40 Jahre Wissenschaftsjournalismus in der SZ:Philosophie und Dioxin

Am 22.2.1968 veröffentlichte die Süddeutschen Zeitung erstmals eine Seite, die ganz dem Bemühen gewidmet war, den Geist der Naturwissenschaften interpretierend zu Papier zu bringen.

Martin Urban

"Der Mensch erkennt, daß es nicht nützt, Wenn er den Geist an sich besitzt, Weil Geist uns ja erst Freude macht, Sobald er zu Papier gebracht." So schrieb im Jahr 1932 Eugen Roth.

40 Jahre Wissenschaftsjournalismus in der SZ: Forschung - Wissenschaft - Technik: Am 22.2.1968 erschien erstmals eine Wissenschaftsseite in der SZ.

Forschung - Wissenschaft - Technik: Am 22.2.1968 erschien erstmals eine Wissenschaftsseite in der SZ.

(Foto: Foto: sueddeutsche.de)

Am 22.2.1968 erschien die erste Wissenschaftsseite der Süddeutschen Zeitung. Sie wurde Ausdruck des andauernden Bemühens, den Geist der Naturwissenschaften interpretierend "zu Papier" zu bringen.

Journalisten müssten, so forderte der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, "den Wissenschaftlern dabei helfen, daß sie eine Ausdrucksweise lernen, die andere Menschen verstehen."

Plädoyer für eine "neue Geisteswissenschaft"

Einer der Wissenschaftler, die solcher Hilfe nicht bedurften, war neben Weizsäcker der Karlsruher Karl Steinbuch. Sein gesellschaftskritisches Buch "Falsch programmiert" wurde zum Bestseller.

Im SZ-Gespräch auf der ersten Seite "Forschung Wissenschaft Technik", wie sie damals genannt wurde, plädierte Steinbuch für eine "neue Geisteswissenschaft", die Rechenschaft darüber ablege, "welche Prozesse der Informationsverarbeitung zu interessanten geistigen Prozessen Voraussetzung sind".

Alle geistigen Prozesse seien "die Folge von irgendwelchen neuronalen (nervösen) Prozessen in unserem Gehirn." Dies müsse man in Deutschland eigens betonen, "denn da herrscht eine Ideologie, die diesen einfachen Tatbestand nicht zu akzeptieren geneigt ist."

Vierzig Jahre später muss der Frankfurter Gehirnforscher Wolf Singer immer noch betonen: "Wenn wir darüber hinaus noch etwas Immaterielles, Geistiges annehmen, das den neuronalen Prozessen vorgängig ist und auf das Materielle einwirkt, dann haben wir ein Problem mit den Energieerhaltungssätzen. Dies würde die ganze Physik auf den Kopf stellen."

Werner Heisenberg hat in einem Beitrag 1970 richtig prophezeit: "Es wird in der Zukunft vielleicht manchmal schwierig sein zu entscheiden, ob es sich bei einem Vordringen der Wissenschaft um einen Fortschritt der Physik oder der Informationstheorie oder der Philosophie handelt, ob die Physik sich in die Biologie hinein ausdehnt, oder ob sich die Biologie in immer höherem Maß physikalischer Methoden und Fragestellungen bedient."

Wenige Tage darauf stellte der Physikochemiker und Nobelpreisträger Manfred Eigen in München seine Theorie des Beginns der Evolution vor. Sie erklärt, wie allein nach den Gesetzen der Physik und Chemie aus toter Materie lebende Strukturen entstanden sein konnten.

Heute setzen sich in den christlichen Kirchen zunehmend jene Fundamentalisten durch, welche den biblischen Schöpfungsmythos wörtlich nehmen. Sie drängen darauf, die "Schöpfungslehre" in den Biologieunterricht zu übernehmen.

In den 1960er Jahren waren Atomphysiker die "Glamour Boys" der Wissenschaft - trotz Hiroshima. Freilich warnte Carl Friedrich von Weizsäcker, "man dürfe nicht eine wissenschaftliche Arbeit machen, ohne sich gleichzeitig selber die Frage zu stellen, welches die Wirkungen dieser Arbeit im menschlichen Leben seien" (SZ 18.12.1968).

Plutonium für Herzschrittmacher

Diese Folgen sind oft undurchschaubar komplex - aber sehr wohl zu prognostizieren. Risiken einer "zivilen Nutzung" der Atomenergie sah man damals kaum. Der Bombenrohstoff Plutonium sollte, so wurde 1969 ernsthaft vorgeschlagen, selbst Herzschrittmacher antreiben. Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Großforschungseinrichtungen in Karlsruhe und Jülich dienten der Entwicklung des Schnellen Brüters und des Hochtemperaturreaktors. Entwicklungen, die, wie lange vor dem Ende vorhersehbar war, keine Zukunft hatten.

