Hyperaktivität:Lieblingsdiagnose: Zappelphilipp

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ADHS - kaum eine Krankheit ist so geeignet, Vorurteile und Weltbilder zu pflegen. Zu gern vermuten überforderte Eltern und Ärzte eine krankhafte Hyperaktivität.

W. Bartens

Wer weiß, ob jemand wie Sven Ottke heute Boxweltmeister werden könnte. Ein Talent wie der ehemalige Champion im Mittelgewicht würde womöglich als Jugendlicher mit Medikamenten in seinem Bewegungsdrang gebremst. "In der Schule habe ich oft Mist gebaut und mich gehauen, aber auch auf dem Sportplatz, auf dem Fußballplatz - eigentlich überall", sagte Ottke 2002 dem SZ-Magazin. "Ich hatte einfach zu viel Energie. Hyperaktiv nennt man das heute." Impulsive Reaktionen sind selten gefragt. Zumeist ist bedachte Problemlösung erwünscht. Nur Sportler, Showmaster oder sogenannte Kreative haben Vorteile, wenn sie sprunghaft und hyperaktiv sind.

(Foto: Foto: ddp)

Es gibt kaum eine Erkrankung, die in und außerhalb der Fachwelt so umstritten ist wie ADHS - die Abkürzung steht für Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität. In jüngster Zeit hat ein Streit um Todesfälle durch das Medikament Strattera (Atomoxetin) das Leiden erneut in den Blickpunkt gerückt. Doch unabhängig davon, ob in Deutschland vier Kinder an den Folgen der Therapie mit Strattera gestorben sind, wie ein Fernsehsender behauptet, oder ein Kind, wie das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte belegt, ist kaum eine Krankheit so geeignet, Vorurteile und Weltbilder zu pflegen. Gesellschaftskritik, Medienschelte, Vorwürfe gegen die Pharmaindustrie und Unbehagen am Erziehungsstil mancher Eltern vermischen sich in der Bewertung des Leidens.

"ADHS ist eine argumentative Missbrauchsplattform", sagt Florian Heinen, Leiter der Kinderneurologie am Haunerschen Kinderspital der Universität München. "Jeder instrumentalisiert das Leiden für seine Interessen." Lehrer, Ärzte und Psychologen fordern mehr Stellen, Eltern mehr Entlastung, Pharmafirmen wollen mehr Medikamente verkaufen. "Dabei waren immer schon bis zu fünf Prozent der Kinder hyperaktiv", so Heinen. "Weil sich die Kinder aber in einem immer engeren Leistungskorridor bewegen, werden auch viele von ihnen behandelt, die nicht krank sind, sondern sich nur besonders verhalten."

Pillen für den Zappelphilipp

Aus diesem Grund ist die medikamentöse Therapie in den vergangenen Jahren sprunghaft gestiegen - Pillen für den Zappelphilipp. 1990 wurden 300000 Tagesdosen des ADHS-Mittels Ritalin deutschlandweit verschrieben. Das Medikament hat mit 90 Prozent den größten Anteil an der Arzneimittel-Therapie des Leidens. Im Jahr 2007 waren es 45 Millionen tägliche Dosierungen - eine 150-fache Steigerung. Von 500000 ADHS-Diagnosen ist in Deutschland die Rede. "Etwa die Hälfte dieser Diagnosen ist wohl nicht belegt", sagt Arzneimittelexperte Gerd Glaeske von der Universität Bremen.

Nach Studien des Robert-Koch-Instituts leiden 4,8 Prozent aller Kinder an ADHS. Bei ähnlich vielen liegt ein Verdacht vor. Das würde bedeuten, dass ein bis zwei Kinder in jeder Klasse an dem Zappelphilipp-Syndrom leiden. Am häufigsten sind die Beschwerden im Grundschulalter, jener Zeit, in der erstmals stärkere Leistungsanforderungen an Kinder gestellt werden. Auch Jugendliche sind vom ADHS betroffen, Jungen etwa viermal häufiger als Mädchen.

