Immigration und Integration:Opfer der Angst

Viele Immigranten in Deutschland fühlen sich in ihrer Identität bedroht. Sie klammern sich an Tradition und Religion. Das Buch der Kurdin Nourig Apfeld über den Mord an ihrer Schwester ist ein Plädoyer für Integration und Verständnis.

Markus C. Schulte von Drach

"Es war mir kaum möglich, mich ihm (dem Vater) zu nähern, so ungeheurlich stand das Verbrechen zwischen uns und ich fragte nur: 'Wie konntest du das tun?' Wie entschuldigend antwortete er: 'Ich konnte nicht anders. Zum Glück hat Waffa geschlafen und nichts davon mitbekommen.'"

Buchvorstellung Nourig Apfeld

Nourig Apfeld und der Schriftsteller Günter Wallraff stellen in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin Apfelds Buch vor: "Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester". Wallraff hat das Vorwort für das Buch verfasst.

(Foto: dpa)

Vielleicht ist es gerade die einfache prosaische Form, in der Nourig Apfeld von ihrem Schicksal erzählt, die ihr Buch Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester so eindrucksvoll macht. Alle Dramatik liegt im Geschehen selbst, nichts wird besonders hervorgehoben. Auf keiner Seite kommt das Gefühl auf, man hätte es mit Fiktion zu tun. Selbst den Mord an ihrer 17-jährigen Schwester handelt sie in wenigen fast hilflos wirkenden Sätzen ab - so hilflos wie die Protagonisten dieses Verbrechens selbst sind.

Hilflosigkeit prägt das ganze Leben ihrer Familie von dem Augenblick an, da der Vater 1979 aus Aleppo in Syrien nach Deutschland flieht. Der Landwirt hat sich als Angehöriger der kurdischen Minderheit der Enteignung der Familie durch die regierende Baath-Partei widersetzt und wurde gefoltert. Seine Frau und die zwei Töchter Nourig, sieben Jahre alt, und die dreijährige Waffa folgen ihm nach Bonn-Bad Godesberg, in der Hoffnung auf Asyl. Herausgerissen aus dem Clan, in ein fremdes Leben in einem fremden Land geworfen, kommt es zu einer Entwicklung, die sich unter Einwanderern in ähnlicher Form wohl tausendfach ereignet hat und noch immer ereignet - wenn auch selten mit tödlichen Folgen.

Angesichts der befremdlichen Umwelt, dem unverständlichen, irritierenden Verhalten der Deutschen klammern sich die Eltern an das, was sie kennen: ihre Kultur, ihre Traditionen, ihre Religion.

"Als sie [die Mutter] mit dieser Welt konfrontiert war, schien ihr nur noch das, was sie zu Hause in Syrien an Werten gelernt hatte, Halt zu geben", schreibt Apfeld. Die Mutter war überzeugt, "dass keine Frau aus unserem Kulturkreis sich dem westlichen Lebensstil anpassen darf. Sonst würde sie ihren ehrbaren Ruf verlieren, der Großfamilie im Herkunftsland schaden und würde irgendwann verstoßen werden." Schon die wenigen Landsleute, mit denen die Eltern in Deutschland Kontakt haben, fungieren als gesellschaftliche Kontrolle.

Der Vater arbeitet in einer Metallfabrik und bemüht sich ein Stück weit um Anpassung. Deutsch lernt er jedoch kaum. Und auch die Mutter zieht sich aus einem Sprachkurs schnell wieder zurück, abgeschreckt von der "unsittlichen Aufmachung" und dem "unziemlichen Verhalten" der anderen Frauen. Und während die Töchter über Kindergarten und Schule beginnen, langsam, mühevoll und fasziniert den Weg in die deutsche Gesellschaft hineinzufinden, ist genau diese Entwicklung für die Mutter unerträglich.

"Angst, den letzten Halt zu verlieren"

"Sie hatte Angst, ihren letzten Halt, ihre Familie in Syrien, zu verlieren und gänzlich dem 'feindlichen Westen' mit all seinen vielen 'Bedrohungen' ausgeliefert zu sein." Als wollte sie ihre winzige Wohnung verzweifelt als eine kurdische Diaspora erhalten, bestraft sie ihre Kinder für alle Verhaltensweisen, die vom Familienverband in Syrien nicht akzeptiert würden. Je stärker die Töchter sich an Deutschland anzupassen versuchen, desto härter kämpft die Mutter dagegen an, will den Mädchen Kopftücher aufzwingen, sperrt sie ein, prügelt sie, lässt den Vater zuschlagen. Und wird über den Kampf um ihre Identität psychisch krank.

