Klimawandel:Das große Schmelzen

Klimawandel: Eine unselige Kombination aus veränderten Schneekristallen, Ruß, Algen und anderen Faktoren verschmutzt Grönlands Eispanzer - und wärmt ihn so zusätzlich auf.

Eine unselige Kombination aus veränderten Schneekristallen, Ruß, Algen und anderen Faktoren verschmutzt Grönlands Eispanzer - und wärmt ihn so zusätzlich auf.

(Foto: Adam LeWinter, US Army Corps of Engineers, Cold Regions Research and Engineering Laboratory)

Feinstaub, Ruß und Algen verdunkeln Grönlands Gletscher. Das Schwarzeis beschleunigt die Schmelze der Arktis in alarmierendem Ausmaß.

Von Eli Kintisch

Aus dem Helikopter betrachtet, der an diesem strahlenden Sommertag über den Gletschern Grönlands schwebt, offenbart sich ein Bild des Zerfalls. Lange Risse durchschneiden die dunkle Oberfläche, Schmelzwasserseen füllen jede Senke. Wie Adern schlängeln sich Flüsse und Bäche Richtung Westen, an den Rand des Eisschildes, wo sie sich in den Ozean ergießen. Die Forscher an Bord des Hubschraubers haben sich offenbar eine besonders üble Saison ausgesucht für ihre Untersuchungen.

In jedem Sommer schmilzt der 1,7 Millionen Quadratkilometer große grönländische Eispanzer an den Rändern ab; sogar in Jahren, in denen die Gletscher dank des Schneefalls im Landesinneren insgesamt ein gutes Stück wachsen. Doch im vergangenen Jahr begann die Schmelze früher als gewöhnlich und erreichte erschreckend schnell das Inland. Im April waren bereits zwölf Prozent der Gletscheroberfläche angetaut, in einem normalen Jahr sind im Juni noch keine zehn Prozent betroffen. "Ich fliege seit Jahren in dieser Gegend", sagt der Pilot des Helikopters, "aber ich habe noch nie so viel Wasser gesehen."

"Niemand hat erwartet, dass es so schnell geht"

In Grönland hat das große Schmelzen begonnen. Bilder der kalbenden Gletscher hat wohl jeder schon gesehen. Zwischen den Jahren 2000 und 2008 ging durch solche Ereignisse auch noch ähnlich viel Eismasse verloren wie durch das Abtauen der Oberfläche. Doch zwischen 2011 und 2014 verschob sich dieses Gleichgewicht dramatisch. Satellitendaten und Modellrechnungen zeigten: In diesem Zeitraum gingen 70 Prozent der jährlichen 269 Milliarden Tonnen Schnee und Eis durch das Abtauen der Oberflächen verloren. Dadurch verdoppelte sich Grönlands Beitrag zum Meeresspiegelanstieg zwischen 1992 und 2011 auf 0,74 Millimeter pro Jahr. "Niemand hat erwartet, dass es so schnell geht", sagt die Geophysikerin Isabella Velicogna von der University of California in Irvine.

Die Ursachen für das Phänomen kennt noch niemand, wie es sich in Zukunft entwickelt, ist unklar. Dabei drängt die Zeit. Schmilzt der kilometerdicke Eispanzer Grönlands komplett ab, steigt der Meeresspiegel weltweit um sieben Meter. Deshalb versuchen Glaziologen verbissen, das beschleunigte Abtauen zu verstehen.

Obwohl sich die Arktis doppelt so schnell erwärmt wie der Rest der Welt, kann der Temperaturanstieg allein die rasende Erosion des Eisschildes nicht erklären. Weitere Faktoren müssen mitwirken, Mikroorganismen zum Beispiel, die sich in den ungewöhnlich warmen Sommern stark vermehren. Sie produzieren dunkle Pigmente, die Sonnenlicht auf der Eisoberfläche absorbieren. Ruß und Staub, die der Wind heranschleppt, verstärken diesen Effekt noch. Hinzu kommen veränderte Wettermuster, die feuchte Warmluft über das verletzliche Eis schieben.

