Gemischte Gefühle: Staunen:In den Gucklöchern der Metaphysik

Das Staunen gilt vielen Menschen als Zeitverschwendung - dabei hilft es, sich selbst gelegentlich in Frage zu stellen.

Christopher Schrader

Es ist wahrscheinlich die größte Herausforderung und der größte Triumph im Berufsleben jedes Lehrers: eine Gruppe 14-jähriger Jungen zum Staunen zu bringen. Das Gefühl, von etwas Neuem überwältigt zu sein, widerspricht komplett ihrem Blick auf das Leben.

Supernova-Explosionswolke

Bilder aus den Weiten des Weltraums lassen den Menschen unweigerlich staunen über die gewaltigen Dimensionen des großen Ganzen und den eigenen Platz im Kosmos.

(Foto: dpa)

Jugendliche dieses Alterns stecken in der Pubertät. Sie bestärken sich gegenseitig darin, dass sie alles wissen und der Rest irrelevant ist. Mindestens einer ist immer dabei, der die verblüffenden Ereignisse bei einem Experiment, die rührende Szene in einem Film, das mitreißende Musikstück oder die bezaubernde Landschaft als unbedeutend abtut - und dann trauen sich die anderen in der Gruppe nicht mehr, so etwas wie Staunen erkennen zu lassen.

Dieses Gefühl billigt die moderne Gesellschaft ohnehin vornehmlich kleinen Kindern und Hinterwäldlern auf Besuch in der Stadt zu. Es gilt als Zeichen mangelnder Welterfahrung, als provinziell, geradezu peinlich. Weil Menschen ohnehin sehr individuell auf mögliche Anlässe zum Staunen reagieren, ziehen sich auch Erwachsene mit einem zynischen, herablassenden oder angestrengt-rationalen Spruch aus der Affäre. Sie lassen es dann gar nicht mehr zu, was nach Erkenntnissen der Neurologen bei Überraschung im Hirn passiert, dass nämlich die Aufmerksamkeit vom zielgerichteten auf ein stimulusabhängiges Verhalten umschaltet.

Die oft mit dem Staunen verbundene Körperhaltung - weit aufgerissene Augen, starrer Blick, offener Mund, hängende Schultern - macht den Staunenden nicht nur in den Augen Jugendlicher lächerlich. Und die innere Verwirrung, die das Staunen auslöst, gefährdet gerade für pubertierende Jugendliche die mühsam erworbene, nicht unbedingt gefestigte Identität.

Dieses inneren Aufruhrs wegen behandelt die deutsche Sprache das Staunen trotz der passiven Körperhaltung als aktiven Vorgang, anders als etwa das Englische oder Französische. Es ist im wahrsten Sinn ein gemischtes Gefühl: Konfrontiert mit dem staunenswerten Objekt, verliert der Staunende seine mentale Balance.

"Die sich unmittelbar einstellende Erkenntnis kann wie ein Geschenk erlebt werden - sie kann jedoch auch als lähmende, Entsetzen und Ungläubigkeit hervorrufende Betroffenheit in ein naives Individuum hereinbrechen", hat der Ulmer Psychologe Xaver Bacherle die Gefühlskaskade einmal in einem Vortrag beschrieben.

Im Staunen erkenne der Mensch die "Diskrepanz zwischen innerer Vorstellungswelt und der wahrgenommenen äußeren Realität", ergänzte sein Frankfurter Kollege Mathias Hebebrand, und das kann so schmerzhaft wie befreiend sein.

Ähnlich sieht es die Erziehungswissenschaftlerin Annemarie Schulte-Janzen von der Universität Köln: "Durch das Stören des inneren Gleichgewichts könnte man das Staunen im engeren Sinne als negativ ansehen. Rückblickend wird es jedoch als positiv und beglückend empfunden." Sie propagiert das Staunenlernen daher als Weg zu nachhaltigem Fortschritt im Unterricht. Zusammenfassend sagt Ekkehard Martens von der Universität Hamburg, der unter anderem ein Buch über das Gefühl geschrieben hat: "Allein der Mensch ist in der Lage, zu sich zu kommen, indem er außer sich gerät."

Ursprung des Glaubens oder der Wissenschaft?

Diese mentale Berg-und-Talfahrt ist daher von großen Denkern gelobt worden, und dabei spannt sich ein verblüffender Bogen: Platon und Aristoteles bezeichneten das Staunen als Anfang der Philosophie, und damit jeder Wissenschaft. Ähnlich argumentierte Albert Einstein, als er sagte: "Wer nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot."

Der amerikanische Traumforscher Kelly Bulkeley von der Universität im kalifornischen Berkeley nennt Staunen die "Begegnung mit etwas Neuem und Unerwartetem, das eine Person als ausgesprochen wahr, real und/oder schön beeindruckt" - oft im Sinne einer höheren Wahrheit.

