Gesundheitswesen:Med. in Germany

Sind Sie ein gesunder Kranker oder ein kranker Gesunder? Die Klassifizierung sagt, wie gut das deutsche Gesundheitssystem für Sie ist - meint ein Arzt, der nach Jahren im Ausland wieder in Deutschland praktiziert.

Harald Kamps

Harald Kamps hat viele Jahre als Hausarzt in Norwegen gearbeitet. Jetzt praktiziert er in Berlin - und wundert sich über eine Medizin, die nicht allen Menschen gleich gut hilft. Es kommt darauf an, ob man ein gesunder Kranker, ein kranker Gesunder, ein gesunder Gesunder oder ein kranker Kranker ist.

Gesundheitswesen: Wer in der Lage ist, all die Spezialisten aufzusuchen, für den steht im deutschen Gesundheitswesen alles bereit.

Wer in der Lage ist, all die Spezialisten aufzusuchen, für den steht im deutschen Gesundheitswesen alles bereit.

(Foto: Foto: AP)

Am besten funktioniert das deutsche Gesundheitswesen für gesunde Kranke. Also für Menschen, die eine definierte Krankheit haben und gesund genug sind, um die Vielzahl der zuständigen Ärzte aufzusuchen. Menschen, die an Diabetes leiden, hohen Blutdruck haben oder denen Nierenschwäche droht, können einen Service auf hohem Niveau genießen.

Es gibt genug Fachärzte, die eine umfassende Diagnostik betreiben, sie können ohne Einschränkungen die neuesten Medikamente verordnen. Wenn eine ernste Komplikation eintritt, ist der Notarzt nach wenigen Minuten zur Stelle, das nächste Krankenhaus hat ein Bett frei und versorgt die sich verstopfenden Herzkranzarterien mit einer Gefäßstütze neuester Bauart. Die Ärzte mögen überarbeitet sein, sie sind aber bestens qualifiziert, eine moderne Medizin zu garantieren.

Das war in Norwegen anders: Der nächste Diabetologe hatte erst in Monaten Termine frei, der Notarzt war ich als Hausarzt, und das Krankenhaus hatte Platz für neue Betten nur auf dem Korridor. Neue, wenig gut dokumentierte Medikamente durften nur mit Zustimmung eines Facharztes verschrieben werden. Wer eine vorübergehende Krankheit, etwa Halsweh, hatte, musste seine Medikamente selbst bezahlen.

Das norwegische Gesundheitswesen funktioniert am besten für kranke Gesunde - für Menschen also, die Angst haben, Darmkrebs zu bekommen, deren Darm in den letzten Jahren aber schon zweimal gespiegelt wurde. Menschen, die jeden Laut des Körpers verstärken und in ein bedrohliches Konzert umdeuten.

Für diese Menschen ist das deutsche Gesundheitswesen lebensgefährlich. Der Hausarzt weiß sich beim vierten Besuch im Lauf weniger Wochen nicht anders zu helfen, als doch zum Röntgen und zum Gastroenterologen zu überweisen. Irgendwann entdecken die Fachleute etwas, das im nächsten Quartal kontrolliert werden muss. Im schlimmsten Fall findet sich nichts. Dann findet sich aber bestimmt ein anderer Arzt, dem etwas Neues einfällt - eine Pilzinfektion oder eine gestörte Energiebalance etwa.

Vielleicht will der Körper auch in Ruhe gelassen werden?

In Norwegen hat der Hausarzt Zeit innezuhalten, gemeinsam mit dem Patienten zu erforschen, was der Körper erzählen will. Vielleicht will er ja auch nichts erzählen und nur in Ruhe gelassen werden. Dann muss sich der Mensch wichtigeren Dingen zuwenden - nur was ist, wenn es die nicht gibt? Auch das kann wichtig im Gespräch zwischen Arzt und Patient sein.

In Deutschland dauert dieses Gespräch durchschnittlich acht Minuten. In Norwegen war ich erschöpft, wenn ich mit 25 Menschen im Laufe eines Tages gesprochen habe. In meiner deutschen Hausarztpraxis sitzen an manchen Tagen mehr als 50 Menschen. Da wird es schwer, Energie für schwierige Gespräche zu mobilisieren. Seit ein paar Wochen macht eine neue Gebührenordnung den letzten Rest meiner Motivation kaputt. Sie bringt mir bei, dass das Zwei-Minuten-Gespräch genauso viel Geld einbringt wie das 20-Minuten-Gespräch.

Ähnlich verhält sich es sich mit den gesunden Gesunden. Denen geht es in Norwegen gut. Sie haben einen Hausarzt. Zumindest wissen sie um einen, denn sie haben sich einen ausgewählt, stehen auf seiner Liste. Wenn sie gesund bleiben, treffen sie ihn höchstens im Supermarkt.

