Giftgas:Zeitbombe in der Ostsee

Seit Jahrzehnten liegen Flaschen mit hochgefährlichen Giftgas in der Lübecker Bucht - möglicherweise nur wenige Kilometer vom Strand entfernt. Die zuständigen Behörden haben versucht, das Problem zu vertuschen.

Axel Bojanowski

In der Lübecker Bucht, womöglich nur wenige Kilometer vom Strand entfernt, liegen Flaschen mit hochgefährlichem Giftgas. Obwohl die chemischen Waffen 1961 offenbar unter offizieller Aufsicht versenkt wurden, haben die zuständigen Behörden nach SZ-Informationen versucht, das Problem zu vertuschen.

Ob die Flaschen mit Chlorgas und Phosgen eine Bedrohung für Fischer, Strandbesucher oder die Schifffahrt darstellen, ist bislang nicht untersucht worden. Der Zustand der Flaschen ist unbekannt. Zudem weiß niemand, ob sie noch am Verklappungsort acht Kilometer vom Strand in 20 Meter Tiefe liegen oder ob Strömungen sie verschoben haben.

Der Meeresbiologe Stefan Nehring, Gutachter von der Firma Aqua et Terra Umweltplanung Koblenz, hat den Fall vor kurzem öffentlich gemacht. "Die Versenkungsstelle ist auf keiner Seekarte verzeichnet", sagt er. Am Donnerstag verhandelte die Lübecker Bürgerschaft auf Antrag der FDP darüber, sofortige Maßnahmen zu ergreifen. Nach Angaben von Teilnehmern beschloss das Gremium stattdessen, die Situation ohne Terminsetzung untersuchen zu lassen.

Nach Expertenmeinung geht von dem Gas Gefahr aus. Gas. Sollte eine Flasche am Strand Leck schlagen, entstünden 20000 Liter Chlorgas, sagt Nehring. Menschen im nahen Umkreis könnten sterben. Noch in 300 Meter Entfernung drohten schwere Gesundheitsschäden. Phosgen sei noch gefährlicher. "Das Giftgas muss geortet und entsorgt werden", fordert Michaela Blunk, FDP-Fraktionsvorsitzende in der Bürgerschaft.

Behörden haben allerdings bisher behauptet, dass in der deutschen Ostsee keine chemischen Kampfstoffe versenkt worden seien. Sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierung Schleswig-Holsteins gaben 1996 und 2001 entsprechende Stellungnahmen ab. "Über die Lage des Funds in der Lübecker Bucht war dem Innenministerium (in Kiel; d. Red.) nichts bekannt", bestätigte dessen Sprecher jetzt auf Anfrage.

Dokumente, die der SZ vorliegen, zeigen jedoch, dass unter anderem die Versenkungsstelle vor Lübeck den Behörden seit Jahrzehnten bekannt ist. So berichtete das Fischereiamt Schleswig-Holstein 1970, dass sich vor Travemünde "zahlreiche versenkte Gasflaschen mit gefährlichen Gasen" befinden.

Fischer wurden aufgerufen, "Vorsicht walten zu lassen". Das Bundesverkehrsministerium wird neun Jahre später konkret: In der Lübecker Bucht lägen "13 Gasflaschen mit 520 Liter Chlorgas" sowie "eine Gasflasche mit 10 Liter Phosgen", heißt es in einem Brief an das Bundeskanzleramt. Die angegebenen Mengen beziehen sich auf Kampfstoffe in flüssiger Form. Würden die Behälter beschädigt, entstünden weitaus größere Mengen Gas.

Als jedoch Anfang der 1990er-Jahre die internationale Helsinki-Kommission Helcom Informationen über verklappte chemische Kampfstoffe in der Ostsee zusammengestellt hatte, vermerkte der Bericht keinen Fund in deutschen Gewässern. Ein erster Berichtsentwurf 1992 hatte zwar den Fundort in der Lübecker Bucht genannt.

Doch daraufhin intervenierte das Bundesverkehrsministerium in einem Schreiben an das zuständige Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, BSH: Handschriftlich per Telefax forderte der Autor auf einem Fax-Formular des Ministeriums, dessen Leiter damals Günther Krause war, das BSH auf, "Falschmeldungen" im Berichtsentwurf zu korrigieren. Es gebe "keine Hinweise über Versenkungen von Kampfgasen in der Lübecker Bucht".

Seither fehlt der Hinweis auf chemische Kampfstoffe in der Lübecker Bucht in offiziellen Dokumenten. In einem Bericht des BSH von 1993 wird der Lübecker Fundort zwar erwähnt, jedoch mit dem Vermerk, es handele sich um "keine chemische Munition", sondern um "Chemikalien".

Zeitbombe in der Ostsee

"Eine absichtliche Falschdeklarierung", sagt Stefan Nehring. "Mit diesem Trick konnte man sicherstellen, dass die Lübecker Bucht im Helcom-Bericht und anderen Werken nicht erwähnt wird." Man habe wohl "eine Diskussion über Kampfstoffe direkt vor unseren Stränden" vermeiden wollen, vermutet der Munitionsexperte. Niels-Peter Rühl, seinerzeit Adressat des Faxes beim BSH, erinnert sich nicht mehr an den Vorgang. "Den Ablauf kann ich nach 16 Jahren nicht mehr rekonstruieren", sagt der Meereskundler.

"Wir haben keine Hinweise auf eine Bedrohung der Öffentlichkeit", sagt Lübecks CDU-Umweltsenator Thorsten Geißler. FDP-Politikerin Blunk hingegen hatte gefordert, die Gefahrenquelle ohne Rücksicht auf "negative Folgen für den Tourismus und hohe Kosten" zu beseitigen. Doch auch die Kieler Landesregierung sah auf Anfrage bislang "keine konkrete Gefahrenlage". Das Bundesverkehrsministerium wollte die Situation am Donnerstag nicht kommentieren, weil es erst seine Akten prüfen müsse.

Auch andernorts vor der deutschen Küste gammeln womöglich chemische Waffen. Dort könnten ähnliche Diskussionen bevorstehen. Lübeck sei kein Einzelfall, sagt Nehring. Es gebe "eindeutige Hinweise", dass auch in der Flensburger und Kieler Förde sowie zwischen Usedom und Bornholm chemische Kampfstoffe liegen. In der deutschen Nordsee liege Gift vor Borkum, Helgoland, Sylt und in der Jade.

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