Interview:"Wir mussten jeden Stein umdrehen"

Interview: Klas Kärre lehrt Medizin am Karolinska Institut bei Stockholm. Der 64-Jährige forscht am Mechanismus der Unterscheidung zwischen gesunden und virusinfizierten Zellen. Seit 1996 ist er in der Nobel-Versammlung am Karolinska.

Klas Kärre lehrt Medizin am Karolinska Institut bei Stockholm. Der 64-Jährige forscht am Mechanismus der Unterscheidung zwischen gesunden und virusinfizierten Zellen. Seit 1996 ist er in der Nobel-Versammlung am Karolinska.

(Foto: Andrea Björsell)

Klas Kärre gehört seit 1996 der Nobel-Versammlung am Karolinska-Institut an, die alljährlich den Medizin-Nobelpreisträger kürt.

Interview Von Johanna Pfund

Klas Kärre hat eine schwierige Aufgabe: Als Mitglied der Nobelversammlung am Karolinska-Institut stimmt er jedes Jahr im Oktober darüber mit ab, wer in Physiologie oder Medizin den größten Beitrag zum Nutzen der Menschheit geleistet hat und die Auszeichnung bekommt. Ein Gespräch über schwierige Entscheidungen.

SZ: Mitglied der Nobelversammlung am Karolinska-Institut - das klingt nach einem äußerst exklusiven Job. Wie sind Sie dazu gekommen?

Klas Kärre: Viele sind irrtümlicherweise der Meinung, es gebe nur ein Komitee für alle Preise. Für Physiologie und Medizin ist es aber das Karolinska-Institut, so hat es Alfred Nobel in seinem Testament festgelegt.

Allerdings gab es zu Nobels Zeiten dort nur 19 Professoren. In den 1960ern waren es deutlich mehr geworden, außerdem gibt es in Schweden die gesetzliche Bestimmung, dass öffentliche Institutionen alles öffentlich machen müssen. Daher wurde die Nobelversammlung gegründet, der 50 Professoren des Karolinska angehören. Die Mitglieder werden nach ihrer wissenschaftlichen Leistung ausgewählt - das bedeutet, man muss international auf hohem Niveau publizieren. Da ein Viertel der Professoren am Karolinska weiblich ist, achten wir darauf, mindestens den gleichen Anteil in der Versammlung zu haben. Hoffentlich wird der Anteil künftig steigen. Die Versammlung wiederum wählt ein Komitee von fünf Mitgliedern plus Sekretär, das die Vorbereitung übernimmt. Zudem werden dann zehn weitere Mitglieder als beigeordnetes Komitee gewählt. Aber die Entscheidung trifft die Versammlung, immer am ersten Montag im Oktober.

Wie finden Sie geeignete Kandidaten?

Wir bitten jedes Jahr auf der ganzen Welt um Nominierungen. Wir fragen frühere Laureaten, Universitäten, Institutionen, Akademien. Es ist eine rotierende Liste. Normalerweise kann eine Universität jedes zweite Jahr einen Kandidaten benennen. Meist gibt es mehrere Hundert Vorschläge. Aber wir starten niemals bei null - wir haben viel Material über die Kandidaten der vorangegangenen Jahre. Dann wählen wir Nominierte und Entdeckungen aus und schicken Anfragen an international führende Experten, mit der Bitte, die Kandidaten auszuwerten. Im Laufe der Zeit wird die Liste immer kürzer. Obwohl das Komitee viel vorbereitet, liegt die letztendliche Entscheidung bei der Versammlung.

Hat die Versammlung schon jemals Kandidaten auf der Short List abgelehnt?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist eine Möglichkeit. Jedenfalls kann die Diskussion ziemlich lang sein. Ich war drei Jahre lang Vorsitzender des Komitees, und ich kann Ihnen sagen, dass sich die Arbeit hier von der in jedem anderen Komitee stark unterscheidet. Beim Nobelkomitee und bei der Versammlung geht man in den Konferenzraum und weiß nie, was am Ende herauskommt. Die Diskussionen sind sehr offen und geradlinig, die Dinge werden nie vorher beschlossen.

Was sind die Hauptkriterien?

Die sind in Nobels Testament festgelegt. Es soll eine Entdeckung zum Wohle der Menschheit sein. Daher basiert der Preis nie auf einem Lebenswerk. Wir suchen nach einer besonderen Entdeckung. Auch diskutieren wir jedes Jahr, ob der Preis eher für Physiologie oder für Medizin verliehen wird - manchmal ist es beides. Die Herausforderung ist: Wie weiß man, ob diese Entdeckung das Leben verändern wird?

Warum dauert es so lange, bis ein Wissenschaftler den Preis bekommt?

Nun, viele Entdeckungen sind überraschend und umstritten. Man muss abwarten. Es dauert mindestens zehn Jahre, bis ein Kandidat nominiert wird. In der Chemie kann man eine Entdeckung wie auch eine Verbesserung auszeichnen, in der Physik eine Entdeckung oder Erfindung - wir haben nur die Entdeckung.

Wie definiert man Entdeckung?