Dem Gefühl der Bedrohung durch Ausländer, das viele Deutsche empfinden, steht bei Apfelds Eltern ein Gefühl der Bedrohung durch die Deutschen gegenüber. Tatsächlich tendieren Menschen dazu, sich in Gruppen zusammenzufinden, in denen sie sich gut aufgehoben fühlen. Und das ist normalerweise der Fall, wenn Ähnlichkeiten vorhanden sind: in den Traditionen, in politischen oder religiösen Überzeugungen, oder im Aussehen, wie Soziologen und Soziobiologen wissen. Das bedeutet zugleich eine Abgrenzung gegenüber anderen Menschen oder Gruppen. Und je größer die Gruppen der Einwanderer sind, die ihre Herkunft betonen, umso größer wird das Unbehagen unter den Einheimischen.

Der Weg in die Katastrophe

Was Apfeld von den Überzeugungen berichtet, an denen ihre Mutter mit Gewalt festhält, wirft ein Bild auf diese orientalische Gesellschaft, das ein Deutscher kaum beschreiben dürfte, ohne als fremdenfeindlich kritisiert zu werden. "Galt denn eine Frau ohne Kopftuch gleich als Freiwild für alle muslimischen Männer?", fragt sich Apfeld, als ihre Mutter sie zwingen will, ihre Haare zu bedecken. "Offensichtlich wird den Frauen die Verantwortung dafür zugeschoben, wenn die Männer ihre Triebe nicht beherrschen können und eine Begegnung mit der Weiblichkeit nicht ertragen."

Bonner Ehrenmordprozess

Der Hauptangeklagte Ali H. (rechts) und der Nebenangeklagte Ramadan H. während der Urteilsverkündung im sogenannten "Ehrenmordprozess" am Bonner Landgericht. Der Vater des Opfers hatte gestanden, seine Tochter umgebracht zu haben und wurde zu acht Jahren Haft verurteilt - nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags. Sein Neffe, von Nourig Apfeld schwer beschuldigt, wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen und erhielt Haftentschädigung.

(Foto: ddp)

Und wenn sie schwanger sind, "fühlen sie sich selten wohl in ihrer Haut, zumal sie ständig unter Druck stehen, einen Stammhalter zu gebären, damit sie ihren Brautpreis wert sind. Wenn sie bei dieser Pflicht versagen, ist es möglich, dass sie verstoßen werden und der Ehemann sich eine neue Braut zulegt." Ein Klischee scheint Apfeld an das nächste zu reihen, und man wäre geneigt, zu hoffen, dass das doch alles so schlimm nicht sein kann. Aber die Tatsachen lassen sich nicht leugnen - etwa die Morde an Nourig Apfelds Schwester und einer Reihe weiterer Frauen und auch Männer. Nur wenn man die Hintergründe berücksichtigt, kann man versuchen zu verstehen, wie es zu diesen Morden kommt - Verbrechen, die als Ehrenmorde bezeichnet werden, aber mit Ehre nichts zu tun haben.

Verschleppt und vergewaltigt

Wie kann ein Mann wie Apfelds Vater, der seine Töchter - entgegen dem Willen der Mutter - nie unter ein Kopftuch zwang und ihnen westliche Kleidung und Kontakte zu Deutschen erlaubte, so unter den Druck der Mitglieder seines Clans geraten, dass er sich am Mord an seiner Tochter beteiligt? Der Fall demonstriert eindringlich, wie stark die kulturellen Hintergründe auch fern der Heimat wirken können. Nourig Apfeld, die älteste Tochter, hält die Situation schicksalsergeben aus und akzeptiert die Forderungen der Eltern. Nicht so ihre jüngere Schwester Waffa, die Syrien mit drei Jahren verlassen hat. Als Teenager reißt sie aus, aus Angst vor einer Zwangsverheiratung. Sie kommt zurück, reißt wieder aus - und wird schließlich vom Vater überredet, mit ihm Urlaub zu machen. Doch die Reise geht in die Türkei, wo Waffa in die Obhut von Verwandten gegeben wird.

Gerade wenn Nourig Apfeld schildert, was ihre Schwester dort erwartete, wünscht man sich einmal mehr, sie würde sich von ihrem dokumentarischen Ton lösen und Emotionen vermitteln, Wut und Verzweiflung. Doch sie lässt die Fakten sprechen. Und die Fakten sprechen für sich.

