Gewalt heute und gestern:Katzen verbrennen geht nicht mehr

Der Evolutionspsychologe Steven Pinker hat eine gewagte These aufgestellt, die er mit kühnen Argumenten begründet: Er versucht zu beweisen, dass Krieg und Gewalt weltweit abnehmen. Eine Erfolgsgeschichte der Menschheit?

Christian Weber

Zu klären war unter anderem die Frage, wieso Sätze wie die folgenden heute in kultivierter Gesellschaft nicht mehr vorstellbar sind: "Hinaus nach Charring Cross, um zu sehen, wie der Generalmajor Harrison gehenkt, geschleift und gevierteilt wird; was dort getan wurde, während er so munter aussah, wie es für einen Mann in diesem Zustand möglich ist", schrieb der spätere Staatssekretär und Präsident der britischen Royal Society Samuel Pepys am 13. Oktober 1660 in sein Tagebuch - und fährt fort: "Er wurde sogleich heruntergeschnitten, und sein Kopf und Herz wurden den Menschen gezeigt; woraufhin es laute Freudenrufe gab. . . . von dort zu meinem Herrn und Captain Cuttance und Mr. Sheeply mit in die Sun Tavern genommen und ihnen ein paar Austern spendiert."

Juvenile Violence Raise In Germany

Die Menschheit bewies im Laufe ihrer Entwicklung außerordentlich viel Phantasie, um immer wieder neue Folterinstrumente und Waffen zu erfinden.

(Foto: getty)

Die monströse Ironie des feinen Herrn erschließt sich erst dem, der erfährt, wie das Opfer hingerichtet wurde: Es wurde erst halb erwürgt, dann ausgeweidet und kastriert, man zeigte ihm schließlich, wie seine Organe verbrannt wurden, dann enthauptete es der Henker.

Das Beispiel ist eines von vielen, das der Evolutionspsychologe Steven Pinker von der Harvard University in seinem 1200-Seiten-Werk Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit (S. Fischer, 2011, 26 Euro) ausbreitet, um einer Idee zu widersprechen, die sich bis heute in den Köpfen der Menschen hält, dass nämlich die alten Zeiten gute Zeiten gewesen seien; und Grausamkeit, Völkerkrieg und Genozid Erfindungen der Moderne seien.

Welch ein Irrtum, ruft Pinker aus: "Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert."

Die Aussage ist umso erstaunlicher, als sie von einem evolutionär ausgerichteten Forscher kommt, der annimmt, dass die Fähigkeit des Menschen zur Gewalt auf einer stammesgeschichtlichen Anpassung beruht. Ausführlich beschreibt er die Neurobiologie des menschlichen Wutsystems, das sich seit Savannen-Zeiten nicht geändert habe und im Laufe seiner etwa 200.000-jährigen Geschichte viele hundert Millionen mal zum Killer gemacht hat.

Viele Gründe für die Gewalt

Fünf "innere Dämonen" skizziert Pinker, die dieses System anfeuern könnten: Gewalt als Mittel zum Zweck; als Instrument der Dominanz und der Rache; zur Freude des Sadisten an den Schmerzen der anderen und jene Gewalt, die auf religiösen und politischen Ideologien beruhe.

Angesichts derart vieler guter Gründe für den Einsatz von Fäusten, Speeren, Messern und später auch automatischer Waffen erscheint es Pinker nur folgerichtig, dass Leichen die Wege der Menschen säumten, von Anfang an. Forensische Archäologen hätten genügend Pfeilspitzen in Knochen und gespaltene Schädel ausgegraben, um die Mär zu widerlegen, dass prähistorische Gesellschaften friedlich gewesen seien.

Er habe errechnet, dass die Angehörigen nichtstaatlicher Gesellschaften zwischen 14.400 und 1770 v. Chr. zu durchschnittlich 15 Prozent Wahrscheinlichkeit rechnen mussten, einer Gewalttat zu erliegen. Noch die heute existierenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften in Amazonien oder Neuguinea erreichen ähnliche Raten. Im weltweiten Durchschnitt des 20. Jahrhunderts hingegen sei diese Wahrscheinlichkeit auf einen Wert unter ein Prozent gesunken. Eine Erfolgsgeschichte der Menschheit.

Begonnen habe diese Geschichte mit der Entstehung der ersten Staaten, etwa im präkolumbianischen Amerika. Zwar waren die Azteken in Mexiko auch nicht zimperlich gewesen. So opferten die Priester dieses Volkes um 1500 herum immer noch 40 Menschen am Tag, denen sie das zuckende Herz aus der Brust schnitten. Aber allein dadurch, dass nun der Staat das Gewaltmonopol beanspruchte, gab es weniger Überfälle und Morde, die Opferquote sank auf fünf Prozent.

