Geomythologie:Die Geister im Stein

Geologen erkennen: Überlieferungen von Ureinwohnern sollte man nachgehen, denn sie können auf drohende Naturkatastrophen hinweisen.

Kevin Krajick

Die beiden geben ein seltsames Paar ab, wie sie da am Strand bei Seattle nach einem rötlichen Sandsteinblock suchen: James Rasmussen, der Besitzer eines Ladens für gebrauchte Schallplatten, und die Seismologin Ruth Ludwin von der University of Washington. Sie folgen einem Mythos der Ureinwohner; Rasmussen gehört trotz seines Nachnamens dem lokalen Duwamish-Stamm an.

Dessen Legende sagt, der Fels sei von a'yahos besessen, einem Geist mit dem Körper einer Schlange und den Vorderläufen sowie dem Geweih eines Hirsches. Und die Überlieferung warnt davor, a'yahos anzublicken, denn der Geist könne den Boden beben lassen.

"Ich wusste nicht, wovon mein Großvater sprach, bis ich von den wissenschaftlichen Fakten hörte", sagt Rasmussen. Erst in den neunziger Jahren hatten Geowissenschaftler entdeckt, dass unter Seattle eine Erdspalte verläuft. Spuren im Boden belegten, dass die Region vor 1100 Jahren von einem gewaltigen Beben erschüttert worden sein muss. Ludwin, Rasmussen und andere haben inzwischen fünf Orte dokumentiert, die indianische Mythen mit Erdbewegungen verknüpfen - und alle liegen an der Spalte.

Weil immer mehr Geoforscher ihre Daten mit solch alten Geschichten vergleichen, hat sich dafür schon ein Name entwickelt: Geomythologie. Es gibt Konferenzen darüber, in Kürze wird ein Buch zum Thema erscheinen. "Früher war das ein guter Weg, seinen Ruf zu ruinieren", sagt der Vulkanologe Floyd McCoy von der University of Hawaii. Schnell landete man in der Ecke der Atlantis-Sucher und anderer Spinner. "Aber ich wäre doch ein Narr, wenn ich die Mythen komplett abschreiben würde."

Eiszeitschmelze Hinweis auf Sintflut?

Das hat sich bei dem Tsunami gezeigt, der Ende 2004 fast 300000 Menschen am Indischen Ozean das Leben gekostet hat, aber kaum jemandem vom Volk der Moken in Thailand. Ihre Überlieferung warnt davor, dass eine menschenfressende Welle komme, wenn sich das Meer plötzlich zurückziehe - wie das vor einem Tsunami geschieht. Die Moken erkannten das Zeichen und überlebten.

Solchen Überlieferungen gehen Geologen erst seit gut 20 Jahren nach, und zunächst hatten sich nur Forscher mit fester Anstellung daran gewagt. Große Aufmerksamkeit bekam in den neunziger Jahren die These von Walter Pitman und William Ryan von der Columbia University. Der Anstieg des Mittelmeeres nach der Eiszeit habe vor 7600 Jahren dazu geführt, dass das Wasser plötzlich die damals vorhandene Landbrücke am heutigen Bosporus überflutet habe.

Es sei ins tiefer gelegene Schwarze Meer geströmt, und bildet womöglich den Kern der biblischen Sintflut-Geschichte. Zuletzt stellte Ryan neue Ergebnisse im Oktober auf einer Konferenz in Istanbul vor, also direkt am Bosporus; inzwischen wächst die Akzeptanz, dass es eine Flut am Schwarzen Meer gegeben haben muss.

Mittlerweile beginnen Geologen sogar, Mythen als Warnung vor unerkannten Gefahren zu betrachten. Patrick Nunn von der Universität des Südpazifik auf der Hauptinsel von Fidschi sammelt daher zurzeit - finanziert vom französischen Staat - bei den Ureinwohnern Geschichten, in denen die Götter Eilande aus dem Meer reißen und zurückschleudern. Das könnte Nunns Meinung nach auf Inseln verweisen, wo Wissenschaftler Anzeichen für Erdbeben oder Vulkanismus suchen sollten. In einigen Fällen betreffen die Mythen Landmassen, die versunken sind, seit europäische Entdecker sie vor einigen Jahrhunderten in ihren Reiseberichten beschrieben haben.

