Genetik:Sprache des Schicksals

Die israelische Forscherin Rivka Carmi wollte die Menschen in der Negev-Wüste vor der erblichen Taubheit bewahren. Doch sie scheiterte.

Von Kai Kupferschmidt

Rivka Carmi ist seit vielen Jahren nicht mehr in Al-Sayyid gewesen. Dabei hat die Medizinerin lange in dem Dorf gearbeitet und lebt noch immer ganz in der Nähe. Carmi hat eine wichtige Rolle in der Geschichte von Al-Sayyid gespielt: Sie hat die Ursache für die Taubheit der Bewohner gefunden. Doch obwohl einige Menschen sie immer wieder einladen, bleibt sie dem Dorf fern. "Vermutlich ignoriere ich diese Einladungen, weil ich mich noch immer schuldig fühle", sagt Carmi. "Wir waren furchtbar naiv damals."

Heute wirkt die 66-Jährige alles andere als naiv. Sie ist Präsidentin der Universität von Be'er Sheva in der Negev-Wüste, die erste und noch immer einzige Frau an der Spitze einer israelischen Universität. Carmis Credo: Die Zukunft Israels liegt im Negev. Die Wüste erstreckt sich über die Hälfte des Staates Israel, aber nur 14 Prozent der Menschen leben hier. Be'er Sheva ist die einzige größere Stadt. Carmi ist in den 1980er-Jahren hierher gezogen. Sie hat in Jerusalem und Boston medizinische Genetik studiert.

Carmi interessiert sich für die Sprache des menschlichen Erbguts. Es besteht aus drei Milliarden Buchstaben. Steht ein einziger an der falschen Stelle, kann das Krankheit oder Tod bedeuten. In der Negev-Wüste ist diese Gefahr besonders groß. In den vergangenen Jahrhunderten haben sich hier zahlreiche Beduinenstämme niedergelassen. "Es ist üblich, innerhalb des Stammes zu heiraten", sagt Carmi. "Häufig werden Ehen zwischen Cousins geschlossen und das erhöht das Risiko zahlreicher Erbkrankheiten."

In Be'er Sheva beginnt Carmi früh, diese Krankheiten zu untersuchen. Häufig sind es Geburtsdefekte mit geistiger Behinderung. Die Genetikerin identifiziert drei bis dahin unbekannte Erbleiden, eines davon heißt heute Carmi-Syndrom, und die genetische Ursache für zwölf weitere. Mitte der 1990er-Jahre beschließt die Forscherin, die Ursache für die vielen gehörlosen Menschen in Al-Sayyid zu suchen. Sie nimmt in dem Dorf Blutproben. Schließlich gelingt es ihr zusammen mit Forschern aus den USA, die verantwortliche Mutation zu finden. Sie liegt in einem Gen namens Connexin 26. Es ist ein einziger Erbgut-Buchstabe, der dort fehlt, an Position 35. Versucht die Zelle das Gen abzulesen, kommt sie durcheinander, es entsteht ein verstümmeltes Eiweiß. Die Folgen sind dramatisch.

Normalerweise lagern sich mehrere Eiweiße zusammen und bilden Kanäle in der Zellmembran. Durch sie können Signale von einer Zelle in die nächste wandern. Das verstümmelte Gen Connexin 26 führt dazu, dass diese Kanäle in wichtigen Sinneszellen im Ohr nicht richtig aufgebaut werden. Die Schallwellen, die aufs Trommelfell treffen, können nicht in ein elektrisches Signal umgewandelt werden. Wer davon betroffen ist, hört nichts.

In Schein einer Öllampe erläutert sie, wie die Gene weitergegeben werden - von Generation zu Generation

Mit diesem Wissen will Carmi damals den Menschen im Dorf helfen. Abend für Abend erklärt sie den Bewohnern, was sie herausgefunden hat. Im Zelt, beim Schein einer Öllampe, erläutert sie, wie die Gene weitergegeben werden von Generation zu Generation: Die Mutation ist rezessiv, sagt sie. Das bedeutet, ein Mensch ist nur dann gehörlos, wenn er das fehlerhafte Gen doppelt im Erbgut trägt. Einmal vom Vater, einmal von der Mutter.