Dennoch hatte wohl keiner dieser frühen Staaten eine Idee von Menschenrechten, schon gar nicht die vom religiösen Wahn befallenen Schurkenstaaten des europäischen Mittelalters. Pinker gibt eine Übersicht, wie bis in die frühe Neuzeit hinein Menschen gequält, zerstückelt, gepfählt, verbrannt wurden. "Folter im Mittelalter wurde nicht versteckt, geleugnet oder schöngeredet", schreibt der Forscher. "Sie war eine Form der Bestrafung, die kultiviert und gefeiert wurde, ein Ventil der technischen und künstlerischen Kreativität."

Menschen wurden an den Füßen aufgehängt und in zwei Hälften gesägt oder im Inneren eines eisernen Stiers geröstet, die Schreie des Sterbenden aus dem Maul des Tieres klangen wie das Brüllen einer Bestie. Bei den Frauen lebten die Folterknechte ihren sexuellen Sadismus aus. Nach Vergehen wie Ehebruch, Gotteslästerung oder Sex mit dem Satan schob man ihnen häufig eine sogenannte Birne in die Vagina. Sie ist ein zweigeteilter hölzerner Kolben mit Spitzen am Ende. Dieser wurde über einen Schraubmechanismus gespreizt und zerriss das Opfer innerlich.

Es sei das Wunder der Geschichte, dass die Menschheit es in weiten Teilen der Welt geschafft hat, sich von derart systematischer Grausamkeit zu befreien, schreibt der Harvard-Forscher. Es sei das Werk von fünf "besseren Engeln", die diesen Weg begleitet hätten - eben des Staates, der seine Bürger davon abhält, sich umzubringen; des friedlichen Handels; des zunehmenden Einflusses der Frauen; der wachsenden Fähigkeit zur Sympathie selbst mit entfernten Menschen; all das befördert durch Alphabetisierung und Buchdruck die Kräfte der Aufklärung und Vernunft. Es sei der "Prozess der Zivilisation" wie ihn der deutsch-jüdische Soziologe Norbert Elias ausgerechnet 1939 beschrieben hatte.

Wie Folter und Todesstrafe lautlos verschwanden

Auf Hunderten von Seiten beschreibt Pinker, wie dieser Prozess das Leben der Menschen befriedet hat, wie Folter und Todesstrafe lautlos verschwanden, die Zahl der Morde und im langfristigen Trend auch die der Kriegstoten sank. Wie es plötzlich verboten war, selbst die eigenen Ehefrauen zu vergewaltigen und Kinder blau zu prügeln; wie Homosexuelle Rechte bekamen und sogar das Leid der Tiere ernster genommen wurde.

Dabei ging es nicht nur um eine bewusste moralische Haltung, sondern auch um eine spontane Veränderung der Gefühle: Es sei heute einfach nicht mehr vorstellbar, dass sich geistig gesunde Menschen daran ergötzen, dass auf einer Bühne schreiende Katzen langsam in einem Feuer verbrannt werden - im 16. Jahrhundert eine beliebte Volksbelustigung.

So erfrischend optimistisch und plausibel die Argumentation Pinkers in weiten Teilen auch klingt, so hat sie auch Schwächen. Sozialwissenschaftler kritisieren Pinkers manchmal wenig ausgeprägte Bereitschaft zur Quellenkritik: Da werden Gewaltschilderungen der Ilias und des Alten Testaments, ja sogar Szenen aus dem Mafia-Opus "Der Pate" wie Augenzeugenberichte übernommen. Und wie sind die malträtierten prähistorischen Skelette statistisch exakt zu werten? Es ist nicht völlig abwegig, dass im Kampf getötete Stammesmitglieder besser bestattet und deshalb vielleicht besser konserviert wurden.

Wirklich ärgerlich ist es, mit welcher dünnen Quelle Pinker eine seiner größten Provokationen belegt, dass nämlich der Zweite Weltkrieg mit geschätzten 55 Millionen Opfern lediglich im Mittelfeld der großen Gewaltkatastrophen der Geschichte liegt. Betrachte man nicht die absolute Zahl der Opfer, sondern die relative, gemessen an der jeweiligen Weltbevölkerung, stünde der An-Lushan-Aufstand während der Tang-Dynastie im China des 8. Jahrhunderts mit 40 Millionen Opfern an der Spitze.