Einmal hat die Legende sogar über die wissenschaftliche Expertise triumphiert. Die Bewohner der Vulkaninsel Kadavu erzählten sich von einem Berg, der über Nacht gewachsen sei. 1988 untersuchte Nunn den Vulkan am Ort und schloss zunächst, dass es seit 50000 Jahren keinen Ausbruch mehr gegeben habe. Da die Insel erst seit 3000 Jahren bewohnt ist, müsse die Legende importiert sein. Monate später legten Bauarbeiten die Scherben von Töpferware unter meterdicker Asche frei. "Der Mythos hatte Recht, wir hatten uns geirrt", gibt Nunn zu.

Auch am Nyos-See in Kamerun haben Legenden Forschern geholfen, eine Katastrophe einzuordnen - und womöglich weitere zu verhindern. Dort hatte eine Explosion 1986 etwa 1700 Menschen getötet. Nach langem Rätseln erkannten Geologen, dass sich unter dem Wasser Kohlendioxid angesammelt hatte, das, schlagartig freigesetzt, Mensch und Tier am Ufer erstickt hatte.

Offenbar war das kein einmaliges Geschehen: In der Region gibt es viele Geschichten von verwunschenen Seen, die ansteigen, versinken oder eben explodieren. In etlichen Stämmen ist es tabu, am Ufer der Seen zu leben, sagt die Anthropologin Eugenia Shanklin vom New Jersey College. Forscher wissen inzwischen, dass sich das tödliche Gas auch in anderen Seen ansammelt, darunter der Monoun und der riesige Lake Kivu in Ostafrika, an dessen Ufern zwei Millionen Menschen leben.

Die Mythen "haben uns geholfen zu erkennen, dass es früher Ausbrüche gegeben hat, und dass sie wieder passieren werden", sagt der Geochemiker William Evans von der amerikanischen Geologiebehörde USGS. Er arbeitet daher in einem Projekt mit, um das Gas aus Nyos und Monoun abzuleiten.

Fußabdruck führt in die Unterwelt

Selbst in Europa leiten Mythen bisweilen die Forschung. Luigi Piccardi vom Nationalen Forschungsrat Italiens ist der christlichen Überlieferung nachgegangen, wonach der Erzengel Michael im Jahr 493 auf dem in Süditalien seinen Fußabdruck hinterlassen habe. Ein Hinweis,Monte Sant'Angelo sagt Piccardi, auf ein bisher nicht dokumentiertes Erdbeben.

Bei Ausgrabungen fand der Forscher dann den "Fußabdruck": eine krasse Verwerfung. Und offenbar kannte schon die Antike den Ort. Sie betrachtete ihn als Zugang zur Unterwelt, geweiht dem Seher Kalchas, von dem auch Homers " Illias" erzählt. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse hat das staatliche Institut für Geophysik und Vulkanismus die Gegend zu einer seismischen Hochrisikozone erklärt.

Angesichts solcher Erfolge denken manche Forscher schon darüber nach, wie sich Mythen systematisch übersetzen lassen. Andere warnen, das Pendel sei schon zu weit ausgeschlagen. "Zu viele Wissenschaftler nutzen Mythen, um alles Mögliche zu erklären", klagt Benny Peiser von der John Moores University in Liverpool, der Leiter des Cambridge Conference Network, das Katastrophentheorien im Internet erörtert. Keine der großen Mythen über Katastrophen wie den Untergang von Sodom und Gomorrha habe bisher wissenschaftlichen Beistand gefunden, sondern nur einige regionale.

Und nicht einmal die stimmen immer, wie James Rasmussen und Ruth Ludwin bei ihrem Strandspaziergang feststellen. Der Felsblock mit a'yahos liegt nicht mehr am vermuteten Ort. Stattdessen steht dort ein Holzsessel vor einem Strandhaus. "Vielleicht hat ihn jemand weggeschafft", sagt Ludwin. "Vielleicht hat ihn die Flut vergraben", erwidert Rasmussen. Sie stochern eine Weile im Sand, bis Rasmussen eine eher mythische Erklärung findet: "Vielleicht zeigen sich manche Dinge für eine Weile, und wir verstehen etwas. Dann gehen sie weg und wollen nicht mehr gefunden werden."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: