Gezeitenkraftwerke:Energie aus dem Höllentor

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In New York gewinnen Unterwasserpropeller erstmals Strom aus der starken Strömung des East River - doch es gibt auch Probleme.

Hubertus Breuer

Als Hannah Abend die Tür zum ersten Strömungskraftwerk der Welt öffnet, gießt es in Strömen. Die Klinke in der Hand, blickt die junge Geophysikerin aus dem Schiffscontainer heraus, der eingezwängt zwischen einem Parkhaus und einem Seitenarm des New Yorker East River steht. "Es ist alles noch im Aufbau", sagt sie entschuldigend, als sie in den engen Kontrollraum lädt.

Bislang erzeugt nur einer dieser Propeller auf dem Grund des East River Energie. Doch bald sollen Hunderte Turbinen New York mit sauberem Strom aus dem Meeresarm vor Manhattan versorgen. (Foto: Foto: Vendant Power)

Dort finden sich Steuerschränke, grün leuchtende Lämpchen, Monitore, Kabel, Schutzhelme und eine Arbeitsbank voll Graphiken, Tabellen und Notizen. Zwei Fenster blicken auf den regengrauen Fluss, in den gelbe Kabel abtauchen. Dort, tief unter dem Wasser, drehen sich im Sog der Strömung die meterlangen Propellerflügel einer Turbine.

Wie die Stätte einer grünen Revolution wirkt dieser Metallverschlag nicht. Doch nach dem Willen des kleinen Wasserkraftunternehmens Verdant Power soll ihr Pilotprojekt bald Nord- und Südamerika, Europa und noch andere Länder, die über schnell fließende Gewässer verfügen, vom Segen der neuen Technik überzeugen.

Einige Investoren setzen bereits auf diese Zukunft: Der mächtige Energiekonzern Keyspan etwa, dessen Elektrizitätswerk im Stadtteil Queens mit drei hohen, rot und weiß gestreiften Schornsteinen in Sichtweite liegt, hat Millionen Dollar investiert, ebenso ein US-Risikokapitalgeber aus dem vornehmen New Yorker Vorort Greenwich. Dieses Startgeld finanziert jetzt mehrere Unterwasserrotoren. Derzeit läuft zwar nur einer, doch sollen bis März noch weitere fünf im Flussbett verankert werden - im blanken Fels. Die Strömung ist so stark, dass sich kein Sediment hält.

Wasserkraftwerke, die heute immerhin rund 18 Prozent des Weltenergiebedarfs decken, kommen in vielerlei Gestalt. So stauen Talsperren Flüsse und Bäche auf, die dann durch Turbinen rauschen. Andere Anlagen wandeln an den Küsten die Energie der Wellenbewegung um. Und Gezeitenkraftwerke nützen Rückhaltebecken, um mithilfe des Tidenhubs Energie aus dem abfließenden Ebbwasser zu gewinnen.

Damit es sich lohnt, muss der Höhenunterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser jedoch mindestens fünf Meter betragen. Bei dem weltweit ersten Tidenkraftwerk in der Mündung der Rance in der Bretagne steigt die Flut im Schnitt um gewaltige zwölf Meter. Der Rückfluss liefert dort 240 Megawatt, was der Leistung eines kleinen Kraftwerkblocks entspricht.

Dennoch scheint das globale Wasserpotential längst nicht ausgeschöpft. Schnell fließende Gewässer bieten sich überall an, ihre Strömungskraft über Rotoren in Energie zu verwandeln, ohne massiv in die Wasserläufe einzugreifen. Das dachte sich zumindest der Ingenieur Dean Corren, heute technischer Direktor von Verdant Power, bereits in den achtziger Jahren an der New York University. Doch damals war Energie billig, gewagte Testprojekte waren so kaum möglich.

Die Wucht der Gezeiten

Das Blatt hat sich gewendet. Erneuerbare Energiequellen stehen inzwischen auch beim größten Ressourcenverschwender der Welt - den USA - hoch im Kurs. Ausgerechnet der Ölstaat Texas lässt etwa im Golf von Mexiko die größte Windfarm der USA bauen: 170 Windräder, die 500 Megawatt Elektrizität für 125.000 Haushalte produzieren sollen. Doch ob frei stehende Felder von Rotoren unter Wasser je solche Dimensionen erreichen, steht dahin.

Der Energieanalyst Roger Bedard, der am kalifornischen Electric Power Research Institute in Palo Alto forscht, hält Gezeiten- und Strömungskraftwerke für die letzte unter den erneuerbaren Energiequellen, die unzureichend erforscht ist. In Europa hat eine EU-Studie sogar mehr als 100 Meeresgebiete ausgemacht, die mithilfe von ozeanischen Strömungen 12.500 Megawatt Strom, soviel Energie wie zwölf Kernkraftwerke, liefern könnten.

Roosevelt Island im East River ist indessen nicht bekannt für technische Innovationen, sondern für die Seilbahn, die von Manhattan mit einem atemberaubenden Blick in Richtung Norden zu dem Eiland führt und für Wohnsilos aus den sechziger Jahren.

Doch die Strömung des kaum befahrenen Flussarms zwischen der Insel und Queens, den holländische Seefahrer einst das "Hölltentor" nannten, ist mit 7,4 Kilometern pro Stunde offenbar so stark, dass es ein Unterwasserturbinenkraftwerk lohnenswert erscheinen lässt.

