Handschrift:Stiftlose Kultur

Die Handschrift droht aus dem Alltag zu verschwinden, moderne Medien machen sie beinahe überflüssig. Ein bedeutender Verlust? Für den Schriftsteller Burkhard Spinnen gibt es mehr als nur eine Antwort.

Burkhard Spinnen, Jahrgang 1956, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Münster. Er ist promovierter Literaturwissenschaftler. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Mehrkampf" (2007).

SMS, dpa

Handgeschriebene Briefe? Moderne Kommunikation, wie das Schreiben von Kurzmitteilungen vom Handy, machen diese überflüssig.

Es heißt, Kunst und Praxis des Schreibens mit der Hand seien im Schwinden begriffen. Wahrscheinlich stimmt das. Wir erleben immer neue Möglichkeiten einer nichthandschriftlichen Kommunikation: E-Mail, SMS, vom Telefonieren ganz zu schweigen.

Natürlich würde ich es zutiefst bedauern, sollte demnächst gar nicht mehr mit der Hand geschrieben werden. Doch ich will nicht den üblichen Reflex der Kulturkritik zeigen, über jedes Verschwinden von Althergebrachtem lautstark zu trauern.

Ich möchte vielmehr, bevor ich zu trauern beginne, einmal nachfragen: Was werden wir verlieren, wenn uns die Handschrift fehlt? Ich gebe zwei einander widersprechende Antworten.

Wir gewinnen Lesbarkeit

Erstens: Wir verlieren gar nichts, wir gewinnen nur, und zwar Lesbarkeit. Das Kommunikationsmittel Handschrift funktioniert nämlich nur, wenn die Schreiber ihre Eigenheiten zügeln und die Leser in der Lage sind, eine gewisse Bandbreite von Varianten entziffern zu können. Dazu bedarf es der Anleitung zu einer kompatiblen Handschrift und überdies der täglichen Praxis der Lektüre.

Beides aber ging nicht erst im Zuge der Digitalisierung verloren. Seitdem die Schreibmaschine existiert, gibt es das demokratische Ideal der variantenfreien und leicht lesbaren Schrift im Alltag. Zwar lernen Kinder immer noch mit der Hand zu schreiben, doch ihre aktuelle schriftliche Kommunikationsfähigkeit erwerben sie beim Mailen oder Simsen.

Mehr noch: Das Schreiben mit der Hand läuft längst Gefahr, als Ausweis eines gewissen Autismus verstanden zu werden. Man kann kaum noch davon ausgehen, dass der Adressat eine ausreichende Handschriftlesekompetenz besitzt. Dagegen bringt die E-Mail neben ihrer Lesbarkeit auch die Eigenschaft mit, ohne viel Aufwand beantwortet und aufbewahrt zu werden. Freuen wir uns also über den Anbruch eines Zeitalters der Lesbarkeit.

Zweite, ganz andere Antwort: Mit der Handschrift verlieren wir den Brief. Natürlich werden weiterhin Briefe geschrieben. Aber ich meine den Brief, der es einfach nicht verträgt, getippt und gemailt zu werden. Allen voran: die Briefe von Liebenden. Oder: der Briefwechsel bedeutender Persönlichkeiten über Belange aus Kunst und Politik.

Jeder Goethe-Brief hat etwas Auratisches

Solche Briefe, egal ob sie an uns gerichtet waren oder nicht, haben uns immer viel bedeutet, weil sie als Handschriftliches eine große Nähe von Inhalt und Absender ausstrahlten.

Jeder Goethe-Brief hat etwas Auratisches. Millionen Menschen sammeln Autogramme. In der Handschrift des Schreibers glauben wir seine Gefühle oder seine schöpferische Kraft dauerhaft aufbewahrt zu sehen. Kein Wunder also, dass es regelmäßig als Meldung vom allgemeinen Verfall der Kultur durch die Medien geht, wenn sich X von Y per SMS getrennt oder wenn ein Schriftsteller einem Archiv seinen Nachlass in Form einer Festplatte vermacht hat.

Oder kurz gesagt: Wenn wir die Kultur der Handschrift verlieren, dann verlieren wir eines der "sprechendsten" Ausdrucksmittel. Die persönlichen Schriftzüge gelten analog zu den Gesichtszügen als Spiegel des Charakters und der Seele. Dem entgegen sind die Maschinenbriefe und erst recht die E-Mails und SMS seelenlos - da hilft auch nicht der Versuch, ihnen mit den sogenannten Emoticons ein wenig Leben einzuhauchen.

Muss ich mich nun für eine der beiden Antworten entscheiden? Nein, ich muss nicht. Es wäre Unsinn, zwischen einer Kultur der Lesbarkeit und einer Kultur des Ausdrucks zu wählen. Ich bin überzeugt, wir brauchen beide. Ohne Lesbarkeit ist der Ausdruck eine hohle Pose, und ohne Ausdruck ist das Leserliche totes Material.

Es wird daher, so denke ich, in Zukunft eine Frage der kommunikativen Kompetenz sein, für jede Botschaft den angemessenen Boten auszuwählen. Und ich gebe auch einen Rat: Je maschinenfixierter das Schreiben sein wird, desto ausdrucksstärker wird die Handschrift. Ein Vorteil für den, der sie in seinem Sinne nutzen kann.

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