Gletscher-Archäologie:"Das ist wie eine Zeitmaschine"

Gletscher-Archäologie: Gletscher am Großvenediger: Wenn sich die Eismassen zurückziehen, fördert das oft Überreste vergangener Kulturen ans Tageslicht

Gletscher am Großvenediger: Wenn sich die Eismassen zurückziehen, fördert das oft Überreste vergangener Kulturen ans Tageslicht

(Foto: Daniel Hofer)

Lederne Beinkleider aus der Jungsteinzeit, kostbare Fibeln der Römer: Wenn die Eismassen der Gletscher schwinden, finden Archäologen kostbare Überreste vergangener Kulturen. Zum Beispiel Hinweise auf einen "Schnidi", der 400 Jahre nach Ötzi durch das Eis stapfte.

Von "natur"-Autor Martin Rasper

Der Tod kam schnell und brutal. Italienisches Artilleriefeuer zerfetzte die Körper der drei k.-und-k.-Sanitätssoldaten, die im August 1918 zur Punta San Matteo im Ortlermassiv aufstiegen. Geschosse und Splitter durchdrangen ihre Schädel, ihre Brustkörbe, ihre Wirbelsäule. Es war ein irrwitziger Tod an der irrwitzigsten Front des an Absurdität ohnehin kaum zu überbietenden Ersten Weltkriegs. In mehr als 3000 Metern Höhe, verschanzt in Schützengräben, in Fels- und Eishöhlen fochten italienische und österreichisch-ungarische Truppen erbittert um jeden Gipfel - ohne dass eine Seite wesentliche Geländegewinne verzeichnet hätte. 150 000 Soldaten wurden bei dem Wahnsinn getötet. Viele blieben für immer verschollen. Manche tauchen sehr viel später wieder auf, so wie die drei Österreicher. 2004 gab der Forni-Gletscher ihre Leichen in 3550 Metern Höhe wieder frei, wo der Lokalhistoriker Maurizio Vicenzi sie entdeckte.

Solche Funde häufen sich. Seit die Gletscher schrum­pfen, kommen vermehrt Leichen und Gegenstände zum Vorschein, die bis dahin im vermeintlich ewigen Eis verborgen waren. Am Theodulpass zu Füßen des Matterhorns tauchten Leichenteile eines Söldners aus dem 16. Jahrhundert auf, dazu Dolch und Pistole. Woanders fanden sich verunglückte Wilderer oder Bergwanderer.

Aus natur 11/2014

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  • natur 11/2014

    Der Text stammt aus der November-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation. Mehr aktuelle Themen aus dem Heft 11/2014 auf natur.de...

Auf dem Umbalkees, einem Gletscher am Großvenediger, gab das Eis ein Flugzeug frei: eine deutsche JU 52, die dort 1941 notgelandet war. Historiker bargen die Motoren und den Propeller, dazu persönliche Ausrüstung der Besatzung wie Essgeschirr und Waschzeug. Augenzeugen berichten, die frisch aufgetauten Habseligkeiten hätten noch nach Rasierwasser gerochen. Furore machte die Geschichte eines jungen Mannes aus Osttirol, der 1949 nicht von einer Bergtour zurückgekehrt war. 54 Jahre später wurde er gefunden und von seiner einstigen Verlobten, einer inzwischen alten Frau, identifiziert - ganz wie in Johann Peter Hebels berühmter Erzählung "Unverhofftes Wiedersehen".

Mehr als 800 Gegenstände tauchten am Schnidejoch auf

Das war im heißen Sommer 2003. Damals gaben die Gletscher so viel Fläche frei wie nie zuvor. Im selben Jahr fanden Wanderer auf dem Schnidejoch, einem Übergang vom Wallis ins Berner Oberland, ein auffälliges, offensichtlich sorgfältig bearbeitetes Objekt aus Birkenrinde - und brachten die Forscher damit auf eine überaus ergiebige Spur. Das Stück, das aussah wie ein Köcher, landete beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern. Dort entschloss man sich, es mittels der C14-Methode datieren zu lassen - ein 700 Euro teurer Spaß, den eine Behörde nicht leichtfertig eingeht. Doch das Ergebnis rechtfertigte die Investition: Die Birkenrinde war fast 5000 Jahre alt. Jungsteinzeit. Die Periode also, in der auch der berühmte Gletschermann Ötzi sein Leben ließ, der 1991 in den Ötztaler Alpen in Südtirol gefunden wurde.

