Geflügel-Produktion:Evolution der Hendl

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Hühner haben in den vergangenen 60 Jahren deutlich an Gewicht zugelegt (Foto: N/A)

Huhn ist gleich Huhn? Von wegen, die Tiere sind grotesk gewachsen. Moderne Rassen haben deutlich mehr Fleisch - das macht ihre Produktion billiger. Doch ihre Gesundheit leidet unter dem Wachstumswahn.

Von Christoph Behrens

Wenn das Bier fließt, werden Menschen hungrig. Sehr hungrig. Eine halbe Million Brathendl vertilgen die Besucher des Oktoberfests in weniger als drei Wochen - eines alle drei Sekunden. Man müsste meinen, es wäre schwer, solche Mengen bereitzustellen. Tatsächlich sind 500 000 Hendl für die Industrie ein Klacks. Bei 700 Millionen jedes Jahr in Deutschland geschlachteten Hühnchen ist die halbe Million an weniger als einem halben Tag fertig.

Und der Konsument will immer mehr davon: Aß in den 1950er Jahren jeder Deutsche etwa zwei Kilo Geflügel im Jahr, so waren es 2013 bereits 19,4 Kilogramm. Weniger bekannt ist, dass der gestiegene Hunger auch das Federvieh radikal verändert. "Von 1957 bis 2005 ist das Hühnchenwachstum um mehr als 400 Prozent gestiegen", schreiben Forscher um Martin Zuidhof von der Universität Alberta in Kanada. Das Brathähnchen hat sich dem Appetit der Menschen angepasst, es ist größer geworden und vor allem ist mehr Fleisch dran als noch vor 50 Jahren. Um das zu ermitteln, zogen die Agrarforscher je 180 Exemplare typischer Rassen der vergangenen Jahrzehnte mit dem gleichen Futter groß: Rassen von 1957 und 1978, die im Labor genetisch überdauert hatten; und eine moderne US-Züchtung von 2005. Während die Vögel aus den 1950ern nach vier Wochen 316 Gramm wogen, brachten die Hühner der 70er bereits doppelt so viel auf die Waage. Die hochgezüchteten modernen Nachfahren setzten im selben Zeitraum sogar mehr als vier Mal so viel Fleisch an, schreiben die Forscher im Fachblatt Poultry Research.

"Die Viecher können ganz schwer noch stehen", sagt ein Experte. Der Knochenbau hielt nicht Schritt

Das gleiche Bild zeigte sich nach 56 Tagen: Die modernen Vögel wogen mit 4200 Gramm mehr als vier Mal so viel wie ihre Ahnen, bei gleichem Futter. Vor allem Zucht und Selektion sind also für das rasante Wachstum verantwortlich - die modernen Hühnchen seien einfach besser in der Lage, ihr Futter in Fleisch umzuwandeln, erklären die Forscher.

Auch in Deutschland steigt das Schlachtgewicht stetig, weshalb die Zucht immer kostengünstiger wird. Mittlerweile wird das Geflügel auch verstärkt in Staaten wie Indien und China gegessen. In Südasien soll sich die Nachfrage nach Geflügel laut dem "Fleischatlas 2014" bis 2050 noch versiebenfachen. Spitzenreiter dürften aber die Australier und US-Amerikaner bleiben, von denen jeder jährlich im Schnitt 50 Kilogramm Hühnerfleisch vertilgt. In den Industrieländern verläuft die Entwicklung ähnlich: Während der Konsum von Rinder- und Schweinefleisch in Deutschland leicht rückläufig ist, steigt die Nachfrage nach Geflügel weiter.

"Die Zucht von Geflügel hat solche Fortschritte gemacht, dass sie andere Technologien wie den Hormoneinsatz oder die Gentechnik überholt und überflüssig gemacht hat", sagt die Agrarexpertin Reinhild Benning vom Bund e.V. Zuchtbedingt habe sich jedoch "der Knochenbau nicht so schnell entwickelt wie die Fleischzunahme". Vor allem an der Brust setzen die Hühner mehr Fleisch an als früher. Konnten die Exemplare von 1957 noch aufrecht gehen und den Kopf weit vorgereckt tragen, wanderte er im Laufe der Jahre immer weiter an den Körper, um das Gleichgewicht zu halten. "Die Viecher können ganz schwer noch stehen", kritisiert Christine Chemnitz von der Heinrich-Böll-Stiftung.

Zudem seien moderne Rassen "hochanfällig für Herzversagen", schreiben Forscher der University of Saskatchewan. Weil der Körper der Hühner darauf getrimmt sei, Futter besser zu verwerten, könne das Immunsystem auch immer weniger gefährliche Keime abwehren.

© SZ vom 14.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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