"Hyperkrankheiten":Mörder im Fell

Gibt es aggressive "Hyperkrankheiten", die in kurzer Zeit ganze Tierarten ausrotten? Das Ende der Weihnachtsinsel-Ratten deutet darauf hin.

Christina Berndt

Das große Sterben begann 1899. Bis dahin hatten zwei ganz besondere Arten von Ratten die Weihnachtsinsel im Indischen Ozean bevölkert, die heute vor allem für ihre 120 Millionen Krabben bekannt ist.

Jedes Jahr im November, wenn die Tiere vom Wald zum Meer laufen, um ihre Eier abzulegen, bilden sie einen riesigen Teppich aus krebsroten Panzern. So gewaltig vermehren konnten sich die Krebse vermutlich nur, weil vor mehr als hundert Jahren die Ratten starben. Seither haben die Krabben kaum noch Konkurrenz auf dem zu Australien gehörenden Eiland.

Aber wo sind die Ratten geblieben? Sie verschwanden binnen weniger Jahre, dezimiert von tausenden Tieren auf eine glatte Null. Offenbar hat eine "Hyperkrankheit" sie dahingerafft, folgern Biologen nun aus Gen-Analysen (PLoS One, 5. November).

Die Ratten seien keineswegs Opfer gewöhnlicher Evolutionsprozesse geworden, betonen Alex Greenwood und Ross MacPhee vom American Museum of Natural History. Dazu sei alles viel zu schnell gegangen. Vielmehr muss ihnen eine mächtige, rätselhafte Krankheit den Garaus gemacht haben.

Die Forscher feiern ihre Entdeckung als Beleg dafür, dass es auch unter Säugetieren Hyperkrankheiten gibt. "Diese Studie bringt Krankheitserreger als Vermittler des Aussterbens ins Spiel", sagt Greenwood. Was bisher lediglich von Schlangen und Amphibien bekannt war, sei nun erstmals für Säuger gezeigt.

Doch dem mögen viele Evolutionsbiologen nicht so recht trauen. Eine Krankheit, die so aggressiv ist, dass sie ihre Opfer ausrottet, würde sich selbst vernichten, lautet das gängige Gegenargument. Deshalb befinden sich Aggressivität und Ansteckungsgefahr immer im Gleichgewicht.

"Es ist nicht wirklich sinnvoll, dass eine Krankheit superaggressiv ist", sagt Douglas Woodhams, der am Zoologischen Institut der Universität Zürich an der Pilzkrankheit Chytridiomykose forscht, welche für das weltweite Amphibiensterben mitverantwortlich sein soll. Das Ebola-Fieber zum Beispiel gilt als eine der aggressivsten Infektionskrankheiten; die Opfer sterben schnell. "Aber wenn der Wirt tot ist, hat das Virus niemanden mehr, den es anstecken kann", sagt Woodhams. "Deshalb sind die Ebola-Ausbrüche selbstlimitierend."

Eben das galt für die Ratten-Krankheit auf der Weihnachtsinsel offenbar nicht. Den Nagern ging es gut, solange kein Mensch das Eiland betreten hatte. Dann aber kamen die Europäer - und mit ihnen ein gefährlicher Parasit. Genauer gesagt brachte die S. S. Hindustan im Jahr 1899 mit Vorräten auch Hausratten auf die Insel. Die Tiere hatten Flöhe und die wiederum einen Parasiten namens Trypanosoma lewisi. Den europäischen Ratten machte die Fracht in ihrem Fell offenbar nichts aus, wohl aber ihren Verwandten auf der Weihnachtsinsel.

Bald schon fanden Beobachter die heimischen Tiere taumelnd am Wegesrand; 1902 konnte ein Kompaniearzt kein einziges gesundes Tier mehr identifizieren; 1903 galt die Art als ausgestorben; und 1908 konnte eine Suchaktion keine einzige einheimische Ratte auftreiben.

Studie an Museums-Ratten

Die Vermutung, dass die Parasiten Mitverursacher waren, besteht schon länger. Doch Gegner der Hyperkrankheits-Hypothese mochten ihnen nicht die alleinige Schuld geben. Sie glaubten eher daran, dass der Wettkampf zwischen alten und neuen Ratten eine Rolle spielte oder dass sich die Arten zu einer neuen Art vermischt hätten. Doch beiden Erklärungsversuchen stehen nun die neuen Daten entgegen. Und die dritte Theorie, wonach der Mensch die Ratten bis zur Ausrottung gejagt habe, schmettert MacPhee ab: "Ich glaube nicht, dass irgendjemand so hungrig war."

Das Team vom American Museum of Natural History nutzte seinen Zugang zur musealen Ratten-Sammlung. Die Biologen untersuchten 21 Ausstellungs-Ratten auf Trypanosomen. Drei der toten Tiere waren schon vor dem Kontakt mit den europäischen Hausratten im Museum gelandet; von ihnen hatte keine Trypanosomen. Dafür aber sechs der 18 Ratten, die die Invasion der europäischen Konkurrenz erlebt hatten. Das sei eine auffällig hohe Zahl, finden Greenwood und MacPhee.

Außerdem hätten sie keinen Hinweis auf eine Vermischung der Arten entdeckt. Für MacPhee steht nun fest: "Binnen neun Jahren wurde die weit verbreitete Art offenbar vollständig durch eine eingeschleppte Krankheit ausgeknockt. Es gab nichts anderes, was diesen Job hätte erledigen können."

Womöglich spielt sich soeben gar nicht weit von der Weihnachtsinsel entfernt wieder Ähnliches ab. Dort kämpft der Tasmanische Teufel ums Überleben. Die Säugetiere leiden an einem ungewöhnlichen, ansteckenden Krebs, den sie bei Biss-Attacken untereinander verbreiten. Um ein Viertel wurden die Tasmanischen Teufel seit 1996 dezimiert. Manche Biologen sagen das Aussterben der Art vorher.

Die Menschen sollten nicht nur über Luft- und Wasserverschmutzung nachdenken, fordert Alex Greenwood daher, sondern auch "über Pathogen-Verschmutzung". Er meint damit das Einschleppen von Krankheitserregern in neue Umgebungen.

Eine solche Verschmutzung setzt derzeit nun ausgerechnet auch den Weihnachtsinsel-Krabben zu, deren Siegeszug vermutlich einst durch die eingeschleppte Ratten-Krankheit möglich wurde. Seit den 1990er-Jahren haben die Krebstiere einen neuen Feind: Es ist die weltweit gefürchtete Gelbe Spinnerameise, die vermutlich aus Afrika stammt und auf der Weihnachtsinsel bereits Superkolonien mit Zehntausenden von Tieren gebildet hat. Mit ihrem Gift verätzt sie die Augen der Krabben. Blinde Krabben sterben hilflos nach wenigen Tagen. Zehn bis 20 Millionen Opfer sollen es schon sein.

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