Glaube und Ethik:Wie kam die Moral in die Welt?

Wissenschaftler bezweifeln, dass Religion das Gerüst für die Moral bildet. Einige halten den Glauben eher für ein schädliches Nebenprodukt der Evolution.

Ch. Weber

Zu den unsterblichen Gerüchten der menschlichen Geistesgeschichte gehört, dass man Kirche und Religion zumindest für die Moral brauche. Kein Kapitel aus der Gewaltgeschichte des Christentums - von den Kreuzzügen bis zu den aktuellen Missbrauchs-Fällen - konnte daran etwas ändern.

Engel in einer Kirche

Engel dekorieren eine Münchner Kirche. Braucht Moral die Religion?

(Foto: Foto: ddp)

Selbst knochentrockene Atheisten und Soziobiologen erklären den Fortbestand des Glaubens mit der Tatsache, dass erst die gemeinsam geteilte Religion eine Kooperation unter den Menschen erzwungen habe, aus der Angst nämlich vor dem allmächtigen und allwissenden Bestrafer dort oben im Himmel, der regelwidriges Verhalten ahndet - und sei es auch erst in einem Leben nach dem Tode. Demnach sei Religion nur deshalb so erfolgreich geworden, weil die von ihr bewirkte Kooperationsbereitschaft sich zu einem adaptiven Selektionsmerkmal entwickelt habe, welches das Überleben von Mensch und Gemeinschaft befördert habe. Kurz: ohne Religion keine Moral.

Diese Haltung wird schon länger von verschiedenen Seiten ergänzt und kritisiert. Vor allem der französischstämmige Anthropologe Pascal Boyer vertritt die Ansicht, dass Religion nur ein Nebenprodukt der Evolution sei: Menschen seien eben seit Urzeiten darauf geeicht, hinter jedem Rascheln einen Angreifer zu vermuten. Das habe die Überlebenswahrscheinlichkeit in der Savanne erhöht. Wegen solcher kognitiven Grundeinstellungen neige Homo Sapiens dazu, hinter allen nicht sofort erklärlichen Vorfällen übernatürliche Agenten und Götter zu vermuten statt die simple Kontingenz der Natur.

Ähnlich argumentiert der publizistisch führende Atheist Richard Dawkins: Er sagt, dass Kinder im Laufe der Evolution gelernt hätten, dass es prinzipiell hilfreich ist, den nächsten Autoritätspersonen - vulgo: Eltern - zu folgen. Diese Haltung führe dazu, dass sie intuitiv auch an einen Gott zu glauben bereit seien. Anders als die Adaptionstheoretiker behaupten also Boyer und Dawkins, dass Religion nicht unbedingt Kooperation und Moral hervorbringe, sondern eher ein schädliches Nebenprodukt sei.

Tatsächlich suchen Forscher schon seit langem nach außerreligiösen Erklärungen für das Entstehen von Moral. Bekannt wurde damit vor allem der niederländische Primatologe Frans de Waal, der mit zahlreichen Studien nachzuweisen versucht hat, dass auch nichtmenschliche Primaten moralische Intuitionen haben. So ließ er etwa Schimpansen dabei zusehen, wie Versuchspersonen vergeblich versuchen, an einen Stock zu gelangen. In den meisten Fällen standen die Tiere auf und brachten den Stock dem Menschen, selbst dann, wenn sie keine Belohnung erhielten.

Nagelprobe mit moralischen Dilemmata

De Waal zieht von solchen Experimenten eine direkte Linie zu den Moralgesetzen der Menschen - und wurde dafür von Philosophen gescholten: Reichen solche ersten, entwicklungsgeschichtlichen Ansätze von Mitgefühl tatsächlich, um moralische Urteile zu erklären, die auf dem Gebrauch eines reflektierenden Verstandes beruhen?

An dieser Stelle setzen Überlegungen ein, die von dem finnischen Religionswissenschaftler Ilkka Pyysiäinen und dem Psychologen Marc Hauser von der Havard University soeben im Fachmagazin Trends in Cognitive Science (online) veröffentlicht wurden. Hauser ist ein wichtiger Vertreter der sogenannten experimentellen Moralpsychologie, die belegt hat, dass die meisten Menschen klassische moralische Dilemmata intuitiv anders beurteilen als Fachphilosophen.

Ein Beispiel: Ein Zug ist außer Kontrolle geraten und eine Person muss handeln. Fall 1: Die Person steht an einer Weiche und rettet eine Gruppe von fünf Menschen, indem sie den Zug umlenkt, so dass dieser nur einen Menschen umfährt und tötet. Fall 2: Die Person rettet wiederum eine Gruppe von fünf Menschen, diesmal aber, indem sie einen Menschen vor den Zug wirft. Die meisten Befragten hielten nur das Verhalten in Fall 1 für moralisch. Logisch ist das nicht.

Die beiden Forscher haben nun eine Handvoll Studien durchforstet, in denen Tausende Menschen mit ähnlich konstruierten Entscheidungssituationen konfrontiert wurden, wo die Religionen keine Standardantworten haben. Dabei zeigten sich kaum Unterschiede in den Ansichten atheistischer und gläubiger Studienteilnehmer. Die Forscher vermuten daher, dass der Mensch mit einer Art moralischer Grammatik geboren wird, vergleichbar dem Sprachinstinkt: Die groben Regeln der moralischen Entscheidungsfindung sind vorgegeben, nur Feinheiten kulturell und religiös geprägt.

Das hat nun Konsequenzen für die Debatte in der evolutionären Religionstheorie: "Der Befund unterstützt die Annahme, dass Religion ursprünglich nicht als biologische Adaption für Kooperation entstanden ist, sondern als separates Nebenprodukt von früher existierenden kognitiven Funktionen evolviert ist, die nicht-religiöse Aufgaben hatten", erläutert Pyysiäinen. Allerdings könne "Religion die Kooperation zwischen Gruppen stabilisieren und erleichtern."

Das ist ja auch schon etwas.

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