Indonesische Inseln:Trennlinie der Evolution

Vulkankrater auf der indonesischen Insel Lombok

Im Vulkankrater auf der indonesischen Insel Lombok schwimmen viele Goldfische.

(Foto: Ulet Ifansasti/Getty)

Auf seiner Expedition durch den indonesischen Archipel entdeckte der legendäre Naturforscher Alfred Russel Wallace ein Prinzip der Biologie, mit dessen Hilfe Wissenschaftler noch heute die Rätsel der Natur erkunden.

Von natur-Autor Klaus Jacob

Die Landstraße führt durch dichten tropischen Wald, in leichtem Gefälle nähert sie sich dem Meer. Es geht vorbei an einer endlosen Schlange wartender Lastwagen, viele altersschwach. Einige Fahrer stecken mit dem Oberkörper im Motorraum, einen Schraubenschlüssel in der Hand. Dann taucht die Bucht auf, links die Häuser des kleinen Touristenorts Padangbai, rechts der Kai mit der Fähre. Alle zwei Stunden legt ein Schiff zur Nachbarinsel Lombok ab, Tag und Nacht. Die Passage kostet keine zwei Euro. Auf dem Autodeck quetschen sich die Lastwagen so dicht, dass man kaum hindurchschlüpfen kann. Zwei Treppen höher sitzen die Passagiere. Fünf Stunden dauert die unspektakuläre Seefahrt, die Küsten bleiben immer in Sicht.

Das also ist die berühmte Wallace-Linie. Die Fähre überquert sie zwischen den indonesischen Inseln Bali und Lombok. Benannt ist sie nach dem englischen Naturforscher Alfred Russel Wallace, der acht Jahre lang, von 1854 bis 1862, unter abenteuerlichen Bedingungen den indonesischen Archipel bereiste, auf den Spuren einer Entdeckung, die bis heute ihre Bedeutung in der Biologie besitzt. Er hatte sich gewundert, dass auf den beiden Inseln, obwohl kaum 20 Kilometer voneinander entfernt, völlig andere Tiere lebten.

Die Zäsur war umso erstaunlicher, als sie der Geografie zu widersprechen schien. Bali und Lombok liegen innerhalb einer langgezogenen Inselkette, die von Sumatra im Westen bis Flores im Osten reicht und nur von schmalen Meerengen durchbrochen ist. Eigentlich sollte sich die Natur überall gleichen.

Australische Fauna auf der einen, asiatische Fauna auf der anderen Insel

Doch auf Bali traf Wallace Arten an, die er von Java und anderen westlichen Inseln kannte, etwa Bartvögel, Fruchtvögel und Spechte. Auch Affen und Tiger waren dort heimisch. Auf Lombok fürchtete sich dagegen niemand vor Raubkatzen. Dort lebte der Tüpfelkuskus, ein Beuteltier. Es gab Kakadus, Honigfresser und Großfußhühner. Letztlich ähnelte die Fauna von Lombok der australischen und die von Bali der asiatischen.

Wallace suchte nach einer Erklärung und dachte zunächst an Vulkanismus, der einzelne Inseln im Laufe der Erdgeschichte zusammengeschweißt oder getrennt haben könnte. Auf die richtige Idee brachte ihn eine Arbeit von George Windsor Earl. Der britische Geologe hatte erkannt, dass es zwei Landmassen gab, wenn man die untermeerischen Sockel berücksichtigte: hier der asiatische, dort der australische. Außerdem wusste man schon damals, dass der Meeresspiegel während der Eiszeiten stark geschwankt hatte.

Aus natur 10/2015

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  • natur 10/2015

    Der Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation. Mehr aktuelle Themen aus dem Heft 10/2015 auf natur.de...

Wallace musste nur noch eins und eins zusammenzählen: Während der Eiszeiten waren sämtliche Flachwassergebiete trockengefallen, denn in den gewaltigen Gletschern jener Epoche war so viel Wasser gebunden, dass der Meeresspiegel weit über 100 Meter tiefer lag als heute. Die Folge: Bali wurde mit den westlich gelegenen Inseln verbunden, mit Java und Borneo. Australien dehnte sich dagegen weit nach Westen aus - die beiden großen Landmassen wurden sichtbar. Dazwischen blieb ein Meeresarm ständig mit Wasser gefüllt, der ein kaum zu überwindendes Hindernis für die meisten Tiere darstellte: die Lombokstraße, die heute im Süden etwa 300 Meter, im Norden sogar bis zu 1000 Meter tief ist.

Seit Wallace' Expedition hat sich die Welt gründlich verändert

Partial solar eclipse in Bali

Eine teilweise Sonnenfinsternis über Bali im Jahr 2013.

