Jugendgewalt:"Eine neue Art der Aggressivität"

Viele Menschen sind überzeugt: Es wird immer schlimmer mit der Jugendgewalt. Ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Franz Joseph Freisleder.

J. Käppner und S. Wimmer

Psychiater Franz Joseph Freisleder über die aktuellen Fälle von Jugendgewalt und die Frage, was die Gesellschaft tun kann.

Jugendgewalt

Hat die Gewalt an Schulen zugenommen?

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Viele Menschen sind fest überzeugt, es werde immer schlimmer mit der Jugendgewalt. Die jüngsten Taten in Tessin in Mecklenburg oder in München scheinen das zu bestätigen. Aber stimmt es denn überhaupt?

Freisleder: Nein, das kann man so pauschal überhaupt nicht sagen, auch wenn Politiker oder die Polizei das behaupten. In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren erlebten Großstädte wie München ein Ausmaß an Jugendgewalt, wie wir sie heute überhaupt nicht mehr kennen.

Es gab die "Blasen", rivalisierende Banden, die sich Straßenschlachten lieferten, da war das Niederstiefeln eines anderen noch die harmlosere Variante.

Aber es stimmt, dass heute eine Art der Aggressivität von Jugendlichen um sich greift, wie wir sie vor 20 Jahren nicht hatten.

SZ: Wie definieren Sie diese?

Freisleder: Es scheint schon fast zum Umgangsstil von bestimmten gefährdeten Jugendlichen aus einem sozial problematischen Milieu zu gehören, sehr rasch zuzuschlagen.

Die Hemmschwelle sinkt. In diesem Milieu ist Gewalt oft über Generationen ausgeübt worden. Jugendliche lernen, dass Gewalt sich auszahlt. Und die Medien dienen als Verstärker.

SZ: Die Täter in Mecklenburg-Vorpommern, die ein Ehepaar erstachen, haben offenbar Gewalt- und Horrorgames gespielt. Kann das so eine Tat tatsächlich auslösen?

Freisleder: PC-Spiele alleine sicher nicht. Aber bei bestimmten Jugendlichen, bei denen Gewalt schon zum Lebensstil gehört, wird die Hemmschwelle weiter sinken.

Aus vielen Begutachtungsfällen weiß ich, dass der unkontrollierte, stundenlange Konsum von solchen Filmen oder Video-Spielen wie "Counterstrike" zum Verstärker von Gewaltexzessen werden kann.

SZ: In den aktuellen Fällen in Tessin und München haben die Täter Dutzende Male auf ihre Opfer eingestochen. Wie kommt es zu solch exzessiver Gewalt?

Freisleder: Das ist gar nicht so untypisch, und auch hier gibt es Vorbilder in Filmen und Videospielen. Da herrscht das Motiv vor: Dem zeig ich es jetzt, den besiege ich nicht nur, den vernichte ich.

SZ: Ist die neue Jugendgewalt denn eher ein Unterschichten-Problem, ein Mittel zur Durchsetzung für jene, die sich zu kurz gekommen fühlen?

Freisleder: Es gibt auch die Wohlstandsverwahrlosung. Wenn ein Kind materiell überverwöhnt und emotional vernachlässigt ist, dann kann es passieren, dass es später keine Frustrationstoleranz hat.

Die Jugendgewalt hängt aber sicherlich stärker mit sozialen Problemen zusammen. Aggressives Verhalten gibt es daher häufiger bei Jugendlichen mit nicht-deutschem Hintergrund. Es gibt eine Gewalt an der Grenzlinie zwischen den Kulturen, Albaner gegen Türken oder Russlanddeutsche gegen Jugendliche vom Balkan - und natürlich sind auch deutsche Jugendliche dabei.

SZ: Also: Mehr Integration, weniger Gewalt?

Freisleder: So kann man es sagen. In Frankreich, wo die Integration einer halben Generation von Arabischstämmigen misslungen ist, ist es besonders schlimm.

SZ: Bayern will die "Killerspiele" verbieten, weil labile Jugendliche die virtuelle Gewalt auf die reale Welt übertragen könnten. Hilft ein solches Verbot?

Freisleder: Ja. Die große Mehrheit der Jugendlichen ist durch solche Spiele zwar nicht gefährdet. Aber denken wir an den Amokläufer aus Erfurt, der in seiner alten Schule 16 Menschen erschoss. Diese Jugendlichen haben sich zurückgezogen. Sie sind in der Vereinsamung versunken. Sie suchen sich die virtuelle Welt als Lebensplatz - und kehren dann voller Hass zurück in die reale. Dann gibt es Gruppentäter, die sich gemeinsam so was anschauen und sich in Taten überbieten wollen. Die Gefahren sind einfach zu groß, daher wäre ein Verbot der richtige Weg. Und die Gesellschaft würde ein Zeichen setzen, dass sie solche Spiele aus ethischen Gründen nicht toleriert.

SZ: Hilft es, das Jugendstrafrecht zu verschärfen, wie Unionspolitiker fordern?

Freisleder: Das Jugendstrafrecht reicht an sich aus. Ich habe aber Probleme damit, wenn die Gerichte bei den 18- bis 20-Jährigen manchmal reflexhaft das mildere Jugendstrafrecht angewendet wird, ohne im Einzelfall hinzusehen: Ist denn dieser Heranwachsende wirklich noch unreif?

Franz Joseph Freisleder ist Ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München.

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