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Auch wenn ein Kind ADHS hat, heißt das noch nicht, dass es immer Medikamente braucht. Franz Joseph Freisleder ist Ärztlicher Direktor der größten Kinder- und Jugendpsychiatrie Deutschlands, den Heckscher-Kliniken in München. Etwa die Hälfte der mit ADHS diagnostizierten Kinder könnten von Medikamenten profitieren, schätzt er. "Ich bin zurückhaltend mit Medikamenten, aber in manchen Fällen sind sie hilfreich", sagt der Arzt. "Wenn ich Psychopharmaka verordne, muss ich die Kinder aber besonders sorgfältig im Blick haben und auf psychische Auswirkungen achten."

Therapeutischer Dreischritt

Kein vernünftiger Arzt setzt nur auf Medikamente. Empfohlen wird mindestens ein therapeutischer Dreischritt. "Es bringt nichts, nur den Ritalin-Spender aufzuhängen", sagt Kinderarzt Heinen. Feste pädagogische Strukturen im Alltag - regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten, klare Ansprachen - gehören genauso zur Behandlung wie psychotherapeutische Verfahren und in einigen Fällen eben auch Medikamente.

Vorverurteilungen von Eltern, die ihren Kindern Ritalin geben, helfen nicht weiter. "Diese Diskriminierung ist ärgerlich", sagt Heinen. "Es gibt Fälle, in denen Kinder sich viel bewegen, liebevoll in der Familie aufgehoben sind, kaum vor Fernseher und Computer hocken und trotzdem nur mit Hilfe von Medikamenten ihren Alltag geregelt kriegen."

Manchmal kommt die Diagnose ADHS aber auch eher den Bedürfnissen der Eltern, Psychologen, Ärzte und Erzieher entgegen und nicht den Kindern. Wenn endlich eine medizinische Erklärung für auffälliges Verhalten gefunden wird, und sich alle darauf geeinigt haben, dass das Kind krank ist, sind andere Beteiligte entlastet. Familiäre oder schulische Konflikte bleiben dann unbenannt. Und Ärzte müssen nicht mühsam das soziale Geflecht entwirren, in das ein Kind möglicherweise verstrickt ist. "Manchmal haben Eltern eine vorgefasste Meinung und man spürt, dass sie nur ein Rezept erwarten", sagt Freisleder.

Wurzeln in der Gesellschaft

Es gibt Hinweise auf psychosoziale Ursachen des Leidens. Stress verschlimmert die Beschwerden. Bei Kindern aus Unterschichtfamilien und von Alleinerziehenden wird häufiger ADHS diagnostiziert. In Migrantenfamilien ist das Leiden hingegen seltener. "Womöglich besteht hier mehr Toleranz gegenüber wild tobenden Kindern", sagt Gerd Glaeske. "Da das Problem aber nicht nur medizinische, sondern auch gesellschaftliche und schichtenspezifische Wurzeln hat, ist es umso problematischer, gleich und allein zum Medikament zu greifen."

Wo sollen denn die Kinder hin, die nicht dem derzeitigen Anforderungsprofil genügen, fragt Entwicklungsexperte Heinen: "Die Umwelt ist nicht kinderfreundlich, die Zeittaktung der Eltern wird immer enger und der pädagogische Spielraum in Zeiten von Pisa immer kleiner." Kindern mehr Zeit, mehr Sport, mehr Lehrer und mehr Zuwendung zu gönnen, dafür gebe es keine Ressourcen. "Die Pharmaindustrie kümmert sich auf ihre Weise um eine Lösung - und das wird als Weg des geringsten Widerstandes von vielen Seiten angenommen." Dass Pharmafirmen dazu Selbsthilfegruppen und Ärzte finanzieren und anwerben (Branchenspott: "Mietmäuler") ist ein ebenso hartnäckiges wie altes Problem auf dem Arzneimittelmarkt.

