300 Jahre Charité:Das Pesthaus am Rande der Stadt

Drei Jahrhunderte Charité: Die Historie des größten Klinikums Europas ist auch eine Geschichte des Mangels und der Not.

Werner Bartens

Schnee und Eis blieben 1710 länger liegen als üblich. Als der Winter endlich gewichen war, konnten die Bauarbeiten am 13. Mai des Jahres beginnen.

Charité Berlin, dpa

Die Charité ist heute eine "Bettenburg". Im größten Klinikum Europas, werden jährlich 130.000 Patienten stationär behandelt.

(Foto: Foto: dpa)

Das Gebäude wurde von Kanälen umsäumt, damit "den Armen und Dürftigen geholfen und die Angesteckten von den Gesunden abgesondert werden möchten".

Ursprünglich war das 1710 auf Geheiß von König Friedrich I. errichtete Gebäude schließlich als Pesthaus und Quarantänestation gedacht gewesen, doch Berlin hatte Glück. Der Schwarze Tod, der von Schweden und Polen vorrückte, machte kurz vor Berlin halt. Die Epidemie kam nur bis in die Uckermark und verschonte die preußische Hauptstadt.

Das Lazarettgebäude bot zwar 200 Betten Platz, aber erst Jahrzehnte nach seiner Errichtung ließen sich auch wohlhabende Berliner dort behandeln. Zunächst bot das Pesthaus Schutz für Bettler, Waisen und "liderliche Weiber" - das Lazarett blieb bis Mitte des 18. Jahrhunderts ein Krankenhaus für Mittellose.

Dass die Charité zunächst eine Zufluchtsstätte für Benachteiligte war, mag auch am Standort gelegen haben - im 18. Jahrhundert befand sich die Charité in einer Randlage der Stadt. Wer heute vor dem Reichstag oder dem Kanzleramt steht, mag das kaum glauben, bietet der Bettenturm des Großklinikums doch einen zentralen Blickfang in der Metropole.

"Es soll das haus die Charité heißen"

Die Taufe des Krankenhauses auf den Namen Charité feiert erst 273. Geburtstag. Das zunächst "Lazareth und Hospital vor dem Spandower Thore" genannte Armenhaus wurde 1726/27 zum Hospital erweitert.

"Es soll das haus die Charité heißen", notierte Friedrich WilhelmI. am 14. Januar 1727 handschriftlich. Ausdrücklich war es als Krankenhaus für alle Bürger und nicht nur für Soldaten gedacht, wie in vielen Garnisonsstädten üblich. Es sollte dem Zweck dienen, "aus christlicher Liebe denen armen Kranken beyzuspringen".

Im Mai 1727 war bereits von 300 "Hospitaliten" die Rede, die mit Fieber, Krätze und den damals häufigen Geschlechtskrankheiten Hilfe suchten. Die Charité war früh Ausbildungs- und Lehrstätte, sowie Lazarett und Auffangstelle für "ohne ihr Verschulden in Armuth gekommene" Menschen - wem es hingegen "durch übles Leben", also durch vermeintlich eigenes Verschulden schlecht ging, der wurde in Arbeitshäuser nach Friedrichsstadt oder Spandau verwiesen.

Im 18. Jahrhundert war die Charité nahezu chronisch überbelegt. Das hatte fatale Folgen für die Gesundheit der Kranken. 1730 lag die Sterblichkeit in der Klinik bei fast 30 Prozent, weil sich besonders die Soldaten, die etwa 40 Prozent der Patienten ausmachten, oft erst in die Klinik begaben, wenn es ihnen sehr schlecht ging.

Eine andere große Patientengruppe in dieser Zeit waren ledige Frauen mit Geschlechtskrankheiten, nach Fehlgeburten oder missglückten Abtreibungsversuchen.

Schlimmer als die Guillotine

Die Ärzte und das Direktorium gerieten im 18. Jahrhundert oft in Streit: Ärzte forderten eine bessere Ausstattung für die Klinik, die Verwaltung rügte die mangelnde Pflichtauffassung mancher Mediziner.

Viele Patienten lagen zeitgenössischen Berichten zufolge wochenlang in ihren Betten, bis sich ein ausgebildeter Arzt erstmals bei ihnen blicken ließ. Stattdessen kümmerten sich die Mediziner lieber um ihre Privatpatienten.

Im Jahre 1741 war sogar ein königliches Dekret nötig, um dem Direktorium die Entscheidungsbefugnis zuzubilligen, dass auch arme Patienten weiterhin aufgenommen wurden, für die das Krankenhaus vordringlich da sein sollte. Die Ärzte murrten.

Für sie galt es fortan als ausgemacht, dass chronisch krank oder dem Tod sehr nahe sei, wer in der Charité lande. Für den Unterricht der angehenden Ärzte sei das unergiebig - und für das ärztliches Bemühen frustrierend, wenn Heilerfolge so oft ausblieben.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die Zustände in der Charité immer schlimmer. Die Bauten verfielen, die Hygiene litt und Ärzte wie Verwaltung forderten von Friedrich dem Großen Investitionen. Der Alte Fritz schrieb den Medizinern zurück, wenn "einige Balcken schadhaft sind, können sie das wohl alleine besorgen". Er hielt die Beschwerden der Ärzte für Jammerei und Zeichen mangelnden Engagements.

Da immer mehr Patienten mit Infektionen und Geschlechtskrankheiten eingeliefert wurden, galt die Charité bald als Ort, an dem man eher krank als gesund wurde - der schlimmste Ruf, den sich eine Klinik einhandeln kann.