"Jahre später fand ich beim Studium der Prozessakten [...] heraus, dass sie ständigen Vergewaltigungen durch die männlichen Familienmitglieder ausgesetzt gewesen war, [...]," schreibt Apfeld. "Wussten meine Eltern davon? Und wenn ja: Warum hatten sie nichts dagegen unternommen? Hatten sie uns nicht selbst über die Denk- und Handlungsweise von Männern in der orientalischen Welt aufgeklärt? Wie konnten sie dieser fernen Verwandtschaft ihre Tochter anvertrauen, wenn sie uns doch sogar vor unseren eigenen Cousins schützten? Wie absurd erscheint diese 'Kultur', wenn diese so 'ehrenwerten' Männer sich so unmenschlich verhalten und eine Schutzbefohlene sexuell missbrauchen?"

Auch in der Türkei flieht die fünfzehnjährige Waffa, verliebt sich, wird schwanger und heiratet. Um ihr Kind in Deutschland zur Welt zu bringen, kehrt sie zurück zu ihren Eltern. Doch nach der Geburt geht sie nicht wieder in die Türkei. Mal wohnt sie zu Hause, dann wieder bei Freunden oder in Heimen. Von den Behörden völlig im Stich gelassen, muss sie sich irgendwie durchschlagen. Für den Vater - die Mutter ist wenige Wochen nach Waffas Rückkehr während einer Operation gestorben - wird die Situation schließlich unerträglich, zumal er inzwischen unter dem Einfluss eines Neffen steht, der ihn beständig an die religiösen Pflichten und traditionellen Werte erinnert. Schließlich wird der Vater "zum ärgsten Feind von Waffa [...]. Er wollte die Familienehre wiederherstellen, egal zu welchem Preis."

Der Preis ist das Leben der Tochter. Gemeinsam mit zwei Neffen - und offenbar von diesen angestachelt - stranguliert der Vater die eigene Tochter. Nourig Apfeld wird von den Mördern gezwungen, das Ende des Seils in die Hand zu nehmen, mit dem ihre Schwester erdrosselt wurde, und das noch um den Hals der Toten liegt. Symbolisch muss sie sich so an der Tat beteiligen. Und dann folgt die Warnung, nur ja zu schweigen über alles.

Moralische Skrupel dem Mörder gegenüber

Das Erschütterndste an Apfelds Geschichte - neben dem Mord selbst: Die Tochter ist nicht in der Lage, das Verbrechen anzuzeigen. Sie ist zerrissen zwischen dem Entsetzen über die Tat einerseits und ihren "moralischen Skrupeln ihrem Vater gegenüber" sowie der Sorge um ihre Familie andererseits. So stark verinnerlicht hat die junge Frau die Wertvorstellungen ihrer Eltern und der Kultur, aus der sie stammt, dass sie schweigt. Und sie hat Angst vor der Rache der Täter und deren Angehörigen.

Fast elf Jahre vergehen, bis ihr gegenüber der Polizei - man fasst es kaum - versehentlich herausrutscht, dass ihre Schwester einem Mord zum Opfer gefallen ist. Doch die Fesseln der Vergangenheit lassen sie weiterhin nicht los - sie verweigert der Mordkommission, die sich des Falls annehmen möchte, jegliche Hilfe. Noch immer sieht sie in ihrem Vater den aufopferungsvollen Menschen, der selbst an dem Verbrechen zerbrochen ist, in das ihn sein Neffe gedrängt hat.

Erst als die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ankündigt, in die sie unweigerlich hineingezogen werden wird, sieht sie sich gezwungen, auszusagen. Es folgt ein langer, innerer Kampf, bis sie endlich die Kraft entwickelt, nicht mehr vor ihren "grausamen Erfahrungen" zu fliehen. Erst als sie sich ihnen stellt, beginnen diese "die Macht über mich zu verlieren". Sie wehrt sich gegen die unglaublichen Zumutungen eines völlig unzureichenden Zeugenschutzprogrammes und beschließt am Ende sogar, unter ihrem wahren Namen weiterzuleben und ein Psychologiestudium zu beginnen.

Vom Nebeneinander zum Miteinander

Was Apfeld am Ende ihres Buches als persönliche Meinung äußert, muss ernst genommen werden. "Das überholte, archaische, menschenfeindliche System, das ich erleben musste und das wie mit einer Zeitmaschine in einem aufgeklärten Europa angekommen ist, darf weder akzeptiert werden, noch darf sich ihm irgendjemand unterwerfen. Die islamisch-traditionell-archaische Werteordnung dieses Systems ist auf einer Herrschaft von Angst, Unterwerfung und immer wieder auch Terror errichtet." Und das, so Apfeld, gelte nicht nur für eine einzelne Familie und Familienmitglieder.