Der Schnee ist nicht so weiß, wie er zunächst erscheint. Er absorbiert Wärme

Um den Einfluss der einzelnen Faktoren zu erfassen, setzen Forscher einerseits auf Satellitenbilder, die Farbe und Rückstrahlvermögen der Eisoberfläche zeigen, und zusätzliche Sensoren vor Ort, die millimetergenau die Erosion erfassen. Zudem organisieren sie Expeditionen mit Fachleuten, deren Expertise zuvor noch nie in der Arktis gebraucht wurde: Spezialisten für Algen und Ruß waren bei dieser Reise im Sommer 2016 dabei. Die Untersuchungen vor Ort sollen Aufschluss geben, wie biologische und physikalische Prozesse zusammenwirken. Expeditionsleiter Martyn Tranter, ein Biogeochemiker von der britischen University of Bristol, erklärt die Motivation seiner Crew so: "Wir sind neugierig, aber wir haben auch Angst." Angst, dass dieses schwarze Schauspiel auf dem Eis den Anstieg des Meeresspiegels beschleunigt.

Eine Stunde nach Abflug landet der Helikopter auf einem flachen, blendend weißen Schneefeld. Ohne Sonnenbrille sieht man hier nur gleißendes Licht. Doch als Joe Cook von der University of Sheffield mit einem Lichtsensor nachmisst, zeigen die Daten, dass der Schnee nicht so weiß ist, wie er erscheint. Er absorbiert etwas sichtbares Licht, das er normalerweise reflektieren würde. Im Infrarotbereich schluckt die Oberfläche auffallend viel, das ist ausgerechnet der Wellenlängenbereich der Wärmestrahlung.

In der "Schwarzeis-Zone" hat sich über Jahrhunderte Staub und Ruß angesammelt

Die für das menschliche Auge nicht wahrnehmbare Verdunkelung der Schneeoberfläche entsteht durch Schmelzprozesse. Durch wiederholtes Abtauen und Gefrieren werden die ursprünglich scharfkantigen Eiskristalle immer klumpiger und runder und reflektieren bis zu zehn Prozent weniger Sonnenlicht. Dadurch absorbiert der Schnee Wärmestrahlung, es wird wärmer, die Schmelze beschleunigt sich.

Am westlichen Rand des Eisschildes, dem zweiten Landepunkt der Forscher, ist der Schnee vom vorangegangenen Winter bereits verschwunden und das freiliegende Eis ist dunkel-schmutzig. Manche nennen diesen Bereich die "Schwarzeis-Zone". Der Dreck setzt sich aus jahrhundertealtem Staub zusammen, der sich in der Schmelzzone angesammelt hat, und aus Ruß, der von europäischen Fabriken und kanadischen Waldbränden stammt.

Die zerstörerische Kraft der Algen ist nicht mehr zu übersehen

Eine dritte Zutat ist womöglich besonders verheerend: Algen und Bakterien. Die Eisoberfläche an dieser Stelle ist perforiert mit fingerdicken Löchern. Klares Wasser steht in den Vertiefungen, doch an deren Boden klebt dunkler Schlick, den die Wissenschaftler als Kryokonit bezeichnen. Der Großteil davon besteht aus lebenden Bakterien. Der Schlammklecks in jedem Eisloch sorgt dafür, dass sich das Wasser erwärmt und nicht einfriert. In dieser Umgebung fühlen sich die Mikroben wohl, vermehren sich kräftig und beschleunigen so das Schmelzen.

Neben den Bakterien wachsen auch noch Algen auf dem schwindenden Eisschild. Im Jahr 2010 entdeckte die Mikrobiologin Marian Yallop aus Bristol diese Organismen, die außerhalb der Schmelzlöcher wachsen. "Diese Algen leben in der extremen Kälte, sind starkem UV-Licht ausgesetzt und überstehen die Auftau-Einfrier-Zyklen ohne Schaden", sagt Yallop. Mit braunen Pigmenten schützen sich die Algen vor der Sonne und färben weite Eisflächen zusätzlich dunkel.