Ein Energie liefernder Fusionsreaktor ist bis heute nicht zustande gekommen, obwohl eigens deshalb das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching eingerichtet worden war. "Das Risiko des GAU" (SZ 19.8.1970), eines größten anzunehmenden Unfalls, war damals noch eher Diskussion unter Spezialisten.

Zu einem realen GAU kam es dann 1979 im Kernkraftwerkskomplex Three Mile Island bei Harrisburg (USA). Anders als im April 1986 im Reaktor Tschernobyl kam es in Amerika nicht zur Katastrophe. Doch die Ereignisse sensibilisierten besonders in Deutschland die Menschen so sehr, dass die Entwicklung "moderner" Kernkraftwerke in der Bundesrepublik keine Chancen mehr hatte, lange vor dem offiziellen Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie.

Philosophie und Dioxin

Umweltforscher statt Atomphysiker

Junge Leute wollten nicht mehr Atomphysiker, sondern Umweltforscher werden, oder Zukunftsforscher. Der bedeutendste deutsche Erforscher möglicher Zukünfte, Carl Friedrich von Weizsäcker, gründete im Frühjahr 1970 das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Es wurde allerdings mit der Emeritierung Weizsäckers "abgewickelt". Zu wenig gewiss war die Zukunft zu ermitteln - und die Erkenntnisse passten wichtigen gesellschaftlichen Gruppen nicht ins jeweilige Konzept.

1968 erschien in Deutschland Rachel Carsons Buch "Der stumme Frühling", das am Beispiel der USA erstmals die verheerenden Wirkungen der damals üblichen Pestizide für die Ökosysteme beschrieb. Risiken der Chemie, die Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft bewegten die Menschen. Das Schreckenswort "Dioxin" wurde weltbekannt. Unfälle wie in Seveso (1976) und Bhopal (1984) zeigten die Schattenseiten der Industriekultur.

Im Jahre 1972 war der erste Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit mit dem Titel "Die Grenzen des Wachstums" erschienen. Er beschreibt nicht nur die Endlichkeit der Ressourcen, sondern vor allem die Begrenztheit menschlichen Vorstellungsvermögens. Der Mensch kann sich lineare Prozesse gut vorstellen, nicht aber exponentielles Wachstum. Dass im Laufe der Zeit Nebeneffekte zur Hauptwirkung werden, liegt außerhalb seines Weltbildes, auch wenn er damit rechnen kann, er kann es sich eben nicht vorstellen.

Nichtlineare Prozesse ließen sich nur dann präzise durchschauen, wenn man ihren Anfangszustand ganz genau kennen würde, was physikalisch unmöglich ist. Solche Prozesse bestimmen zum Beispiel den Verlauf der Witterung und das Klima auf der Welt.

Sie verlaufen nicht geradlinig, sondern chaotisch, weshalb sie bestenfalls annäherungsweise vorauszusehen sind. Allerdings wird die Fähigkeit des Menschen, nichtlineare Prozesse mit Hilfe schneller Computer zu verfolgen, immer besser. Und die Erkenntnisse sind eindeutig. Wir stehen "Vor der Klimawende" (SZ 30./31. Juli 1988) konnte man bereits vor zwanzig Jahren prognostizieren. Mittlerweile ist diese Wende erkennbar eingetreten.

Extrem nichtlineare Vorgänge bestimmen, wie man heute weiß, auch unser Denken und Fühlen, also die Dynamik des menschlichen Gehirns. Obwohl solche Prozesse sogar unser Vorstellungsvermögen bedingen - können wir uns nicht vorstellen, was dabei in unserem Kopf passiert. Im Gegenteil, wir haben intuitiv Bilder über die Organisation des Gehirns entwickelt, "die mit der naturwissenschaftlichen Beschreibung dieses Organs nicht übereinstimmen", so der Hirnforscher Wolf Singer.

Ein erstaunliches Phänomen, das Singer so erklärt: "Dieses Unvermögen unseres Vorstellungsvermögens liegt vermutlich daran, dass unsere kognitiven Leistungen evolutionär an eine Welt angepasst wurden, in der es keinen Vorteil bedeutete, sich mit nichtlinearen, hochdimensionalen Prozessen zu beschäftigen."

Mit Albert Einsteins Spezieller Relativitätstheorie ist Anfang des 20. Jahrhunderts das Unvorstellbare Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung geworden. Die Menschheit rast auf eine unvorstellbare, aber gewisse Katastrophe zu, wenn sie nicht auch das Unvorstellbare bedenkt und daraus die richtigen Konsequenzen zieht.

Martin Urban verantwortete von 1968 bis 2002 die Wissenschaftsseiten der SZ.

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