Heiraten zwei Gehörlose, geben sie beide je eine Kopie des fehlerhaften Gens an ihren Nachwuchs weiter. In diesem Fall werden alle ihre Kinder taub geboren. Heiraten zwei Menschen, die nicht taub sind, können sie trotzdem gehörlose Kinder bekommen. Nämlich dann, wenn beide eine Kopie des fehlerhaften Gens im Erbgut tragen. Dann bekommt im Schnitt jedes vierte Kind das defekte Gen vererbt und kommt gehörlos zur Welt.

Aber Carmi hat eine Idee, wie sich das verhindern lässt. Ihr Vorbild heißt "Dor Yeshorim", "die fromme Generation". Ein Projekt, das 1980 von Joseph Ekstein, einem Rabbi in New York, gegründet wurde. Ekstein hatte vier seiner Kinder durch eine unheilbare Erbkrankheit verloren, an der Kinder meist vor ihrem dritten Geburtstag sterben, und die bei Juden besonders häufig auftritt. Eksteins Idee ist simpel: Das Erbgut junger Männer und Frauen wird auf die Erbanlagen für diese sogenannte Tay-Sachs-Krankheit und einige andere Leiden untersucht. Sie erhalten kein Ergebnis, aber es wird unter einer Identifikationsnummer gespeichert. Heiratsvermittler oder die Heiratswilligen selbst können dann per Telefon zwei Identifikationsnummern angeben und erfahren, ob eine Gefahr besteht, dass gemeinsame Kinder an einer der Krankheiten leiden werden. Die potenziellen Eltern erfahren aber nicht, welcher der Partner Träger welches Krankheitsgens ist.

Carmi wollte etwas Ähnliches in Al-Sayyid etablieren. Doch das Projekt scheiterte. Viele der Bewohner wollten kein anonymes System, sondern ihren eigenen Trägerstatus und den ihres zukünftigen Partners wissen. "Sobald klar war, dass eine Frau Trägerin ist, war sie nur noch zweite Wahl", erinnert sich Carmi. Selbst wenn der Mann kein Träger war, und er die Genetik verstand und wusste, dass er keine gehörlosen Kinder haben würde, wollte er die Frau nicht mehr heiraten. So stieß der Test bei vielen Bewohnern auf Ablehnung.

Am Ende zogen sich die Mediziner zurück. Für eine gewisse Zeit sei das Dorf in Aufruhr gewesen, sagt Carmi. Dabei hätten es die Menschen in Al-Sayyid bis dahin geschafft gehabt, eine Gemeinschaft aufzubauen, in der Taube und Menschen, die hören können, zusammenleben. "Wir sind da hineingekommen und haben dieses Ökosystem zerschmettert", sagt die Forscherin selbstkritisch.

Ein Fall nagt besonders an Carmi: Ein junger Mann aus Al-Sayyid, der dem Team bei seiner Arbeit geholfen hatte. Er sagte mehrfach, dass er keine gehörlosen Kinder wolle. Doch dann heiratete er seine Cousine. "Wir haben ihm geraten, einen Test zu machen", sagt Carmi. "Aber das wollte er nicht." Zunächst schien auch alles gut zu gehen. Das erste Baby des Paares konnte hören. Das zweite auch. "Ich habe aufgeatmet und gedacht: Gut, sie sind nicht betroffen", sagt Carmi. Doch dann kam das dritte Kind zur Welt - gehörlos. Inzwischen habe die Familie sechs Kinder, vier von ihnen seien taub, sagt Carmi. "Dabei kannte dieser Mann die Risiken." Aber die Genetik zu verstehen, sei nur ein Teil der Sache. Wenn es darum gehe, Entscheidungen zu treffen, spielten auch andere Beweggründe eine Rolle. Viele Menschen empfänden die Erbkrankheit als Schicksal, sagt Carmi. "Ich glaube, dieser Mann hat das auch so gesehen."

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