Kindesmisshandlung:Ins Hirn gebrannt

Gewalt in der Kindheit hinterlässt offenbar Spuren am Erbgut der Betroffenen. Das zeigt eine Studie kanadischer Forscher an Suizidopfern.

Hanno Charisius

Vernachlässigung und Missbrauch in der frühen Kindheit können die Hirnchemie der Opfer zeitlebens verändern. Auf welchem Wege die traumatischen Eindrücke ihre Spuren in den Neuronen hinterlassen, ist eines der großen Rätsel der Hirnforschung.

Kindesmisshandlung: Gewalterlebnisse und fehlende Liebe können bei Kindern die Aktivität der Gene im Gehirn verändern.

Gewalterlebnisse und fehlende Liebe können bei Kindern die Aktivität der Gene im Gehirn verändern.

(Foto: Foto: iStock)

Eine Studie kanadischer Forscher an Suizidopfern deutet aber darauf hin, dass Gewalterlebnisse und fehlende Liebe die Aktivität der Gene im Hippocampus verändern können, der Hirnregion, die bei der Verarbeitung von Emotionen eine zentrale Rolle spielt. Diese Veränderungen könnten auch der Grund dafür sein, dass sich die Menschen das Leben genommen haben, vermuten die Forscher in dem Bericht, der am Mittwoch im Fachblatt PLoS One (Bd. 3, e2085) erschienen ist.

"Es ist schwierig, beim Menschen einen direkten Zusammenhang zwischen der frühen Kindheit und der Genaktivität im erwachsenen Gehirn herzustellen", sagt Studienleiter Moshe Szyf von der McGill University in Montreal.

In Versuchen an Ratten hatte seine Arbeitsgruppe allerdings bereits vor vier Jahren gezeigt, dass das Verhalten der Mutter das Genaktivierungsmuster in den Gehirnen von neugeborenen Ratten nachweislich beeinflusst. "Ähnliche Beobachtungen haben wir auch in unserem Labor gemacht", sagt Marcus Ising vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. "Die Studie zeigt, dass sich diese Resultate offenbar auf den Menschen übertragen lassen."

In den 1990er Jahren hatte Michael Meaney, ebenfalls von der McGill University, beobachtet, dass neugeborene Ratten, die von der Mutter vernachlässigt wurden, im Erwachsenenalter ängstlicher und allgemein stressanfälliger waren.

Im Jahr 2004 veröffentlichten Meaney und Szyf dann die Daten aus den genetischen Untersuchungen der Rattenhirne. Es zeigte sich, dass die Aktivität einiger Gene im Hippocampus bei den nachweislich vernachlässigten Tieren gedrosselt war. Bei Tieren aus einer umhegten Vergleichsgruppe konnten sie diesen Effekt nicht beobachten.

Gesteuert wird die Genaktivität in diesen Fällen von chemischen Veränderungen an, aber nicht in der Erbsubstanz. Ein Gen wird gedrosselt, wenn viele Methylgruppen an ihm haften. Das Erbgut selbst bleibt dabei unverändert.

Trotzdem mehren sich die Hinweise, dass auch solche "epigenetischen" Veränderungen von den Eltern an ihre Kinder weiter gegeben werden können. Im Falle der Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, könnte das bedeuten, dass unter ungünstigen Umständen auch ihre Kinder depressive Tendenzen entwickeln.

Ob die Veränderungen in den von Szyf und seinen Kollegen untersuchten menschlichen Hirn-Proben Folge oder Ursache der Depressionen waren, die später möglicherweise zum Suizid führten, lässt sich derzeit nicht sagen.

"Die Tierversuche deuten darauf hin, dass die Veränderungen vor der Erkrankung stattfinden", sagt Ising. Vorsichtig bezeichnet er sie als "möglichen Risikofaktor" für die Entwicklung einer Depression später im Leben.

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