Einzigartige prähistorische Funde in den Schweizer Alpen

Das schmelzende Eisfeld zwischen Bern und Wallis gab eine kostbare römische Fibel frei - die Nadel hielt Kleidungsstücke zusammen

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

In den folgenden Jahren suchten die Archäologen das Schnidejoch systematisch ab. Was sie dort in einer sanft nach Nordwesten geneigten Mulde in, auf und neben dem Resteis fanden, übertraf alle Erwartungen: Die 2756 Meter hoch gelegene und wenig bekannte Passhöhe entpuppte sich als wahre Schatzgrube der Gletscherarchäologie. Mehr als 800 Gegenstände förderten die Geländekampagnen zutage, von steinzeitlichen Holz- und Leder-Artefakten über eine Nadel aus der Bronzezeit bis hin zu römischen Schuhnägeln und Münzen sowie einer kostbaren Fibel - einer Spange, die einst ein Kleidungsstück zusammenhielt.

Den guten Erhaltungszustand verdanken die Stücke vor allem den frostigen Umständen auf dem Schnidejoch: Den Bergsattel bedeckte kein Gletscher, sondern ein Eisfleck. Gletscher schieben sich talwärts und zermalmen dabei langsam, aber sicher alles, was einst in ihre Spalten und Risse plumpste. Was sie an ihrem Ende dann ausspucken, ist meist nicht älter als 300 Jahre. Eisflecken hingegen bewegen sich nicht von der Stelle. Über die Jahrtausende schichtet sich Schneelage um Schneelage auf und bedeckt, was die Menschen je am Berg zurückgelassen haben. Eisfelder schmelzen oft aufgrund der Lage an einem Nordhang selbst im Sommer nicht ab - so wie am Schnidejoch.

Einzigartige prähistorische Funde in den Schweizer Alpen

Die Jäger der Jungsteinzeit trugen bereits Schuhe aus Leder oder Fell, wie dieses Fundstück am Schnidejoch belegt

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Es sieht so aus, als hätte es auf dem Passsattel über die Jahrtausende regen Fußgängerverkehr gegeben. Der Weg übers Gebirge ist offenbar zu allen Zeiten genutzt worden. Dabei konnten die Forscher die über 50 Fundstücke, die sie per C14-Analyse datieren ließen, in vier bis fünf Zeitfenster einordnen. Die meisten stammten aus der Jungsteinzeit und der Bronzezeit, viele aus der römischen Antike und einige aus dem Mittelalter. Das älteste Stück war 6800 Jahre alt - und damit über 1500 Jahre älter als Ötzi. Zwischen den Zeitfenstern klafften zum Teil deutliche Lücken, vor allem zwischen der Bronze- und der Römerzeit, als anderthalb Jahrtausende lang niemand etwas auf dem Schnidejoch hinterließ. Das lässt nur einen Schluss zu: Während kälterer Perioden war der Pass unzugänglich. Dann versperrten talwärts Gletschermassen den Zuweg.

"Der Zusammenhang zwischen dem Stand der Gletscher, also dem Klimageschehen überhaupt, und menschlicher Aktivität ist bisher viel zu wenig beachtet worden", sagt Albert Hafner, der die archäologische Unternehmung auf dem Schnidejoch leitete. "Einfach weil es zu wenige belastbare Daten gab. Aber hier ist der Zusammenhang überdeutlich." Tatsächlich, das bestätigt auch der Klimaforscher Martin Grosjean von der Universität Bern, stimmen die Zeitfenster vom Schnidejoch mit den Daten zu Gletschervorstößen und -rückzügen überein, die man an anderen Stellen der Alpen gewonnen hat.

Der "Schnidi" stapfte 400 Jahre nach Ötzi durch den Schnee

Gletscher-Archäologie: Der Triftgletscher gehört zu den Eismassen in den Alpen, die sich besonders schnell zurückschmelzen. Er gibt auf seinem Rückzug Felspartien frei, die manchmal Jahrtausende lang unter dem Eis verborgen lagen.

