Geschichte der Menschheit:Unbewusste Heldentaten

Studie: Bäuerliche Lebensweise führte zu Zahnfehlstellungen

Ein Bauer in Asagirt, Äthiopien, pflügt seinen Acker. Die großen Leistungen der Menschheit beruhen auf dem Ackerbau. "Ohne Kulturpflanzen", so Hansjörg Küster, "wäre die Geschichte der Menschheit völlig anders verlaufen. Vielleicht hätte sie gar nicht stattgefunden."

(Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Mit seiner grandiosen Geschichte des Ackerbaus gibt Hansjörg Küster den gegenwärtigen Debatten darüber, was wir essen und was wir sind, eine historische Perspektive.

Von Burkhard Müller

Hansjörg Küster hat uns bereits eine Geschichte des Waldes, der Elbe, des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs und der Landschaft in Mitteleuropa gegeben. Diesmal geht der Pflanzenökologe an der Universität Hannover aufs Ganze und legt "Eine andere Geschichte der Menschheit" vor - dies der Untertitel seines neuen Buchs "Am Anfang war das Korn".

Die Menschheit mag stolz sein auf ihre Imperien, Kathedralen und Mondreisen, aber alles das basiert auf einer Grundvoraussetzung, über die sie nur selten nachdenkt: dem Ackerbau. "Ohne Kulturpflanzen", beginnt der Autor seine Erzählung, "wäre die Geschichte der Menschheit völlig anders verlaufen.

Vielleicht hätte sie gar nicht stattgefunden. Menschen wären Jäger und Sammler geblieben, die sich die Erde nicht untertan gemacht hätten. Die Schrift wäre nicht erfunden worden, weil sie nicht gebraucht wurde. Menschen hätten keine Städte und Staaten gegründet, weil dazu keine Notwendigkeit bestand, hätten nie Industrieanlagen gegründet.

Weichenstellung der besonderen Art

Es war eine Weichenstellung besonderer Art, die die Menschen vor etwa zehntausend Jahren dazu brachte, Pflanzen oder Teile von ihnen nicht nur zu sammeln, sondern auch zu produzieren: durch Anbau von Kulturpflanzen auf einem Feld oder in einem Garten."

Lange wusste man sehr wenig über jene schriftlose Vorzeit, in der diese erstaunliche Weichenstellung geschehen war. Fast ausschließlich auf die kärgliche Evidenz von Gerätefunden angewiesen, sortierte die Geschichtsschreibung die Epochen nach Stein-, Bronze- und Eisenzeit, obwohl der entscheidende Epochenbruch noch mitten in der Steinzeit geschah.

Und obwohl noch immer sehr vieles, ja das Meiste dieser frühen Revolutionäre im Dunkel liegt und man kaum weiß, was für eine Rasse, Sprache, Religion sie hatten, lässt sich doch inzwischen ziemlich detailliert nachzeichnen, was sie aßen und wo sie es herbekamen.

An vielen Stellen annähernd gleichzeitig wurde nach dem Ende der letzten Eiszeit die gleiche Entdeckung gemacht: dass man das Leben sichern und erleichtern und viel mehr Menschen auf demselben Stück Land das Dasein ermöglichen konnte, wenn man ein kleines Set einander ergänzender Pflanzen planvoll auf einem Acker ausbrachte.

Dazu gehörten immer mindestens zwei Arten Getreide (in den Tropen: Knollengewächse), ein Öl- und ein Proteinlieferant sowie eine Faserpflanze für die Kleidung. Im vorderasiatischen Raum, der zur Keimzelle auch der gesamten europäischen Landwirtschaft wurde, waren das Einkorn, Emmer, Gerste, ferner Linsen und dicke Bohnen, dann Flachs und Hanf.

Man erfährt ziemlich viel über diploide und tetraploide Kreuzungen, darüber, unter welchen Mühen Kulturrassen von Wildpflanzen abgetrennt wurden und wie viel es die frühen Menschen gekostet haben muss, bis sie Ähren hatten, aus denen die Körner nicht herausfielen, sobald sie reif waren, sondern beieinanderblieben, bis man sie auf einmal drosch.

Oder Küster vergleicht den antiken Wirtschaftsraum des Mittelmeers und den mittelalterlichen der Ostsee und kommt zum Ergebnis, dass ein zukunftsfähiges Modell des Welthandels, obwohl auf einer begrenzten Fläche, tatsächlich erst auf der Ostsee eingeübt wurde: weil hier nämlich alle Anrainer unterschiedliche Erzeugnisse lieferten - der Süden Getreide und weitere Nahrungsmittel, der Norden Holz, Eisen und anderen Rohstoff - und erst in deren Austausch zu einem Ganzen fanden.

Das Buch bietet eine tiefe Geschichte, die sich nicht von oberflächlichen Bewegungen in Raum und Zeit beirren lässt. Es wird ersichtlich, wie kohärent das Geschick der bodenbestellenden Zivilisationen seit den frühen Anfängen verlief, aber auch, wie viel grundstürzender die Veränderungen waren, die das alltägliche Leben betrafen.

Zerstörerischer Raubbau in jeder Hinsicht

Europa war, wie der Autor es sieht, in der frühen Neuzeit ökologisch am Ende; mit begrenzten Mitteln und Methoden betrieb es zerstörerischen Raubbau in jeder Hinsicht, an Boden, Wasser und Wäldern, und es bestand die akute Gefahr, dass eine komplette Zivilisation unterging, ähnlich wie bereits die römische während der Völkerwanderungszeit.

