremen.

Heygster arbeitet für das EU-Projekt Damocles, das ein meteorologisches und klimatologisches Beobachtungs- und Vorhersagesystem für die Arktis etabliert. Für ihn ist die Nachricht indes kein Anlass zur Entwarnung: "Wir haben 2008 keine Eisfläche vorgefunden, die nur annähernd im Mittel der jahrelangen Messungen läge." Diese Entwicklung werde sich fortsetzen, da die Eisdecke während der Winter zwar immer wieder anwachse, dieses Eis jedoch dünn bleibe und schnell wieder schmelze.

Die Eisdicke ist eine der Schlüsselgrößen in Klima-Modellrechnungen - aber sie ist schwierig zu messen, da hierfür das Eis mit Flugzeugen mit Messgeräten überflogen werden muss, wie sie zum Beispiel das Alfred-Wegener-Institut AWI in Bremerhaven entwickelt.

Auch dort blickt man mit Sorge auf die diesjährige Ausdehnung: Eine bisher unbeantwortete Frage sei, ob die Abfolge von zwei extremen Jahren bereits bedeutet, dass das gesamte arktische System vor dem Kippen steht und es keine Rükkehr mehr zu den bisherigen winterlichen Eisbedeckungen geben wird, sagt Rüdiger Gerdes, physikalischer Ozeanograph. "Solche Übergänge kommen in übergreifenden Klimamodellen vor. Sie wurden allerdings bislang erst für das spätere 21. Jahrhundert prognostiziert."

Ein weiterer verstärkender Faktor ist die abnehmende Reflektion. Je mehr dunkles Meerwasser und je weniger spiegelnde Eisfläche vorhanden ist, umso weniger Sonnenstrahlung wird in den Weltraum zurück reflektiert. Dadurch erwärmt sich die Arktis schneller, der Eisrückgang wird zusätzlich beschleunigt.

Es ist kein Zufall, dass nun im zweiten Jahr hintereinander die beiden großen nordischen Schifffahrtswege, die Nordwest- und die Nordostpassage, eisfrei waren. Die Schmelze und die dadurch womöglich zugänglich werdenden Öl- und Gasvorräte in den Tiefen des Polarmeers wecken bereits Begehrlichkeiten bei Reedereien und Energiekonzernen.

Doch die Abnahme des mehrjährigen Eises hat gravierende Auswirkungen auf das arktische Ökosystem. Die arktische Eisfläche ist durch den transpolaren Strom in ständiger Bewegung. Eis, das sich nördlich von Sibirien bildet, driftet in einem großen Bogen über den Pol durch die Framstraße zwischen Spitzbergen und Grönland nach Süden.

Eine Scholle braucht dafür zwei bis fünf Jahre. Diese Dauer ist von großer Bedeutung für Tiere und Pflanzen. "Erstjähriges Eis ist biologisch praktisch tot. Eine Besiedlung durch Kleinlebewesen, die am Anfang der Nahrungskette stehen, findet erst bei mehrjährigem Eis statt - und mit dessen Abnahme entfällt deren Lebensgrundlage", sagt Heygster. Auch Robben und Eisbären leiden, sie finden ihre Nahrung fast ausschließlich am Eisrand.

Beobachtungen von Forschern, die seit Jahren in der Arktis tätig sind, tragen nicht zu einer Entwarnung bei. Mit welch prekären Bedingungen manche Robbenpopulationen kämpfen, schildert die kanadische Biologin Kit Kovacs, die sich seit 30 Jahren mit arktischen Meeressäugern beschäftigt.

Im Sommer 2007 brach Kovacs für ein Forschungsprojekt mit einem Schiff ins Westeis, nördlich von Spitzbergen auf, und im April 2008 ins Eis der Framstraße. "Wir fanden das Eis beide Male völlig aufgebrochen vor, in winzigen Schollen", schildert sie. "Robben ziehen ihre Jungen in Herden auf und beschützen sie in der Gruppe. Das ist ihnen in diesen Eiskonditionen völlig unmöglich."

Auf beiden Touren hatte Kovacs mit Stürmen zu kämpfen, die das Eis weiter aufbrachen. Ein Effekt, der es im August einem Eisbrecher ermöglichte, die Strecke von Murmansk bis zum Nordpol in nur 91 Stunden zurückzulegen - ein Rekord.

"Das Eis war über weite Strecken schwach und salzig und von vorhergehenden Stürmen in winzige Stücke zerkleinert", sagt der Expeditionsleiter. Auch wenn dies vereinzelte und nicht repräsentative Beobachtungen sind - das gehäufte Auftreten starker arktischer Stürme ist ebenfalls Folge der globalen Erwärmung. "Die wärmere Luft speichert mehr Feuchtigkeit und mehr Energie - das drückt sich in Starkwetterereignissen aus", so Heygster.

Studien der Universität Boulder, Colorado, prognostizierten 2007 eine deutliche Zunahme von Stürmen in der zirkumpolaren Region, genauso wie das Ansteigen der Intensität von Stürmen in den mittleren Breiten. "Die Arktis ist nicht so weit weg, wie viele denken", sagt Heygster. "Wenn sich die Zugstraßen der Tiefdrucksysteme in der Arktis ändern, dann hat das auch Auswirkungen hier bei uns."

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