Med. in Germany

Der Arzt freut sich über die gesunden Gesunden, die nie in die Praxis kommen. Mit 1500 solcher Gesunden auf seiner Liste kann er sicher sein, dass seine Praxisunkosten beglichen sind, bekommt er doch für jeden Honorar - für seine Bereitschaft, Arzt zu sein für diesen Menschen. Der Arzt kann sich seine Arbeitsbelastung wählen. Manche muten sich nur 1500 Menschen auf ihrer Liste zu, andere 2500 Menschen. Mehr mutet die Krankenkasse niemanden zu, da übermüdete Ärzte schlechte Ärzte sind. Da wird eher eine neue Stelle freigegeben.

In Deutschland müssen gesunde Gesunde, die krank werden, oft zehn Ärzte anrufen, um einen zu finden, der sein volles Wartezimmer für noch einen Kranken öffnet. Oder man fährt gleich in die Klinik, wartet mit Fieber Stunden auf einen Arzt, der sich besser mit dem Krankenhaus auskennt als mit den banalen Krankheiten da draußen. Schnell wird eine Blutuntersuchung oder ein Röntgenbild zu viel gemacht - so zur Sicherheit.

Die gesundheitsbewussten gesunden Gesunden gehen alle zwei Jahre zum Check-up und sichern sich so einen Hausarzt. Sie erkaufen das mit einem Eingriff in ihre Lebenswelt, der ihnen ungewollt neue Krankheiten bescheren kann - zum Beispiel zu hohe Cholesterinwerte. Von da an wird jeder genussvolle Biss in einen Camembert ein nagender Biss ins Gewissen.

Bisher hat niemand den Nutzen dieser Gesundheitsuntersuchung wissenschaftlich nachgewiesen. Sie sichert dem Arzt willkommene Einkommenspunkte, dem gesunden Gesunden einen Arzt und dem kranken Gesunden vielleicht eine Krankheit, die dem Apotheker ein regelmäßiges Rezept einbringt, aber dem Gesunden keinen zusätzlichen Lebensmonat. Rausgeworfenes Geld also.

Allgemeinmediziner der Universitäten Marburg und Düsseldorf haben ein Beratungsprogramm entwickelt, das anschaulich macht, dass hohe Cholesterinwerte oder hoher Blutdruck keine Krankheiten sind, sondern Risikofaktoren, die nur im Zusammenhang mit Alter, Lebensstil und Familiengeschichte aussagefähig sind. Diese Beratung verhindert, dass aus gesunden Gesunden mit einem Risikofaktor Patienten werden.

Gefährlicher ist dieses Gesundheitswesen für gesunde Frauen, die sich bereits ab dem 20. Lebensjahr einer Früherkennungsuntersuchung unterwerfen, die nachweislich erst ab dem 25. Lebensjahr einen kleinen Nutzen bringt, und die viel seltener angeboten werden sollte. Im besten Fall bildet nämlich der Körper Vorstufen zu einem Krebs des Gebärmutterhalses selbständig zurück - regelmäßig bei ganz jungen Frauen, oft auch bei älteren.

Im schlimmsten Fall findet der übereifrige Arzt Veränderungen, die aufwendig behandelt werden und der Frau vermitteln, dass der Arzt wieder einmal ein Leben gerettet hat. Im allerschlimmsten Fall entwickelt sich der Krebs ungehindert weiter, weil die Frau es leid ist, immer wieder zum Arzt zu gehen - "30 Jahre ist ja nichts passiert". In Norwegen ist zudem das Rezept für die Antibabypille zwei Jahre gültig. In Deutschland müssen gesunde junge Frauen viermal im Jahr zum Arzt und sich zu oft einer überflüssigen Untersuchung unterziehen.

In Deutschland sterben 80 Prozent im Krankenhaus, in Norwegen 20

Ein gutes Gesundheitswesen beweist sich im Umgang mit den kranken Kranken - zeige mir, wie du mit Sterbenden umgehst, und ich sage dir, wer du bist. In Deutschland sterben 80 Prozent aller Menschen im Krankenhaus, in Norwegen 20 Prozent. In Norwegen wurden alle Fachleute im Gesundheitswesen, von der Hilfsschwester bis zum Chefarzt, in den vergangenen 15 Jahren in den Standards der lindernden Medizin geschult. Um die Hausärzte zusätzlich zu motivieren, wird der Besuch bei Sterbenden besser bezahlt. Angehörige können sich vier Wochen krankschreiben lassen, ohne dass dies den Arbeitgeber Geld kostet. In Norwegen heißt es nicht "palliative Medizin", sondern "Fürsorge am Ende des Lebens". Diese Fürsorge ist nicht perfekt, aber besser als vor 15 Jahren.

Med. in Germany

In Deutschland muss alles perfekt sein: Mit neuen palliativen Spezialistenteams, mit mehrwöchigen Kursen für Ärzte. Ohne die Chance auf eine flächendeckende Versorgung aller sterbenden Menschen.