Der Triftgletscher gehört zu den Eismassen in den Alpen, die sich besonders schnell zurückschmelzen. Er gibt auf seinem Rückzug Felspartien frei, die manchmal Jahrtausende lang unter dem Eis verborgen lagen.

(Foto: Bernhard Edmaier, aus dem Bildband "Kunstwerk Alpen", Bergverlag Rother, München/Text:AJH)

Und noch ein Fazit lässt sich ziehen: Die Schmelze im Sommer 2003 war stärker als jemals zuvor. Denn organische Substanzen wie Leder zerfallen an der Luft schnell. Nur wenn sie permanent im Eis liegen, können sie die Jahrhunderte überdauern. "Das Eisfeld am Schnidejoch war zu keinem Zeitpunkt in den vergangenen 5000 Jahren so klein wie heute", sagt Grosjean. "Hätte sich das Eis zwischendurch schon einmal so weit zurückgezogen, dann hätten organische Stoffe wie Leder oder Wolle nicht bis heute überlebt."

Die wahre Sensation am Schnidejoch sind jedoch die Funde aus der Jungsteinzeit: lederne Beinkleider, wie sie auch Ötzi trug, ein Schnürschuh, gleichfalls aus Leder, ein Langbogen aus Eibenholz, noch mit dazugehöriger Sehne, dazu mehrere Pfeile und Pfeilspitzen. Auch das Stück Birkenrinde, das Wanderer als Allererstes gefunden hatten, erwies sich als sensationeller Fund. Gemeinsam mit weiteren Teilen ergab es ein 1,60 Meter langes Futteral, das den Bogen vor Nässe schützte. Es muss also um 2900 v. Chr., rund 400 Jahre nach Ötzi und 250 Kilometer weiter westlich, einen "Schnidi" gegeben haben, der schon ähnlich gut ausgerüstet durchs Hochgebirge streifte. Aber was wollte er auf der Alpennordseite? Und warum benutzte er diesen Übergang, wo es in der Nähe weit niedrigere gab?

Ötzi

Rekonstruktion des Ötzi - der Eismann ist der am besten erhaltene Jäger aus der Steinzeit. Doch die schmelzenden Gletscher offenbaren zahlreiche weitere Überreste

(Foto: Südtiroler Archäologiemuseum/Ochsenreiter)

Albert Hafner hält es für möglich, dass das Schnidejoch in erster Linie nicht zur Überwindung des Gebirges genutzt wurde, sondern einfach zum Streifgebiet der steinzeitlichen Jäger gehörte. "Der Mann hat höchstwahrscheinlich auf der Südseite gewohnt", erklärt er. "Dort, im Wallis, ist ein inneralpines Trockental mit idealen Bedingungen für den Getreideanbau. Man weiß, dass es seinerzeit bewohnt war, denn es existieren zahlreiche Funde aus dieser Epoche." Die hochgelegenen Hänge, die Bergwälder und alpinen Matten, waren demnach für Schnidi und Konsorten ergiebige Jagdgebiete gewesen.

Ötzis Vetter hielt Ziegen und wusste, wie man Leder gerbt

Eine wissenschaftliche Überraschung hielten auch die ledernen Beinkleider bereit. Ihr Erhaltungszustand war so gut, dass an ihnen eine DNA-Analyse vorgenommen werden konnte - im Gegensatz zu Ötzis Leggings, die zur Konservierung chemisch behandelt wurden und damit für eine Genanalyse unbrauchbar waren. Ergebnis: Das Leder stammte von einer Hausziege. Die Untersuchung wies auch zum ersten Mal zweifelsfrei nach, dass die Menschen der Jungsteinzeit schon über das Wissen verfügten, Leder zu gerben. Zwar hatten Archäologen dies schon länger vermutet, einfach weil ungegerbte Häute schnell spröde und brüchig werden. "Aber dass hier der Nachweis gelang, war doch eine Überraschung", so Hafner.