Ärzte, die Kranken das Essen wegnehmen

Die schlecht bezahlten Ärzte und die noch geringer entlohnten Krankenschwestern würden den Kranken sogar das Essen wegnehmen, beklagten Patienten und Angehörige. Zeitgenossen beschwerten sich darüber, dass es in den Viehställen der Kliniken sauberer aussehen würde als in den Patientenzimmern.

Die Charité würde mehr für die Dezimierung der Berliner Bevölkerung tun als die Guillotine in anderen Städten, beklagte der Schriftsteller Johannes Daniel Falk im Jahr 1798.

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Klientel der Klinik erneut. Fortan kümmerte sich die Charité nur noch um Kranke und quartierte die Armenhausbewohner in umliegenden Gebäuden ein.

Die Gründung der Berliner Universität 1810 auf Betreiben Wilhelm von Humboldts, die Berufungen angesehener Gelehrter und bauliche Erweiterungen waren die Grundlage für das weltweit anerkannte Schaffen von Charité-Ärzten wie Robert Koch und Rudolf Virchow Ende des 19. Jahrhunderts.

Zwar wurden regelmäßig neue Klinik-Gebäude und Institute errichtet und alte erweitert, doch der Mangel und die Beschwerden hatten Bestand: Virchow trug 1874 vor dem Abgeordnetenhaus im Reichstag vor, dass Chirurgie und Geburtshilfe, "in der die am leichtesten verletzbaren und am meisten der Gefahr der Spitalluft ausgesetzten Personen sich befinden", in einem desolaten Zustand seien und die Studenten "in ihnen nicht mal erfahren, wie denn eigentlich eine solche Einrichtung sein sollte".

Und noch 1893 beklagten sich viele Berliner in einem von der SPD organisierten Streikaufruf gegen die Charité über den dortigen "Kasernenton der Ärzte" und über überfüllte Krankensäle mit bis zu 18 Betten - aber ohne abgetrennte Sanitäreinrichtungen.

In dieser Zeit weigerten sich die Krankenkassen sogar, für Behandlungen in der Charité zu zahlen, weil die Zustände dort als katastrophal und nicht als heilbringend galten.

Das größte Klinikum Europas

Es ist unklar, ob die umfangreichen Erweiterungen zwischen 1896 und 1917 auf dem Gelände der Charité auf die Proteste der Bevölkerung und der Ärzte zurückgingen. Wissenschaftler wie Ärzte fanden nun deutlich bessere Voraussetzungen für ihre Arbeit vor.

Neben Virchow und Koch festigten besonders Forscherpersönlichkeiten wie Hermann von Helmholtz, Paul Langerhans, Paul Ehrlich und Emil Adolf von Behring den Weltruf der Charité. Als der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch 1927 an die Charité kam, hatte er den Höhepunkt seiner Karriere allerdings schon überschritten.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden zahlreiche jüdische Mediziner entlassen - die Charité erwies sich nicht als Hort des Widerstands, sondern beschloss vor Inkrafttreten des Gesetzes zur "Arisierung" der Hochschulen, dass Kollegen "jüdischer Abstammung" auszuscheiden hätten.

Bekannte Ärzte wie der Internist Ernst Fränkel oder der Chirurg Rudolf Nissen mussten emigrieren, andere Mediziner kamen im Konzentrationslager um. Einige der verbliebenen Ärzte arbeiteten dem NS-Regime zu, waren an verbrecherischen Experimenten und Zwangssterilisierungen beteiligt.

Auch die Vorzeigeklinik bleib nicht vom Mangel verschont

Für die DDR-Führung war die Charité ein Symbol des medizinischen Fortschritts - "die große Krankenstadt lebt und arbeitet, damit Leben erhalten bleibt", schrieb 1954 die Berliner Zeitung.

Trotzdem blieb die Vorzeigeklinik nicht vom Mangel verschont. Wichtige Geräte fehlten, in der Zeit des Mauerbaus verließen Mitarbeiter in Scharen die Klinik.

"Man wusste nicht, ob in der Früh alle zum Dienst kamen", erinnert sich eine Stationsschwester. 1961 verlor die Charité 180 Mediziner. Das zwanzigstöckige Bettenhaus wurde zwar 1977 begonnen und 1982 eingeweiht, doch die Versorgung mit Arzneimitteln war immer wieder prekär.

1988 teilte der Ministerrat mit, dass "zur Aufrechterhaltung der bedeutsamen medizinischen Versorgungsaufgaben der Bedarf der Charité trotz der insgesamt äußerst angespannten Lage bei medizinischen Verbrauchsmaterialien und Verbandsmitteln vorrangig abgesichert" werden solle.

Heute gilt die Charité nach mehreren Fusionen der Berliner Krankenhäuser als größtes Klinikum Europas, in dem stationär 130.000 Patienten jährlich von 14.500 Mitarbeitern versorgt werden. Fast eine Million Menschen suchen jedes Jahr ambulant Hilfe in der Charité.

Das Großklinikum hat Nobelpreisträger und herausragenden Persönlichkeiten hervorgebracht. Gleichzeitig gilt die Charité mit ihrem riesigen Gebäudekomplex, dem 100-Meter-Bettenhaus und der bloßen Anzahl der Patienten als Symbol für ein Mega-Krankenhaus, in dem Skandale nicht ausbleiben: 2006 blieb ein gehbehinderter Patient drei Tage lang in einer der Charité-Kliniken in einem Aufzug gefangen, bis er entdeckt wurde.

2008 wurde bekannt, dass ein Drogenabhängiger fast eine Woche lang tot in einer Toilette einer Charité-Klinik gelegen hatte, bis das Personal durch den Verwesungsgeruch auf die Leiche aufmerksam wurde. Allerdings wurde schon lange nicht mehr davon berichtet, dass Ärzte oder Pflegekräfte den Patienten das Essen weggegessen haben.

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