(Foto: dpa)

Was heute einfach und einleuchtend klingt, musste sich Wallace hart erarbeiten, mit viel Schweiß, Ausdauer und Ideenreichtum. Seine abenteuerliche Expedition liegt zwar erst 150 Jahre zurück, doch seit dieser Zeit hat sich die Welt gründlich verändert. Damals gab es keine Autos und asphaltierte Straßen, auf dem Meer hatten Motorschiffe die Segler noch längst nicht verdrängt.

Tropenkrankheiten, argwöhnische Einheimische, primitive Unterkünfte und ein knappes Reisebudget machten Wallace zu schaffen. Sogar die Kleidung erschwerte seine Arbeit, denn legere Freizeitkluft war damals verpönt. Jeder trug die Mode seines Landes - für Engländer hieß das: "knapp anliegender Rock, Weste, Hosen, abscheulicher Hut und Krawatte", wie Wallace naserümpfend schrieb. Er beneidete offenbar die Chinesen, deren "weit herabhängende Hosen und die netten weißen Dinger, halb Hemd, halb Jacke, genau das sind, was eine Bekleidung in diesen Breitengraden sein sollte".

Eigentlich wollte Wallace die beiden relativ kleinen Inseln Bali und Lombok gar nicht besuchen. Ein Zufall führte ihn dorthin: Er saß monatelang in Singapur fest, wo damals noch Tiger die Wälder unsicher machten, und wartete auf eine Passage nach Sulawesi. Entnervt nahm er schließlich den Schoner eines chinesischen Kaufmanns, der über Bali und Lombok fuhr. Dort, so dachte er, würde er leichter eine Mitfahrgelegenheit nach Sulawesi finden. Ohne diesen Umweg "hätte ich einige der wichtigsten Entdeckungen meiner ganzen Expedition nicht gemacht", schrieb er später. Er meinte damit "seine" Linie. Auf Bali blieb er nur zwei Tage.

Ehebrecher wurden auf Lombok den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen

Das Segelschiff brauchte weitere zwei Tage, um ihn nach Lombok zu bringen. Wallace ging davon aus, hier dieselben Tierarten anzutreffen wie auf Bali oder Java - und stellte verwundert fest, in eine ganz andere Welt geraten zu sein. Nun bedauerte er, nicht länger auf Bali geblieben zu sein, um die Unterschiede besser dokumentieren zu können.

Auf Lombok verbrachte er drei Monate und machte sich - wie überall - auf die Suche nach Käfern und Vögeln, seinen Sammel- und Forschungsobjekten. Die meiste Zeit lebte er in einer winzigen Hütte im Süden, in der auch seine stinkenden Vogelbälge zum Trocknen hingen. Er wunderte sich über die drakonischen Strafen, die auf der islamischen Insel drohten, und machte einen langen Spaziergang, um nicht zusehen zu müssen, wie zwei Ehebrecher, zusammengebunden, den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen wurden.

Um Wallace' Verdienste richtig einordnen zu können, muss man sich den damaligen Wissensstand vergegenwärtigen. Die Vorstellung etwa, dass sich ganze Kontinente wie Eisschollen verschieben, entwickelte Alfred Wegener erst mehr als ein halbes Jahrhundert später. Auch dass sich Arten verändern und weiterentwickeln, dass es also eine Evolution gibt, war damals allenfalls eine Außenseitermeinung.

Wallace entwickelte unabhängig von Darwin eine Theorie der Evolution

Vielleicht profitierte Wallace davon, dass er nie studiert hatte und als Autodidakt keinen falschen Ballast mitschleppte. Er war offen für neue Ideen. So hat er, ganz nebenbei, auf Lombok das Wesen eines Tsunami beschrieben. Nach einem schwachen Erdbeben erkannte er den Zusammenhang mit einem Meeresspiegelanstieg. Er fragte Ansässige nach ähnlichen früheren Ereignissen und fand die richtige Gesetzmäßigkeit.

Vor allem aber entwickelte er, zunächst unabhängig von Charles Darwin, die Theorie der Evolution und veröffentlichte dann 1858 mit diesem zusammen den ersten Artikel zu ihrer gemeinsamen Evolutionstheorie. Evolution und Wallace-Linie gehören untrennbar zusammen, denn ohne das Wissen um die Evolution hätte Wallace die Linie nicht richtig deuten können.

Gerade auf Inseln, wie er sie besuchte, spielt die Evolution eine große Rolle. Jede Insel ist eine Welt für sich, auf der sich Tierarten nach eigenen Gesetzmäßigkeiten weiter- und auseinanderentwickeln. Wallace durfte deshalb nicht nur nach Arten suchen, die er von Java oder von Australien kannte, sondern auch nach verwandten Arten und Gattungen, also Weiterentwicklungen. In einer Fleißarbeit listete er für jede Insel des fernöstlichen Archipels die Anzahl von Vogelarten auf, die auch in Java oder Australien lebten, und solche, die mit ihnen verwandt waren.

Über die Bedeutung seiner Entdeckung war sich Wallace vollkommen klar

So erkannte er, dass der Faunenschnitt, der zwischen Bali und Lombok verläuft, nicht unüberwindlich ist, sondern dass es eine große Übergangszone gibt, in der sich die australische und die asiatische Fauna mischen. Sie reicht von "seiner" Linie im Westen bis zur "Lydekker-Linie" im Osten, die dem australischen Kontinentalschelf folgt. Die Lydekker-Linie markiert die östlichste Ausbreitung asiatischer Arten. Dort, wo sich asiatische und australische Fauna etwa die Waage halten, spricht man heute von der Weber-Linie. Die gesamte Übergangszone wird seit 1924 Wallacea genannt.

Über die Bedeutung seiner Entdeckungen war sich Wallace vollkommen klar. Der Faunenwechsel zwischen Bali und Lombok, schrieb er, sei "von so fundamentalem Charakter, dass er ein gewichtiges Charakteristikum der zoologischen Geografie des Erdballes ausmacht". Tatsächlich ist aus seinen Arbeiten inzwischen ein eigenes Fachgebiet entstanden: die Biogeografie. Sie verknüpft geografische Parameter wie Plattentektonik, Vulkanismus und Meeresströmungen mit der Evolution.

Der Zoologe Professor Matthias Glaubrecht von der Universität Hamburg ist einer der Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen. Die Wallace-Linie gehört zu seinen Forschungsgebieten, auch wenn sich ihre Bedeutung inzwischen verändert hat. Heute liefert sie vor allem Anhaltspunkte für die evolutionäre Vorgeschichte einer Gattung oder einer Gruppe von Arten. Man kann sie als Zeitmarker nutzen, denn sie ist eine erdgeschichtlich junge Linie. Das letzte Eiszeitalter, das für die Wallace-Linie entscheidend ist, begann erst vor rund 2,7 Millionen Jahren.

Heute stützt sich die Wissenschaft auf DNA-Analysen

Davor galten im indonesischen Archipel völlig andere Bedingungen. Nicht nur Meeresspiegelschwankungen, auch Plattentektonik und Vulkanismus haben die Geografie immer wieder gründlich verändert. So ist die Vulkaninsel Bali gerade drei Millionen Jahre alt. Die Linie liefert deshalb keine Aussagen für sehr frühe Wanderbewegungen. Wenn eine Gattung beiderseits der Wallace-Linie anzutreffen ist, spricht das für eine solche frühe Ausbreitung. Glaubrecht vergleicht die Wallace-Linie mit der Zonengrenze, die einst DDR und Bundesrepublik trennte. Mit ihr könne man auch nicht die Verteilung von Germanen und Slaven erklären.

Heute stehen Wissenschaftlern andere Möglichkeiten offen als Wallace, wenn es um Verwandtschaften und Ausbreitungswege geht. Sie können sich vor allem auf DNA-Analysen stützen. Aus den Unterschieden im Erbgut zweier Arten kann man rekonstruieren, wann der gemeinsame Vorfahre gelebt hat.

Nur noch wenige Forscher ziehen durch die Wildnis und sammeln Käfer

Der Zoologe Alexander Riedel vom Naturkundemuseum Karlsruhe praktiziert das Verfahren für bestimmte Gattungen von flugunfähigen kleinen Rüsselkäfern. Er fand auf Bali mehrere Käfer, die von Osten eingewandert sind, also die Wallace-Linie überschritten haben. Die Ausbreitungswege der kleinen Insekten scheinen überhaupt recht willkürlich zu sein und in alle möglichen Richtungen zu führen. Vielleicht wird man daraus einmal ablesen können, wie sich Meeresströmungen oder die Verteilung von Land und Wasser einst, lange vor dem Eiszeitalter, verändert haben.

Riedel gehört zu den wenigen Forschern, die noch - wie Wallace - durch die Wildnis ziehen und Käfer sammeln. Dabei bekommt er zu spüren, wie stark sich die Welt seitdem verändert hat. Hatte sich Wallace noch über Rodungen gefreut, weil an einem Waldrand besonders viele Käfer zu finden sind, so muss Riedel die wenigen verbliebenen ursprünglichen Waldgebiete mit der Lupe - beziehungsweise mit Google Earth - suchen. In Touristenorten wie Kuta "habe ich höchstens ein gebrauchtes Kondom im Kescher", sagt er.

Auch die Wallace-Linie selbst verändert sich und verliert an Schärfe. Vor allem, weil der Mensch in das natürliche Artenspektrum eingreift. Er sorgt nicht nur dafür, dass Tiere aussterben, er schleppt auch ortsfremde Arten ein. "Die Homogenisierung ist ein großes Problem", sagt Glaubrecht. Sie setzte schon zu Wallace' Zeiten ein. Seiner Ansicht nach war Wallace der letzte, der den Faunenschnitt zwischen Bali und Lombok noch in seiner vollen Ausprägung erleben und mit seiner Forschung einen entscheidenden Beitrag zur Biologie leisten konnte.

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