Japan: Atomkatastrophe:Strahlende Stille

Drei Reaktoren außer Kontrolle: Selbst die zuständigen Techniker von Fukushima-1 scheinen nicht mehr zu wissen, was im Inneren des Atomkraftwerks passiert. Auch ob das Meerwasser die überhitzten Brennelemente wirklich abkühlt, ist unklar. Den Experten bleibt nur, zu messen und zu hoffen.

Christopher Schrader

Im japanischen Distrikt Fukushima haben die Betreiber der Kernkraftwerke die Kontrolle auch über den dritten Reaktorblock verloren. Nachdem am Samstag der Block 1 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und bei einer Explosion seine Fassade und das Dach verlor, nahm am Sonntag Block 3 eine ähnliche Entwicklung. Die Explosion am frühen Morgen deutscher Zeit verletzte sieben Arbeiter. Am Montag stand schließlich Block 2 im Fokus, von dem es am Wochenende geheißen hatte, er sei stabilisiert.

Gegen Mittag deutscher Zeit meldeten zwei japanische Nachrichtenagenturen unter Berufung auf die Betreiberfirma, auch die Notfall-Kühlung mit Meerwasser habe dort versagt. Die Brennelemente lägen nun komplett trocken. Damit stand die komplette Kernschmelze im Block 2 unmittelbar bevor. Ein teilweises Schmelzen der Brennelemente hielt auch der Betreiber für möglich. Regierungssprecher Yukio Edano sagte sogar, in allen drei Reaktoren drohe eine Kernschmelze. Techniker im akut bedrohten Block 2 begannen aber sofort, wieder Meerwasser in den Reaktor zu pumpen.Doch nachmittags war das Kühlwasser wieder weg.

Seit dem Erdbeben in Japan erfahren Millionen Menschen mehr über Nukleartechnik, als sie jemals wissen wollten. Da ist von Kernschmelze die Rede, von Nachwärme, Borsäure, Zirkonlegierungen, von Druck-, Temperatur- und Radioaktivitätswerten. Aber selbst Fachleute gewinnen aus den Meldungen nur mühsam ein stimmiges Bild. Klar ist nur, dass die Reaktorblöcke 1 bis 3 der Anlage Fukushima 1 schwere Schäden an ihrem nuklearen Inventar erlitten haben, dass sie schon wegen der Notkühlung mit Meerwasser einen wirtschaftlichen Totalschaden darstellen - und dass die Sorge, ob sie sich selbst komplett zerstören und dabei weite Landstriche des dicht besiedelten Landes radioaktiv verseuchen, noch wochenlang andauern könnte.

Weitere Einzelheiten finden sich in Nebensätzen von Regierungserklärungen. Demnach planen die Betreiber der Kraftwerke zum Beispiel, in das Reaktorgebäude des Blocks 2 Löcher zu stemmen, damit sich nicht wie in den anderen Blöcken Wasserstoffgas ansammelt, das explodieren könnte. Ein weiteres Detail ist, dass die Anlage in Fukushima auf Flutwellen bis 6,51 Meter vorbereitet war, der Tsunami nach dem Erdbeben vom Freitag aber etwa sieben Meter erreichte. Ein klares Bild ergibt sich so nicht.

Offenbar wissen selbst die zuständigen Techniker in den Kontrollräumen des Kraftwerks nicht genau, was in den drei Reaktoren passiert. Fachleute vermuten, dass ihre Messgeräte widersprüchliche Daten zeigen. "Es ist zweifelhaft, ob sie überhaupt erkennen können, welche Temperatur die Brennelemente jetzt haben", sagt Sven Dokter, Sprecher der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS). "Es gibt da üblicherweise zwei Sets von Instrumenten", ergänzt Christian Küppers vom Ökoinstitut in Darmstadt, der auch Mitglied der deutschen Strahlenschutzkommission ist. "Eines ist für den Normalbetrieb da, das zweite soll genaue Werte bei viel höherer Belastung liefern." Unklar ist aber, ob sie noch funktionieren.

"Es bestehen aus technischer Sicht kaum Möglichkeiten, den Unfallablauf noch irgendwie zu beeinflussen", fasste der ehemalige Geschäftsführer der GRS, Lothar Hahn, die Situation am Montag in Berlin bei einer Veranstaltung der Grünen-Fraktion zusammen. Alle drei Reaktoren sind schließlich in einen Zustand geraten, für den es keine Vorausplanung gab. Die Techniker sind gezwungen, alles auszuprobieren, was ihnen einfällt und noch zur Verfügung steht. Die Kühlung mit Meerwasser ist eine solche verzweifelte Notmaßnahme, die kein Betriebshandbuch vorsieht. Immerhin, sagt Sven Dokter, hätten Fachleute diese Abhilfe theoretisch schon einmal durchgespielt. Aber über das genaue Ziel des Wassers, unter welche Schützhülle es also gepresst wird, sind Experten sich nicht einig. Der Betreiber der Atommeiler hat erklärt, es werde in den innersten Kern gepumpt. Teilweise sind dabei offenbar für diesen Zweck keineswegs vorgesehene Feuerwehrpumpen verwendet worden.