Doch wie lässt sich der Konflikt lösen zwischen jenen, die sich in der Fremde voller Unsicherheit und Angst an ihre Sprache, Traditionen, Normen und Werte klammern, die bei den Einheimischen Befremden und Angst auslösen? Die hierzu notwendige Grundlage ist Verstehen und Verständnis auf beiden Seiten (was nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit Toleranz oder Akzeptanz). Dazu aber ist eine gemeinsame Sprache notwendig.

Zu Recht fordert Apfeld deshalb für alle Einwanderer die Pflicht zum Deutsch-, Kultur-, Aufklärungs- und Erziehungsunterricht. Wenn überhaupt lassen sich nur so Ausländer- und Inländerfeindlichkeit bekämpfen. Wer in Deutschland leben will, muss die Minimalanforderungen akzeptieren, die bereits das Grundgesetz festlegt: Grundwerte wie Menschenrechte und das Recht auf individuelle Persönlichkeit und Würde stehen nicht zur Diskussion. Auch nicht innerhalb von Familien, zwischen Eltern und ihren Kindern. Das gilt auch für Einwanderer, die in Deutschland nur vorübergehend Schutz suchen.

Man kann seine Heimat nicht mit sich mitschleppen und von bestehenden Gesellschaften erwarten, sich darauf einzustellen. Je stärker Gruppen sich in einer fremden Umgebung an identitätsstiftende Merkmale klammern, um so stärker reagiert auch diese Umgebung mit Abgrenzung und der Besinnung auf entsprechende Merkmale. Man denke nur an die Diskussion um die Leitkultur und die Betonung selbstverständlicher Prinzipien, die plötzlich als Werte der christlich-abendländischen Kultur herausgestellt werden.

Je mehr Gemeinsamkeiten und verbindende Interessen dagegen gefunden und herausgestellt werden, umso friedlicher ist das Nebeneinander und um so eher wird es zu einem Miteinander. Kulturen sind dynamische Gebilde, und Einwanderer haben ihnen immer schon ihren Stempel aufgeprägt. Doch das ist (außer nach Eroberungskriegen) ein langsamer Prozess, in dem die "Fremden" ihre Andersartigkeit nur bis zu einem von der bereits bestehenden Gesellschaft akzeptablen Grad ausleben. Deutliche Demonstrationen, dass man zu einer Minderheit gehört, sind kontraproduktiv - seien es religiöse Merkmale oder kulturelle. Zu solchen Demonstrationen gehört das muslimische Kopftuch genauso wie das Beharren auf der eigenen Muttersprache in der Öffentlichkeit.

Kopftuch oder Gleichberechtigung

Wer zum Beispiel das individuelle Recht jeder Frau auf das Tragen eines Kopftuchs verteidigen möchte, sollte dies berücksichtigen - gerade in diesen Tagen, wo ein anderes Buch für eine erhitzte Debatte sorgt. "Für mich signalisiert das Kopftuch ein Zeichen persönlicher Unfreiheit", schreibt Apfeld. "Das Kopftuch versinnbildlicht für mich eine uniformierte Gesellschaft von Muslimen, die die Gleichberechtigung der Frauen ablehnt und sich mit diesem Zeichen bewusst von der schon realisierten oder noch zu erkämpfenden Gleichberechtigung in der westlichen Welt abheben möchte."

So geht es nicht nur Nourig Apfeld. Es ist deshalb kein Wunder, das viele, selbst tolerante Menschen sich unbehaglich fühlen, wenn sie einer noch so selbstbewusst auftretenden Muslima mit Kopftuch begegnen. Wenn sie "männlichen Übergriffen, der Anmache, den unverschämten Blicken und Gesten" begegnen will, muss sie sich nicht fragen, welche Männer das eigentlich sind, an die sie da denkt?

Frieden mit ihrem Vater, dem Mörder ihrer Schwester, wünscht sich Apfeld am Ende. Sie hofft, dass sie sich einander vergeben können - sie ihm das Verbrechen, er ihr den Hochverrat. Der Leser aber wünscht sich, der Vater sollte begreifen, dass da kein Verrat ist.

Wenn jemand die Ehre ihrer Familie gerettet hat, dann war es Nourig Apfeld mit diesem Buch.

Nourig Apfeld: Ich bin Zeugin des Ehrenmords an meiner Schwester

Verlag Wunderlich, Reinbek, Hardcover, 288 S., 19,95 €, ISBN-13: 978-3-8052-5013-9

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