Gemischte Gefühle: Langeweile:Windstille der Seele

Die Langeweile-Forscher können uns erklären, wieso die Zeit manchmal dahinzukriechen scheint. Ihre Ergebnisse lesen sich dem Thema entsprechend fad - und erklären doch, welche Leistungen das Gefühl ermöglicht.

Katrin Blawat

Dies ist ein Auszug aus einem preisgekrönten Text, erschienen am 16. Juli in der New York Times: "Ich legte mein Nachthemd unter das Kissen. Er kontrollierte sein Handy, und dann saßen wir da und betrachteten uns. Er hatte ein nettes Gesicht. "Ich bin Marcia", sagte ich. "Ich bin Igor", sagte er." Man kann das Zitat hier guten Gewissens beenden, denn Spannenderes als in diesen Sätzen erfährt der Leser im gesamten Artikel nicht.

Rentner verfolgen Bundestagsdebatte über Rentenreform, 2004

Was empfinden Menschen, wenn sie sich langweilen? Das ist eine nur scheinbar einfache Frage.

(Foto: ddp)

So sah es der Journalist Michael Kinsley, der im Internet-Magazin The Atlantic Wire im Sommer einen Wettbewerb um den langweiligsten Text in amerikanischen Zeitungen ausgerufen hatte. Gewonnen hat "Strangers on a Train", die Schilderung einer Zugfahrt von Moskau nach St.Petersburg. "Falls sie irgendeine Anspielung auf Sex oder überhaupt etwas Interessantes enthält, ist es wirklich zu subtil für mich", begründete Kinsley die Preisvergabe.

Man muss Kinsley zustimmen, der prämierte Beitrag ist beeindruckend fad. Doch wer sich wissenschaftlich mit dem Gefühl der Langeweile beschäftigt, der kürt insgeheim weitere Sieger. Zum Beispiel das "Handbook of Emotions" mit der erfrischend klaren Aussage, Langeweile ließe sich durch Aufregung reduzieren.

Preisverdächtig sind auch jene Wissenschaftler, die über Langeweile im Unterricht forschen und schreiben: "Als Langeweile-Ursachen wurden mit Abstand am häufigsten Aspekte der Unterrichtsgestaltung genannt." Zwei Sätze weiter: "Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass (...) die Unterrichtsgestaltung ausschlaggebend für das Langeweileerleben ist." An anderer Stelle heißt es: "Durch Interviews hat man herausgefunden, dass Langeweile negativ mit Aufmerksamkeit korreliert."

"Finden Sie das spannend?" Thomas Götz, Erziehungswissenschaftler an der Universität Konstanz und Autor der oben zitierten Veröffentlichungen, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

"Langeweile ist eine sehr komplexe Emotion. Sie ist deutlich vielschichtiger als etwa Angst und Freude, das macht sie interessant", sagt er. "Die Emotion tritt sehr häufig bei Schülern auf. Viele berichten aber, dass sie oft so täten, als langweilten sie sich nicht, um keine Schwierigkeiten mit den Lehrern zu bekommen. Langeweile ist also sehr präsent, aber oft nicht zu bemerken."

Götz' Verdienst ist es, dass wenigstens einige Eckdaten über diese Emotion bekannt sind, die vor allem Schüler millionenfach erleben. Genauer gesagt, in einem Drittel der Unterrichtszeit, wie der Konstanzer Forscher vor mehreren Jahren in einer Umfrage unter Fünft- bis Neuntklässlern erfahren hat.

Vielschichtiger als Angst und Freude

Während der Lehrer vorne scheinbar endlos über die industrielle Revolution oder binomische Formeln doziert, lenkt die Langeweile die Gedanken der Jugendlichen bevorzugt auf deren Hobbys und die Überlegung, wie sich Zeit sinnvoller als mit Schule füllen ließe. Gut ein Drittel der befragten Schüler bewältigte uninteressanten Unterricht mit derartigen Gedanken.

Was aber empfinden Menschen, wenn sie sich langweilen? Eine nur scheinbar einfache Frage, denn die Antworten, die Götz und seine Kollegen erhielten, hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können. "Aggressiv" oder "zappelig" sagten die einen, "innerlich leer" oder "träge" die anderen. Langeweile wird bislang noch eher erfahren als erforscht.

Klar ist mittlerweile immerhin, wie der Eindruck mühsam kriechender Zeit im Gehirn entsteht. Eine Art innere Stoppuhr, die verlässlich das Verstreichen einer halben Stunde signalisieren könnte, besitzt der Mensch nicht. Stattdessen greift das Gehirn zu einem Trick, um Zeitspannen zu konstruieren: Es misst, wie viele Ereignisse und Eindrücke wahrgenommen werden und richtet daran seine Zeitwahrnehmung aus.