Der Philosoph Karl Jaspers erkannte im Staunen die "Gucklöcher der Metaphysik", nicht zuletzt weil die zunächst unerklärlichen, bestaunten Phänomene auch religiösen Charakter haben können und das Denken abseits eingespielter Muster die Suche nach einem Sinn der Welt anstößt. Tatsächlich erhebt auch die Religion Anspruch auf das Staunen als Ursprung des Glaubens. "Das Licht der Herrlichkeit Christi führt den Menschen ins Staunen", behauptet der evangelische Theologe Eberhard Jüngel von der Universität Tübingen. Eine Akademie für christliche Philosophie hat sich folglich die Internetseite staunen.info gesichert.

Banal oder sakral?

Dass sowohl Wissen als auch Glauben dieses Gefühl als Ausgangspunkt betrachten, hängt mit dem Begriff des Wunders zusammen. "Staunen ist offenbar die subjektive Seite eines als Wunder empfundenen Phänomens", sagt der Historiker Till Kössler von der Universität München, der ein Buch über das Verhältnis beider herausgibt. "Wunder" ist dabei ein schillernder Begriff, der sich leicht missbrauchen lässt.

Die junge Sowjetunion zum Beispiel, erzählt Kössler, hat sich dessen Anfang des 20. Jahrhundert reichlich bedient. Die verblüffenden, aber letztlich rational zu erklärenden Fortschritte in Industrie und Gesellschaft bezeichnete die offizielle Propaganda gern als Wunder, während sie zugleich den frömmelnden Wunderglauben der einfachen Russen zurückdrängte oder noch besser auf den Staat umzulenken versuchte.

Die Zwiespältigkeit des Wunders färbt dabei auf das Staunen ab. Für die einen verbirgt sich hinter vermeintlichen Wundern ein durch die Wissenschaft zu erklärender Vorgang. Das Staunen unterliegt dann "den Verwertungsinteressen einer rationalistischen Weltsicht", sagt Ekkehard Martens, und wenn das bewunderte oder verwundernde Ereignis sich schließlich als hohles Spektakulum entpuppt, wenn die Erklärung banal wirkt oder eine Gewöhnung eintritt, bekommt auch das Staunen schnell einen schalen Beigeschmack.

Für die anderen sind Wunder Ausdruck eines höheren Sinns im Leben, wenn sie sich der natürlichen Erklärung beharrlich entziehen oder diese, da sie auf bloße Zufälle verweist, einfach zu banal erscheint.

Wunder müssen dann nicht einmal die von der katholischen Kirche offiziell bestätigten Taten sein, die Heilige vollbracht haben müssen, um kanonisiert zu werden. Sie können sich auch in der entrückten Schönheit einer Landschaft oder der besonderen Gabe eines Künstlers manifestieren. Im Staunen über diese unerklärlichen Phänomene offenbart sich manchen Menschen dann ein Sinn, den sie in ihrer Existenz suchen. Die Suche danach sehen Psychologen als elementares religiöses Erleben.

Aus dem Staunen über das Baby wächst der Sinn der Existenz

Ein Ausweg aus dem Dilemma "banal oder sakral", das die Verknüpfung mit dem Begriff Wunder auslöst, liegt vielleicht in der klaren, zumindest gedanklichen Trennung zwischen verschiedenen Arten des Staunens. Ekkehard Martens unterscheidet das neugierige und sinnliche Staunen vom metaphysischen. Dieses vermag Menschen zu tiefen Erkenntnissen und philosophischen Grundeinstellungen zu führen, wenn sie anhand erstaunlicher Erlebnisse einen Sinn im Leben erkennen oder eben keinen. Der Ausgang ist offen, auch wenn beim "Sichwundern über die Welt" sich oft "eher Entsetzen über die bedrohliche Macht der Natur einstellt und weniger Entzücken über ihre Schönheit", so Martens.

Das neugierige Staunen, das den Forscherdrang auszulösen vermag, und das sinnliche sind dagegen viel eher in der Alltagswelt beheimatet. Besonders gegenüber letzterem sollten Menschen aufgeschlossen sein, weil das Lebenskunst verspricht. Es erfordert aber, sagte der Frankfurter Psychotherapeut Mathias Hebebrand in einem Vortrag, einen Ausstieg aus dem Fluss der Zeit, "denn staunen lässt sich nur, wenn man nicht gleich wieder zur Tagesordnung übergeht, sondern sich Zeit nimmt, um dem Überraschenden innerlich Raum zu geben".

Dann liegen Martens' Kategorien des Staunens womöglich doch wieder ganz eng beieinander, zum Beispiel, wenn ein Vater das Wunder des Lebens in seinem neugeborenen Kind bestaunt. Zur sinnlichen Freude an dem Baby auf dem Schoß kommen die Erkenntnis, wie wenig biologische Erklärungen des Körpers das erwachende Bewusstsein des Kindes erklären können, und die Ahnung, im Schutz und der Erziehung des Kleinen könnte so etwas wie der Sinn der eigenen Existenz liegen.

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