Klimaschwankungen:Sibiriens laue Sommer

In der Arktis sind wärmere Perioden wohl häufiger als bislang gedacht. Bohrungen haben gezeigt, dass es in den vergangenen 2,8 Millionen Jahren in Sibirien acht "Super-Warmzeiten" gab. Die Funde sind überraschend, denn niemand hat genaue Erklärung für die hohen Temperaturen.

Gert Lange

Für Martin Melles haben sich die Mühen gelohnt. Er hat im Winter 2009 in Sibirien geschuftet, um ein Loch in einen zugefrorenen See zu bohren - und kann deswegen nun belegen, dass es dort in der Vergangenheit oft bis zu 14 Grad Celsius warm war, dass Wälder am See standen und viel mehr Regen fiel als heute. Ganz nebenbei hat sein Team noch eine empfindliche Wissenslücke geschlossen.

Der See, den Melles und seine Kollegen aus Russland, Amerika und Schweden angebohrt haben, heißt Elgygytgyn (Weißer See). Er liegt 100 Kilometer nördlich des Polarkreises im Tschuktschengebiet. Ein Meteoriteneinschlag hat ihn vor 3,6 Millionen Jahren entstehen lassen. Seither war er oft zugefroren, aber nie von einem Gletscher bedeckt, so hofften die Forscher. Nur dann könnten sie aus den Sedimenten am Seeboden das Klima der fernen Vergangenheit ablesen. Solche Daten aus Sibirien fehlten bisher.

Der Bohrkern korrigiert das Bild vom ewig kalten Sibirien. So lagen zum Beispiel vor 420.000 Jahren, im sogenannten Holstein-Interglazial, die sommerlichen Durchschnittstemperaturen vier bis fünf Grad Celsius über den heutigen. Die Spitzenwerte lagen bei 13 bis 14 Grad; heutzutage pendelt das Thermometer am Elgygytgyn im Juli um neun Grad. Die Niederschlagsmenge damals - 600 Liter pro Quadratmeter im Jahr - war doppelt so hoch wie heute (Science, online).

Insgesamt konnte das Team um Martin Melles von der Universität Köln acht solcher "Super-Warmzeiten" in den vergangenen 2,8 Millionen Jahren identifizieren. Die damaligen Klimabedingungen lasen die Forscher vor allem aus den Pollen, die in dem See versanken. Demnach standen in den Warmzeiten dichte Lärchenwälder an seinen Ufern und es wuchsen Fichten, die heute im nördlichen Sibirien nirgendwo gedeihen.

Die Arbeiten bei der Bohrung waren extrem schwierig und für die Beteiligten bis zur körperlichen Erschöpfung anstrengend. Gebohrt werden musste im Winter, bei minus 45 Grad, von der Eisdecke des Sees aus. Kanadische Spezialisten hatten sie verstärkt, indem sie Wasser darauf pumpten. Der fast 100 Tonnen schwere, amerikanische Bohrturm war über Wladiwostok durch die schneeverwehte Tundra zum Camp gebracht worden. Straßen gibt es dort nicht, Bulldozer bahnten den Lastwagen den Weg.

Das Klima in der Arktis ist verletzlich

Die Bohrung erreichte eine Tiefe von 318 Metern unter dem Seeboden, dann stieß sie auf Gestein. Die Bohrkerne aus insgesamt drei Löchern zeigten sich fein gestreift in verschiedenen Farben: dunkelgrau, oliv oder rotbraun mit grünlichen Bändern. In den oberen 135 Metern haben jeweils 1000 Jahre bis zu fünf Zentimeter Sedimente hinterlassen, darunter war ein halber Meter pro Jahrtausend zusammengekommen. Im Labor konnten die Forscher die Proben später auf Mikrometer genau untersuchen. "Schon die erste Sichtung der Sedimentkerne hat den Beweis erbracht, dass der See über die 3,6 Millionen Jahre tatsächlich nicht vergletschert war", sagt Melles.

Die gefundenen Super-Warmzeiten haben die Forscher auch deswegen überrascht, weil es für die hohen Temperaturen keine genaue Erklärung gibt. Computer-Simulationen zeigen, dass schwankende Treibhausgase und eine veränderte Erdbahn um die Sonne allein nicht ausreichen; es muss zusätzliche Impulse gegeben haben. "Das Klima der Arktis ist wesentlich verletzlicher, als bisher angenommen wurde", sagt Melles. Den Schlüssel dafür sieht er in der Antarktis.

Andere Forscher stimmen ihm zu: "Die Analyse des Elgygytgyn-Kerns bezeugt eine Phasengleichheit der großen Warm-Kalt-Zyklen in Arktis und Antarktis. Das war bisher nicht bekannt", sagt Gerhard Kuhn vom Alfred-Wegener-Institut. Er war vor sechs Jahren an einem Projekt namens Andrill am Südpol beteiligt, das Sedimente vom Boden des Meeres nach oben gebracht hat. Daran lasen Forscher ab, dass der Eisschild der Westantarktis mehrmals kollabiert ist, ohne dass die Treibhausgas-Konzentration stark erhöht war. "Das stimmt zeitlich auffällig gut mit den Super-Warmzeiten der Arktis überein", so Kuhn.

Daher vermuten die Polarforscher, dass das Abschmelzen des Eises im Süden die Strömungen in den Weltmeeren durcheinandergebracht hat. Wenn eine aus dem Süden in den Nordpazifik strömende kalte Wassermasse reduziert worden oder ausgeblieben ist, könnten sich die nördlichen Landgebiete erwärmt haben. Diese Vermutung weist aus der fernen Vergangenheit direkt in die nahe Zukunft. Auch jetzt geht das Eis der westlichen Antarktis zurück. Und diesmal verstärkt die Menschheit den Wandel durch den Ausstoß großer Mengen von Treibhausgasen.

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