Es ist wichtig, die richtigen Kandidaten herauszufinden. Man muss sorgfältig recherchieren, da wir den Preis ja nur an maximal drei Personen vergeben können. Bei HIV standen mehr als 20 Autoren auf den bahnbrechenden Arbeiten. Es war eine Herausforderung, die entscheidenden Personen zu identifizieren. Um das zu bewerkstelligen, mussten wir hinter die Kulissen blicken, mussten mit Leuten reden. Wir mussten jeden Stein umdrehen. Der Auswahlprozess beruht wirklich darauf, einander zuzuhören und sich zu respektieren. Wir sind nur dem Preis gegenüber loyal.

Nach mehr als 100 Jahren Nobelpreis: Welche Herausforderungen sehen Sie?

Die Wissenschaft entwickelt immer ausgefeiltere Methoden und multidisziplinäre Zusammenarbeit. Daher sind immer mehr Wissenschaftler an einem Projekt beteiligt, was es zunehmend erschwert, den Entdecker zu benennen. Die Frage ist, wird es in 20 oder 30 Jahren unmöglich sein, maximal drei Personen auszuwählen?

Heißt das, Sie ändern die Regeln?

Nobels Testament ist verpflichtend, aber es ist auch sehr kurz. Die Nobelstiftung hat enorme Macht und kann über das Geld entscheiden, aber sie ist eine Konstruktion, die im Testament nicht vorkommt. Das bedeutet, man kann einige Regeln der Stiftung ändern. Aber es ist schwierig, das Testament zu interpretieren - die Frage ist, was kann man ändern, was nicht?

Hat man versucht, Sie vor der Wahl zu beeinflussen oder zu bestechen?

Nein, das ist mir nie passiert. Natürlich bekommt man Pseudonominierungen via Email, aber diese sind meist nicht ernst zu nehmen. Manche versuchen, die Aufmerksamkeit auf ihre eigene Entdeckung zu lenken. Vor einigen Jahren bekamen die Vorsitzenden von drei Preiskomitees - Physik, Chemie und Physiologie/Medizin - eine Einladung in ein Land, was als mögliche Einflussnahme gesehen wurde, und das kam in die Presse. Danach wurden die Regeln verschärft. Einige Wissenschaftler versuchten, Pressekampagnen in Gang zu setzen, weil sie dachten, sie hätten den Preis verdient. Zum Beispiel kaufte einer ganzseitige Anzeigen in der New York Times. Das ist die Art von Druck, die wir bekommen. Mein Eindruck ist, dass beim Friedens- und Literaturnobelpreis wesentlich mehr Druck herrscht.

Welche Rolle spielt der Preis heute?

Nun ja, es gibt die Oscars, Weltmeisterschaften im Sport, Preise für die besten Köche, alles, alle sind gut. Und im Oktober und Dezember liegt der Fokus dank des Nobelpreises auf der Wissenschaft. Oft müssen die Wissenschaftler lange für den Preis arbeiten, daher ist das nur fair. Und der Preis schreibt Wissenschaftsgeschichte. Wenn man zurückblickt, sieht man, dass es Entdeckungen gab, die man vielleicht hätte auszeichnen sollen, zum Beispiel die DNS als Träger genetischer Informationen. Und es gibt Entscheidungen, die nicht so klug waren. Dennoch ist der Preis eine enorme Inspiration für junge Wissenschaftler. Er zeigt: Man muss nicht im besten Labor der Welt arbeiten. Was zählt ist: Bleibt offen. Es ist euer Verstand und eure Fantasie und eure Fähigkeit, originelle Ideen zu entwickeln und zu testen.

Dennoch scheint es, als hätten Frauen und Menschen aus Entwicklungsländern kaum eine Chance.

Ja, da gibt es ein Ungleichgewicht und eine Debatte darüber. In Lindau werden nur zwei Laureatinnen sein, das ist schlecht. Unter den Nachwuchswissenschaftlern sind mehr Frauen als Männer, doch sie scheinen später zu verschwinden. Dennoch muss der Preis die Wissenschaftsgeschichte spiegeln, auch wenn die akademischen Strukturen unfair waren. Deshalb sollten wir den Preis nicht an eine Frau oder an jemand aus einem unterrepräsentierten Land geben, nur um das auszugleichen. Wenn eine Frau nominiert ist, kann ich aber garantieren, dass die Chancen, auf der Liste zu bleiben, nicht niedriger sind, nur weil sie eine Frau ist.

Lindau ist für Nobelpreisträger ein wichtiger Ort geworden. Ist das einem schwedischen Preis angemessen?

Ich denke, das Treffen ist eine fantastische Idee. Ich sehe keinen Grund, warum die Tagung umziehen sollte. Lindau ist eine hübsche Stadt mit einer wunderbaren Umgebung. Außerdem werden hier alle Laureaten eingeladen. Als ich das erste Mal kam, wusste ich nicht viel darüber. Es war eine Physiktagung. Aber das Zuhören stellte sich als pures Vergnügen heraus. Andere Städte auf der Welt probieren es mit ähnlichen Tagungen. Lasst sie nur. Lindau hat schon mehr als 60 Jahre Erfahrung.

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