Da wurde, sozusagen gerade rechtzeitig, Amerika entdeckt, das bislang unbekannte, hochergiebige Massennahrungsmittel wie Kartoffeln und Mais lieferte, neue Konzepte zur Nachhaltigkeit wurden entwickelt und der Druck von Wald und Boden genommen, indem man Kohle (zum Brennen) und Kunstdünger (zur Wiederherstellung der Fruchtbarkeit) nutzte, Entlastung für die Lebenssysteme also aus dem Reich des Unbelebten nahm.

Von wegen gute alte Zeit! Das, was man sich immer so darunter vorstellt, die bunten Blumenwiesen und hübschen Bauerngärten, sind junge Errungenschaften. Wiesen muss man düngen, was aufwändig ist, und dazu im Besitz der Sense sein. Und Gärten legten die Bauern erst in der Neuzeit an, ja eigentlich erst im 19.und 20. Jahrhundert - das unterblieb vorher schon aus dem Grund, weil so ziemlich alle heutigen Gemüse- und Obstsorten ganz junge Züchtungen darstellen. Das Essen im Mittelalter muss ungeheuer fade und monoton gewesen sein.

Absage an den naiven Kampfruf "Zurück zur Natur!"

So bedeutet dieses Buch vor allem eine Absage an den naiven Kampfruf "Zurück zur Natur!". Die Alternative von Kultur und Natur stellt sich ihm gar nicht: Auf der einen Seite war Landwirtschaft nie Natur. Auf der anderen Seite gedeiht aber auch die Kultur der Pflanzen und Tiere immer nur, indem sie sich natürliche Lebens- und Wachstumsprozesse zunutze macht.

Küster betrachtet manche panisch geführten Diskussionen der Gegenwart mit Gelassenheit. Warum sollte es keine gentechnischen Veränderungen geben? Leisten sie doch nur auf kürzerem Weg, wozu die klassische Züchtung länger braucht, nämlich die Veränderung des Erbguts. Sollte es Eigentumsrecht und Patente auf so erzeugte neue Pflanzensorten geben?

Das, meint der Autor, sei unter wirtschaftlichen und juristischen Gesichtspunkten vielleicht wünschenswert, biologisch aber undurchführbar, da jede Sorte sich in den Folgegenerationen schon wieder neu zu verändern beginnt, so dass gar nichts in der Hand bleibt, was sich patentieren ließe.

Gerade weil Küster im Hauptberuf Ökologe ist, sieht er ökologische Fragen differenzierter. Ein gespritzter Apfel belastet den Konsumenten nicht mit Chemikalien; aber ein ungespritzter dafür vielleicht mit noch viel ungesünderen Schimmelpilzen. Sind die vielen Lebensmittelskandale der jüngeren Zeit ein Zeichen, dass die Qualität der Nahrungsmittel zurückgeht?

Eher im Gegenteil, sie beweisen, dass die Kontrollen schärfer geworden sind und der allgemeine Standard also gestiegen ist. Die heutige industrielle Landwirtschaft bereitet Probleme, gewiss; aber sie sorgt auch dafür, dass das Gros der Menschheit so gut ernährt werden kann wie noch nie in der Geschichte.

Nahrungsmittel sind heute jederzeit ohne Anstrengung preiswert überall zu haben, ein Supermarkt ist der wahre Garten Eden - wollen wir das wirklich aufgeben? Die Infrastruktur der Versorgung hält Küster für die wahre zivilisatorische Großtat der Menschheit, nicht minder bemerkenswert, weil sie kollektiv und heldenlos vollbracht wurde.

Der Mensch ist, was er isst: Dieser alten Binse verleiht Küster eine neue Tiefe und Evidenz und gibt den gegenwärtigen Debatten darüber, was wir essen und sind, historische Perspektive.

Wenn man gegen das Buch etwas einwenden könnte, dann höchstens, dass es angesichts der Riesenhaftigkeit seines Themas allzu schmal ausgefallen ist. Rund 250 Pflanzen-Spezies zählt das Register zwischen Ackerbohne und Zwiebel auf; es ist dann doch zu viel, als dass alle zu ihrem Recht gelangen könnten.

Der Mittelteil geht da manchmal etwas ins Listenförmige über. Auch wäre der Leser zuweilen, da er eben doch tief in die Botanik speziell der Getreidesorten hinein muss, für einige Kommentare und besonders Zeichnungen dankbar gewesen.

Der Raum dafür hätte sich leicht finden lassen, wenn die zahlreichen Wiederholungen bestimmter Details ausgedünnt worden wären; der Information etwa, dass Hartweizen sich wegen seines hohen Gluten-Gehalts vor allem für die Herstellung von Nudeln eignet, begegnet man gleich viermal.

Davon sollte man sich jedoch die Lektüre dieses gehaltvollen und aufschlussreichen Werks nicht verderben lassen. Sein größter Mangel und zugleich das Beste, was sich von ihm sagen lässt: Es enthält in embryonaler Gestalt noch eine ganze Reihe weiterer Bücher, die darauf warten, geschrieben zu werden.

Hansjörg Küster: Am Anfang war das Korn. Eine andere Geschichte der Menschheit. Verlag C.H. Beck, München 2013. 298 Seiten, 24,95 Euro.

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