Dauerlicht im Sommer und reichlich Wasser treiben diese Blüte an, vermutet Yallops Kollege Andrew Tedstone. Nach der Theorie des Glaziologen könnte explosionsartiges Algenwachstum in den warmen Sommern 2010, 2012 und 2016 die in diesen Jahren gemessene Verdunkelung der Eisoberfläche erklären. Im kühleren Jahr 2015 änderte sich die Farbe hingegen nur geringfügig. Liegt Tedstone richtig, wäre das ein zerstörerischer Teufelskreis: Wärmere Temperaturen versorgen Algen und Bakterien mit genügend Wasser, ihr Wachstum verdunkelt die Eisoberfläche, was wiederum das Schmelzen verstärkt.

Warmer Regen überzieht den Eisschild

Beim dritten Landeplatz ist die zerstörerische Kraft der Algen nicht mehr zu übersehen. Nicht nur der Schnee ist verschwunden, sondern auch mehrere Meter Eis sind weg. Kryokonit-Löcher sind zu Becken verschmolzen, ein reißender Fluss zerschneidet das schmutzige Eis. Die Forscher schaben braunen Schnee in Plastiktüten, sie werden ihn später untersuchen.

Etwa 20 Kilometer entfernt haben Teilnehmer der Expedition im vergangenen Jahr ein Feld abgesteckt und fünf Wochen lang beobachtet. Sie sammelten Daten, um damit die Satellitenmessungen zu eichen. Das Versuchsfeld nannten sie "Pixel", weil es mit seinen 500 Metern Kantenlänge genau dem maximalen Auflösungsvermögen des Sensors in einem Nasa-Satelliten entspricht, der jeden Tag die Farbe Grönlands erfasst. Ziel der Arbeit ist, später aus Satellitendaten das gesamte grönländische Schmelzgeschehen zu erfassen.

In der Antarktis gibt es bisher noch keine Tauwetterphasen. Dafür bricht das Eis dort in Stücke

Neben dem schwarzen Eis bestimmt in jedem Jahr das Wetter, wie stark Grönland abtaut. 2012 war in dieser Hinsicht extrem. Am 12. Juli jenes Jahres waren 98 Prozent des Eisschildes mit Wasser bedeckt. An einer Messstation schmolz ein Meter Eis in nur vier Tagen. Es war in dieser Phase nicht einmal besonders sonnig, warmer Regen überzog die Gletscher. Solche Episoden dürften häufiger werden, wenn sich die Arktis zunehmend erwärmt, vermutet Dirk van As vom Geological Survey of Denmark and Greenland in Kopenhagen.

Wissenschaftler hoffen, einmal all diese Faktoren in einem Computermodell zusammenzufassen. Heute sind Berechnungen noch unzuverlässig. Bei Vorhersagen wird die Sache noch unsicherer: Bis zum Jahr 2100 kommen die Modelle auf null bis 27 Zentimeter Meeresspiegelanstieg durch abschmelzendes Grönlandeis. Verbesserte Computermodelle sollen einmal auch Vorhersagen für das Tauen am Südpol liefern. Der Eispanzer der Antarktis hält zehn Mal so viel Wasser wie Grönland. Tauwetterperioden gibt es auf der Südhalbkugel zwar noch nicht, doch die gigantische Eisplatte zerbricht bereits.

Das tauende Eis ist für die Wissenschaftler nicht nur Untersuchungsgegenstand, es macht ihnen auch das Leben schwer. Als die Expedition im vergangenen Jahr am "Pixel" arbeiten wollten, mussten sie endlos durch Schneematsch und Schmelzwasserseen waten. Einmal pro Woche mussten sie ihr Lager umbauen, weil das Eis um ihre Zelte herum weggeschmolzen war und die Behausungen auf Podesten zurückgelassen hatte. Doch sie empfanden auch Ehrfurcht angesichts der Transformation um sie herum. "Abends, wenn die Sonne tief stand, staunten wir", so erzählt der Atmosphärenforscher Jim McQuaid von der University of Leeds, "und wurden uns bewusst, dass wir an einem Ort waren, den noch nie zuvor ein Mensch betreten hatte. Und den auch nie wieder ein Mensch betreten wird - weil er verschwindet."

Dieser Text ist im Original in Science erschienen, dem internationalen Wissenschaftsmagazin, herausgegeben von der AAAS. Unterstützt wurde die Recherche durch das Pulitzer Center on Crisis Reporting. Weitere Informationen: www.sciencemag.org, dt. Bearbeitung: hach

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