Einzigartige prähistorische Funde in den Schweizer Alpen

Dieses Beinkleid schützte einen neolithischen Jäger vor rund 5000 Jahren vor Kälte

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Nicht nur in den Alpen, auch in anderen Gegenden der Welt werden vermehrt Funde aus Gletschern und Eisfeldern gemeldet. Was den Schweizern ihr Schnidejoch, ist den Norwegern neuerdings der Juvfonne, ein Eisfeld im Jotunheimen-Gebirge, auf halbem Weg zwischen Bergen und Trondheim. Die Gletscherzunge des Juvfonne, die auf 1850 Metern Höhe liegt, ist in den vergangenen sechs Jahren um fast 100 Meter zurückgewichen. Auf dem freigelegten Felsgeröll haben Archäologen rund 600 Artefakte gefunden: größtenteils hölzernes Jagdgerät aus dem Mittelalter, aber auch einen 3400 Jahre alten Lederschuh und ein Leinenhemd aus dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. "Das ist wie eine Zeitmaschine", sagt der dänische Leiter der Suche, Lars Pilø, begeistert. Dabei hält die Konfrontation mit der Vergangenheit die erstaunlichsten Erfahrungen bereit. An einer Stelle gruben die Forscher einen Tunnel in das Toteis, um ein Zeitprofil zu erstellen, und stießen auf eine auffällige dunkle Schicht. Die erwies sich als geballte Lage jahrhundertealten Rentierkots - der beim Auftauen prompt zu stinken begann.

Im Norden Kanadas ging die Steinzeit erst vor wenigen Generationen zu Ende

Auch in Kanada ist das Gletscherfieber ausgebrochen. Vor allem im Südwesten des Yukon-Territoriums in den Rocky Mountains schmolzen in den vergangenen Jahren zahlreiche Funde aus dem Eis, vor allem Pfeile, Speere und Steinspitzen. Die jüngsten Stücke waren rund 100 Jahre alt, die ältesten über 8000. Die Relikte sind teilweise in so auffälligen Mustern verteilt, dass die Archäologen daraus auf die Jagdtaktik der Vorfahren zu schließen versuchen. Die haben wohl häufig versucht, die Herden in eine trichterförmige Falle zu treiben, an deren Ende die Schützen warteten. In Kanada kommt zu der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Funde noch eine politische Komponente hinzu: Für die Indianerstämme, die "First Nations", ist die Auseinandersetzung mit diesen Funden eine Besinnung auf die eigene Geschichte.

Im Norden Kanadas ist die Steinzeit erst vor wenigen Generationen zu Ende gegangen. Wer heute zu den Ältesten gehört, hat als Kind die Rentierjagd mit Pfeil und Bogen noch miterlebt. Doch den Jungen ein lebendiges Bild der eigenen Geschichte zu vermitteln, ist schwer. "Deshalb sind diese Funde für uns immens wichtig", sagt Diane Strand von der Gemeinschaft der "Champagne and Aishihik First Nations", die seit jeher in Yukon und British Columbia ansässig sind. Vertreter der Ureinwohner sind daher auch an den Geländekampagnen beteiligt, ermuntern ihre Jugendlichen zu Praktika und bauen Sammlungen auf.

Die Menschen hinter den Funden - das ist auch in Mitteleuropa ein Thema. Insofern findet es der Archäologe Albert Hafner schade, dass am Schnidejoch keine leibhaftigen menschlichen Überreste erhalten blieben. "Die sind vermutlich verloren", sagt er. "So ein Fund wie Ötzi war ein absoluter Glücksfall. Das wird kaum ein zweites Mal in dieser Qualität vorkommen." Trotzdem bauen die Archäologen auch auf die Aufmerksamkeit von Bergwanderern. "Wir können ja nicht in den ganzen Alpen unterwegs sein", erklärt Hafner. "Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass uns zufällige Funde gemeldet werden." Die Suche ist ein Wettlauf gegen die Zeit. "Es ist fünf vor zwölf", so Hafner. Mit jedem Jahr schmelzen Teile der Eisfelder weg. Sind die empfindlichen organischen Stücke aus Holz, Leder oder Wolle einmal freigelegt, zerfallen sie innerhalb weniger Jahre.

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