Geballte Gezeitenenergie

Dabei ist der East River gar kein richtiger Fluss - er verbindet vielmehr den Meeresarm Long Island Sound mit dem New Yorker Hafen und damit dem Atlantik. Dem natürlichen Meereskanal gibt also geballte Gezeitenenergie seine Wucht. Und so drehen sich die Turbinenpropeller beständig mit dem vorbeirauschenden, unregulierten Salzwasser, ohne die Hilfe eines Staudamms.

200 bis 300 Unterwassermühlen sollen sich hier bis 2008 im Abstand von bis zu 30 Metern auf einer Länge von eineinhalb Kilometer Länge drehen. Mit geschätzten zehn Megawatt könnten sie 8000 Haushalte mit Strom versorgen. Die Kosten pro Kilowattstunde, heißt es, entsprächen denen von Windenergie.

Man sollte dabei nicht vergessen, dass New York an einem brütenden Sommertag 1000-mal so viel Strom verbraucht, wie der Turbinenacker liefern soll. Aber jeder Tropfen auf den heißen Stein der Großstadt mag helfen, durchaus peinliche Stromausfälle wie in den vergangenen Jahren zu vermeiden.

Doch ließen sich mit etwas gutem Willen der Stadtväter, wie Trey Taylor, Präsident von Verdant Power erläutert, Turbinen sogar rings um Manhattan installieren: "New York wäre dann die Metropole mit der größten erneuerbaren Energiequelle."

Zudem hat die Anlage für die Firma auch Modellcharakter: "Sie liefert den Strom lokal, Energieverluste über große Distanzen fallen nicht an. Das ist für viele Orte weltweit attraktiv." So hätten bereits San Francisco, Städte in Kanada und selbst Gemeinden im Mündungsgebiet des Amazonas Interesse angemeldet.

Doch der Erfolg ist keineswegs garantiert. Wo viel Energie schlummert, verbirgt sich auch Zerstörungskraft. Als die ersten beiden, fast sechs Meter hohen Turbinen im vergangenen November in den East River tauchten, schlug die Überwachungselektronik bald Alarm: Alle drei Flügel eines Rotors waren in der Strömung abgebrochen.

Zornige Sportfischer

Auch ist nicht jedermann erfreut über die Eingriffe in den alten Wasserweg. Sportfischer beklagen lautstark, dass die Turbinen mit ihren bis zu 32 Umdrehungen pro Minute ihre Beute filetieren könnten. Deshalb musste Verdant Power für eineinhalb Millionen Dollar Sonargeräte einsetzen, um Fische rund um die Uhr zu beobachten.

"Wir sehen selten Fische", erklärt Abend, als sie Sonarfilme vorführt, die an Fernsehrauschen erinnern. "Aber was ist wichtiger - nachhaltige Energie oder ein paar Fische?" Tony Delernia, Professor für maritime Technik am New Yorker Kings Community College und Bootsvermieter, der mit Wall-Street-Kunden regelmäßig in dem Kanal seine Angeln auswirft, warnt, dass wandernde Fischarten bedroht sind: "Der Streifenbarsch zieht erst ab April durch - deshalb ist noch offen, was die Turbinen für das Flusssystem bedeuten."

Angesichts der Ökowelle, auf der das Politikestablishment in Amerika derzeit reitet, mag Verdant Power die Opposition einiger Sportfischer wenig bekümmern. "Wir sind zuversichtlich, dass wir Ende des Jahres das Kraftwerk kommerziell ausbauen dürfen", sagt Taylor. Mehr Sorgen bereitet ihm dagegen, dass die Goldgräberstimmung auch längst andere ergriffen hat.

Die britische Firma Marine Current Turbines (MCT) plant noch dieses Jahr, mehrere Turbinen an der Küste Nordirlands zu installieren. Vor vier Jahren hatten sie erstmals einen frei stehenden Unterwasserrotor vor der Nordküste Devons getestet. Ihre jüngste Wasserradentwicklung soll sogar über zwei Rotoren verfügen.

Selbst angenommen ein Weltmarkt könnte bedient werden, wird der Weg zum Erfolg dennoch beschwerlich. Das legt die Erfahrung der britischen Engineering Business-Group nahe. Gesponsert mit rund 60 Millionen Euro vom britischen Handels- und Industrieministerium, hatte die Firma einen wundersames Gezeitenkraftwerk geschaffen: eine futuristisch anmutende Metallflosse mit einer Spannweite von zehn Metern. Name: Stingray. In einem Haltegestell verankert, hebt und senkt sich die Walflosse in der Tidenströmung und treibt so eine experimentelle Turbine an.

Doch Tony Trapp, Chef des Unternehmens, kam vor zwei Jahren zu dem ernüchternden Schluss, dass weder sein Apparat, noch andere Gezeitenkraftwerke je kostendeckend arbeiten würden. Vor allem seien zu wenige Regionen für solche Kraftwerke geeignet. Taylor hält dem entgegen, dass die Effizienz der Turbinen stetig verbessert und die Herstellungskosten weiter gesenkt würden. Der Beweis steht jedoch noch aus.

Derlei Kritik wehrt auch Hannah Abend mit einer lässig-abwertenden Handbewegung ab. Die Technologie funktioniere doch, sagt sie und blickt um sich. Der alte Container, auf den noch immer der Regen trommelt, beziehe seinen Strom aus dem East River. Auch die Kühlregale und Neonlichter des Supermarkts im Parkhausgebäude nebenan speise Energie aus der Flussturbine. Den bekannten Sinatra-Song über New York variierend, meint die Geophysikerin: "Wenn es hier klappt, dann klappt es überall."

© SZ vom 24.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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