Doch für diese These zitiert Pinker lediglich die selbst gestrickte Webseite eines Amateur-Historikers und Bibliothekars, der aus historischen Atlanten diverse Gräuel-Listen erstellt. Selbst wenn man annimmt, dass Autodidakten saubere Literaturrecherchen machen können, bleiben Zweifel an Pinkers statistischem Ansatz: Sind Angaben über die Größe der Weltbevölkerung im 8. Jahrhundert brauchbar? Lässt sich aus uralten Chroniken, die nicht unbedingt dem Public-Health-Gedanken verpflichtet waren, tatsächlich der Blutzoll der Mongolenstürme des 13. Jahrhunderts ablesen?

Pinker thematisiere diese Probleme zum Teil, kritisiert der Politologe Herfried Münkler von der Berliner Humboldt-Universität, aber er ziehe keine Konsequenzen aus ihnen.

Wie schwierig das statistische Geschäft in Zeiten des Krieges sogar in der Gegenwart ist, zeigt sich am Beispiel des Iraks. So streiten Forscher, ob in diesem Konflikt 2003 bis 2006 eher 48.000 oder 650.000 Menschen umkamen, wie es Autoren der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet behaupteten. Im British Medical Journal analysierte 2008 ein Team um Ziad Obermeyer von der Harvard Medical School alle Kriege, die sich über einen Zeitraum von 50 Jahren in 14 Ländern von Bosnien bis Vietnam abspielten; sie kamen zu dem Ergebnis, dass bisherige Schätzungen mit dem Faktor drei multipliziert werden müssten.

Sie widersprechen damit der These Pinkers zumindest für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und folgern: "Es gibt derzeit keine Evidenz, dass in letzter Zeit die Zahl der Kriegstoten zurückgeht."

"Eine hochpolitische Frage"

Die Zahl der Toten ist immer eine hochpolitische Frage", sagt die Politologin Sabine Kurtenbach vom Hamburger Giga-Forschungsinstitut, die in den Krisenregionen Lateinamerikas forscht. Obwohl sie Pinkers Thesen als Herausforderung für den Kulturpessimismus vieler Gewalttheoretiker begrüßt, weist sie auf die ungelösten Probleme schon bei den Begriffen hin.

Zwar nehme die Zahl der Kriege derzeit ab, wenn man sie klassisch definiert als militärische Konflikte zwischen und in Staaten mit mehr als 1000 Toten pro Jahr. Doch wie verhält es sich mit den neuen unübersichtlichen Konflikten in Afrika und im Mittleren Osten, die manche Forscher die Neuen Kriege nennen und wo kaum brauchbare Daten existieren?

Pinker ruft dennoch die Epoche des Neuen Friedens aus. "Bürgerkriege, Völkermord, Unterdrückung durch selbstherrliche Regierungen und terroristische Anschläge - sind auf der ganzen Welt seit Ende des Kalten Krieges 1989 zurückgegangen." Alle Kurven zeigen nach unten, und immer noch würden in den USA mehr Menschen durch entflammte Schlafanzüge sterben als durch Terrorismus.

Die Behauptung, dass die Neuen Kriegen 80 bis 90 Prozent zivile Opfer forderten, sei "völliger Unsinn", sagt Pinker, zudem sei die Zahl der Opfer insgesamt geringer als beim Kampf staatlicher Armeen, schon wegen der schlechten Bewaffnung. So einfach sei es nicht, widersprechen Experten. So ließen sich Kombattanten und Zivilisten im Kongo oder in Somalia oft nicht auseinanderhalten, weil sie ihre Rollen ständig wechselten.

Entscheidend sei zudem, welche indirekten Kriegsopfer mitgezählt werden, sagt Münkler. "Gehören diejenigen, die infolge einer HIV-Infektion nach einer Vergewaltigung fünf Jahre später sterben zu den Kriegsopfern oder nicht?" Und auch mit primitiven Waffen seien entsetzliche Massaker möglich. "Das haben die Hutu mit ihren Macheten in Ruanda gezeigt."

Dennoch gibt auch Münkler zu: "Vermutlich ist die Welt friedlicher geworden, als sie es in der Frühzeit war - für uns Europäer sicher." Ob es in anderen Regionen auch so sei, könne man nicht sagen.

Selbst wenn sich Pinkers Thesen bestätigen sollten, was haben leidende Menschen in gescheiterten Staaten davon, wenn ihnen Steven Pinker erklärt, dass die Weltgewalt im Durchschnitt sinke?

Vielleicht die Hoffnung, dass die Menschen trotz ihrer immer zur Gewalt fähigen Natur angenehmere Lebewesen werden können.

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