Ohnehin war oder ist kein Reaktor der Welt darauf ausgelegt, die gefürchtete Kernschmelze zu überstehen. In den Sicherheitsanalysen während der Planungsphase haben die Ingenieure die vorhergehende fatale Verkettung von versagenden Anlagenteilen als derart unwahrscheinlich charakterisiert, dass Genehmigungsbehörden keinen Notfallplan für den Hitzetod des Brennstoffs verlangt haben. Er kann dann eintreten, wenn im abgeschalteten Reaktor die Brennelemente nicht ausreichend gekühlt werden. Das Herunterfahren der Anlage stoppt zwar die Kettenreaktion im Uran, aber nicht die radioaktiven Zerfallsprozesse, die sich an die Kernspaltung anschließen. Sie erzeugen viel Wärme.

Nukleare Lava

Bei 900 Grad Celsius, so erklärt es ein Handout der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, bersten die Metallrohre, die die Urantabletten umschließen. Das Material beginnt zu oxidieren, was zusätzliche Wärme freisetzt. Gleichzeitig bildet sich an der Zirkonlegierung der Rohre Wasserstoffgas. Ab 1750 Grad schmilzt die Zirkonlegierung und ab 2850 Grad schließlich das Uran. Das Ganze wird von heftigen Reaktionen begleitet und einer starken Zunahme des Drucks.

Japan: Atomkatastrophe: Außer Kontrolle: Das Atomkraftwerk Fukushima-1

Außer Kontrolle: Das Atomkraftwerk Fukushima-1

(Foto: AP)

Schließlich fließt das Material am Boden des Reaktordruckbehälters zusammen. Kein Material kann dieser Hitze standhalten. Darum würde sich die Masse, durch die Zerfallsprozesse erhitzt, langsam durch das Kraftwerk nach unten fressen. Nach einer Woche, so Lothar Hahn, könnte die nukleare Lava das Betonfundament durchstoßen. Im feuchten Erdreich würde das Dampfexplosionen auslösen. Die Freisetzung des strahlenden Inventars in Boden, Grundwasser und Atmosphäre wäre unvermeidbar.

Während dieses Prozesses droht eine weitere Gefahr. In der Schmelze verlieren die Einheiten der Kernbrennstoffe ihre sorgsam eingestellten Abstände. Es ist also denkbar, dass die Kettenreaktion wieder anspringt und schließlich eine nukleare Explosion auslöst. Schon wenn die ersten Schäden an Brennelementen auftreten, die es in allen drei Reaktoren gegeben haben dürfte, können die Techniker nicht mehr sicher sein, wie der Kernbrennstoff angeordnet ist. Darum pumpen sie zurzeit mit dem kühlenden Meerwasser Borsäure in die Reaktoren, das jede Kettenreaktion ersticken soll.

Die komplette oder weitgehende Freisetzung des strahlenden Inventars durch Explosionen ist also der schlimmste Fall, der allen drei Reaktoren noch droht. Der beste wäre, dass die Techniker die Temperatur im Inneren der Meiler langsam senken, dass die Sicherheitshüllen halten und vergleichsweise kleine Mengen an Radioaktivität ins Freie gelangen, wenn Dampf abgelassen wird. Aber auch schon diese Mengen haben den amerikanischen Flugzeugträger Ronald Reagan abdrehen lassen, weil er durch eine strahlende Wolke gefahren war.

Welche Entwicklung zwischen dem besten und dem schlimmsten Fall die drei Reaktoren nehmen, das kann sich in Stunden entscheiden oder in Wochen. Geht es schnell, ist eher eine nukleare Katastrophe zu erwarten, denn das Abkühlen ohne Zwischenfälle dauert lange. "Man ist über den Berg, wenn man mit einem stabilen Kühlsystem die Kerntemperatur wieder unter etwa 800 Grad Celsius gesenkt hat", sagt GRS-Sprecher Sven Dokter.

"Auch nach zwei Wochen kann es trotzdem noch zur Kernschmelze kommen", ergänzt Christian Küppers vom Ökoinstitut. So darf zum Beispiel in keinem Notstromaggregat der Diesel ausgehen, wie gerüchteweise am Montag passiert sein soll. Zudem weiß kein deutscher Experte, ob die japanischen Techniker mit dem Meerwasser die überhitzten Brennelemente wirklich abkühlen - oder ob sie die weiterte Erwärmung nur bremsen.

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