Das Lebensende wird im hyperaktiven deutschen Gesundheitswesen ausgeblendet. Hier werden Krankheiten behandelt, unabhängig vom Alter, fast unabhängig von den Menschen, die sie haben. Das Persönliche der kranken Kranken bleibt auf der Strecke, die persönlichen Sorgen und Lebensziele bleiben im Dunkeln. Nicht alle Menschen wollen um jeden Preis ein paar Jahre länger leben, andere würden alles über sich ergehen lassen, um noch ein paar Monate Lebenszeit zu gewinnen.

Viele deutsche Universitäten versagen, da sie angehenden Ärzten kaum vermitteln, wie sie solche schwierigen Gespräche führen sollen. Im hektischen Krankenhausalltag ist es für ein Umdenken zu spät. Und wenn der kranke Kranke es geschafft haben sollte, zum Facharzt zu kommen, entdeckt er, dass im Wartezimmer viele gesunde Kranke sitzen, die verhindern, dass der Facharzt ihn mit seiner ganzen Kompetenz behandeln kann. Hausärzte haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht - nämlich zu entscheiden, wer dringend weitergehender Diagnostik oder Behandlung bedarf oder wer eher das erforschende Gespräch mit dem Hausarzt braucht.

Aber auch den kranken Kranken, die zu Hause sind, geht es im deutschen Gesundheitswesen schlecht. Sie kommen mit dem Rollstuhl nicht mehr die Treppe hoch in den zweiten Stock zum Diabetologen, der Neurologe macht keine Hausbesuche. Der Hausarzt hat die Entwicklung seiner eigenen Kompetenz mit dem gelben Überweisungsschein an den Facharzt abgegeben.

Er kennt nicht mehr die Prinzipien der Insulintherapie, weiß nicht, wie er das Morphium angemessen dosieren muss, hat die Tricks der modernen Wundbehandlung nie erlernt - wenn er nicht weit draußen auf dem Lande wohnt, wo die Wege zum Facharzt so beschwerlich sind wie die zwischen norwegischen Fjorden.

Wellness, Callcenter, Kunden

Es tut sich viel im deutschen Gesundheitswesen. Krankenkassen glauben, ihren Mitgliedern mit mehr Wellness mehr Gesundheit zu schenken. Sie vertrauen auf Callcenter, um asthmakranke Mitglieder an die Einnahme ihrer Sprays zu erinnern. Bankberater machen Ärzten weiß, dass sie ohne private Dienstleistungen nicht überleben können und dass die Qualität einer Praxis verbessert wird, wenn der Kunde König ist.

Aus meiner täglichen Erfahrung als Hausarzt und 20 Jahren in einem anderen System wünsche ich mir ein Gesundheitswesen, in dem die kranken Kranken die beste Betreuung bekommen. Alle und überall. Nicht nur in Regionen, in denen viele privat versichert sind. Kranke Kranke sind oft nicht die Wunschpatienten: Sie sind zu dick, rauchen zu viel, sind arm, haben es nicht zu ausreichender Bildung geschafft, sind arbeitslos und nicht an den schönen Wellness- und Vorsorgeangeboten interessiert.

Gerade deswegen brauchen sie ein von Solidarität geprägtes Gesundheitswesen. Alle Änderungen im System müssten sich daran messen lassen. Wir brauchen ein Gesundheitswesen, in dem kranke Gesunde vor unnötiger Diagnostik und Behandlung geschützt werden. Dies kann nur geschehen, wenn Arzt und Patient innehalten, um über Ängste und Befürchtungen nachzudenken oder um die Bedeutung körperlicher Lebenserfahrungen auszuloten.

Das geht nicht in acht Minuten. Das erfordert, dass alle Ärzte den Dialog mit den Patienten üben. Bisher versagen hier die Universitäten. Wir brauchen ein Gesundheitswesen, das die gesunden Gesunden davor schützt, zu gesunden Kranken zu werden. Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen dürfen nur angewendet werden, wenn ihr Nutzen wissenschaftlich erwiesen ist. Menschen dürfen nicht leichtfertig zu Patienten werden.

Jeder Mensch sollte einen Hausarzt haben, auch wenn er gesund ist - und ihn nicht aufsucht. Menschen brauchen Informationen, die sie stärken, um gewöhnliche Gesundheitsprobleme selbst zu lösen. Sie brauchen einen Hausarzt, der kein ökonomisches Interesse daran hat, dass sie jedes Quartal in seine Praxis kommen. Wenn dann noch Zeit ist, kann das Gesundheitswesen das Angebot für gesunde Kranke organisieren.

Die gesunden Kranken freuen sich auch über die Betreuung von speziell ausgebildeten Krankenschwestern oder Physiotherapeuten. Gesunde Kranke geben vielleicht auch Geld aus für Angebote, deren Wert zweifelhaft ist. Die gesunden Kranken sind das kleinste Problem - genießen aber im deutschen Gesundheitswesen die größte Aufmerksamkeit.

Eine längere Version dieses Textes ist im Deutschen Ärzteblatt erschienen.

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