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Das Syndrom ist mittlerweile sogar so populär, dass es vermehrt Erwachsenen zugeschrieben wird. Bill Clinton soll davon betroffen gewesen sein. Betrachtet man die Diagnosekriterien ("unterbricht andere", "kann nur schwer warten, bis er an der Reihe ist", "ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich"), fragt man sich jedoch, wer nicht dafür in Frage kommt.

Der Hype um die Krankheit

Die Konjunktur von ADHS erinnert an andere Krankheitswellen, die medizinische Grundlagen hatten, aber eben auch gut in den Zeitgeist passten. Die Hysterie entwickelte sich Ende des 19.Jahrhunderts zu einer Epidemie unter Frauen. Die Betroffenen weckten mit obszönen Körperverrenkungen sexuelle Assoziationen. Die Hysterie wurde daraufhin einseitig als Krankheit der Gebärmutter gedeutet. Dadurch blieben tiefere psychische Ursachen lange im Verborgenen, aber die Erkrankung wurde anerkannt. Im Ersten Weltkrieg entwickelten manche traumatisierte Soldaten ein starkes Zittern. Weil diese Beschwerden weder von Ärzten noch Laien akzeptiert wurden, wurden die Leidenden als Simulanten abgetan. Anders verhielt es sich bei traumatisierten Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Sie bekamen Magengeschwüre, ihre Beschwerden wurden anerkannt - in manchen Berichten war sogar von "Ulkus-Kompanien" die Rede.

Und heute? Viele Eltern sind um ihren Nachwuchs besonders besorgt. Die späte Entscheidung für ein Kind, das in die Familien- und Berufsplanung passen muss, lässt oft eine enorme Anspruchshaltung entstehen. Viele Eltern haben Angst, die Fähigkeiten der Kinder nicht genügend zu fördern. Das hat Folgen: Klassische Musik für Babys im Mutterleib. Kaum ein Säugling, der auf seiner Krabbeldecke mit sich allein gelassen wird. Gestelle mit Rasseln und Figuren über ihm sollen die Sinne schärfen. Eltern, die ihr Kind mit bewusst gesetzten Reizen "gezielt gefördert" haben, klagen später oft über die Reizüberflutung durch die Gesellschaft - besonders die Medien.

Henne oder Ei?

Mittlerweile gibt es Hinweise auf körperliche Anomalien bei Kindern mit ADHS - aber keine Beweise für eine Ursache. Bei manchen Kindern wurde eine Störung der Impulskontrolle, das heißt der Steuerung von Bewegungen, festgestellt. Hirnregionen können bei ADHS-Kindern anders gestaltet sein, Unterschiede in den elektrischen Hirnströmen wurden festgestellt, die Durchblutung mancher Hirnareale ist verändert - ebenso wie die Konzentration des Überträgerstoffs Dopamin. "Biologie, Genetik, Umwelt, alles spielt eine Rolle", sagt Heinen. "Die Frage, was Henne und was Ei ist, bleibt aber vorerst ungeklärt."

Die Diagnose richtet sich daher hauptsächlich nach dem Verhalten der Kinder - ob sie "häufig Einzelheiten nicht beachten", "häufig nicht zuhören" oder "sich oft durch äußere Reize ablenken" lassen. Die Bewertung ist damit von Sorgfalt der Untersucher abhängig.Hier gibt es Verbesserungsbedarf, dennder Großteil der Verordnungen stammt nicht von geschulten Kinderpsychiatern, sondern von Haus- und Kinderärzten - manchmal sogar von Zahnärzten.

"Viele Kinder mit der Diagnose haben kein Aufmerksamkeitsdefizit - ihre Aufmerksamkeit ist nur nicht da ist, wo Eltern oder Lehrer sie gerne hätten", sagte ein Arzt für Familientherapie in einem Vortrag. Er bekam Anrufe empörter Eltern. Sie entrüsteten sich darüber, dass ihren Kindern die Diagnose streitig gemacht wurde.

© SZ vom 13.12.2008/agfa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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