Die Folgen dieses neurologischen Kunstgriffes kennt jeder Schüler: Außer dass vorne eine Person steht und redet und vielleicht ab und zu etwas an die Tafel schreibt, passiert in einer Unterrichtsstunde nicht viel, was das Gehirn als bemerkenswert registrieren könnte. Die Ereignislosigkeit führt zu der leidigen Illusion, eine 45-minütige Schulstunde dauere länger als ein ganzer Kinofilm. In der Rückschau jedoch erscheint langweilig verbrachte Zeit kürzer als eine Periode, in der viel und Aufregendes passierte. Umgekehrt scheint die Zeit beispielsweise an den ersten Arbeitstagen in einem neuen Job zu verfliegen, für Langeweile hat das Gehirn dann keine Zeit.

Vielleicht muss man sich Wissenschaftler auf den Spuren der Langeweile vorstellen wie Völkerkundler, die auf einen bislang unbekannten Stamm mit unverständlicher Sprache treffen. Alles, was die Forscher am Anfang ihrer Arbeit tun können, ist, all die merkwürdigen Verhaltensweisen und Riten zu protokollieren und zu kategorisieren. Das immerhin haben die Emotionsforscher bereits geschafft.

Vier Arten, sich zu langweilen

Langweilen können sich Schüler demnach offiziell auf vier verschiedene Weisen: indifferent, zielsuchend, reaktand oder kalibrierend. Weil sich mehr als die Hälfte der Betroffenen für die letztgenannte Kategorie entscheidet, sollen ein paar Worte zur kalibrierenden Langeweile genügen. Wer diese empfindet, ist zwar nicht bei der Sache, denkt statt über den Unterricht über die Bergtour am Wochenende nach - wartet aber nur darauf, "reaktiviert" zu werden, wie die Forscher es nennen. Ähnliches kennt man von Hunden: Obwohl sie scheinbar fest schlafen, springen sie in Sekundenbruchteilen auf, sobald etwa das Wort "spazieren" fällt.

Ein Gedankenexperiment: Eltern, Lehrer und Arbeitgeber lernten von Hundebesitzern, wie das Reaktivieren Untergebener funktioniert - und dem Land ginge es schlagartig besser. Es gäbe weniger Jugendliche, die sich aus Langeweile in Gewalttaten stürzen, "eine der intensivsten Formen zu leben", wie die Kieler Jugendrechtlerin Britta Goldberg schreibt.

Darüber hinaus wären 250 Milliarden Euro zu verprassen, die bislang noch als Folgekosten gelangweilter Arbeitnehmer in Deutschland anfallen. Diese Summe haben zumindest die Unternehmensberater Philippe Rothlin und Peter Werder aus diversen Studien errechnet. Die griffige Zahl präsentierten sie vor drei Jahren in ihrem Buch "Diagnose Boreout", mit dem sie der Langeweile am Arbeitsplatz den Beigeschmack einer Krankheit verpasst haben.

Gern hätte man gewusst, wie die Altmeister der Philosophie auf die Pathologisierung eines so alltäglichen Gefühls reagiert hätten. Wenig verständnisvoll vermutlich. Denn niemand hat das Gefühl der sich dehnenden Zeit so sehr zum Quell jeglicher Inspiration verklärt wie Nietzsche, Heidegger und Kollegen. Von der "Windstille der Seele", die kreative Prozesse im Sinne von Inkubationszeiten initiiere, sprach Nietzsche. Etwas konkreter erklärte der Däne Sören Kierkegaard den Ursprung der Langeweile: "Die Götter langweilten sich, also schufen sie die Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva geschaffen. Von diesem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt."

Und sie ist es bis heute - zum Glück, wie auch zeitgenössische Experten sagen. "Kinder brauchen Langeweile, um kreativ zu werden", sagt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck. Lesen, Fernsehen und Herumgammeln seien notwendig, damit Kinder lernten, mit sich allein etwas anzufangen. Sein Kollege Thomas Götz sagt: "Wir langweilen uns dann intensiv, wenn wir stark über- oder unterfordert sind, oder wenn wir keine Bedeutung in dem sehen, was wir tun." Manchmal gibt erst die quälende, von Selbstzweifeln zerfressene Zeit der Langeweile den entscheidenden Anstoß, endlich Job, Wohnung oder Partner zu wechseln.

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