Gefahr für die Schifffahrt:Hurrikane über der Arktis

Zwischen Grönland und Norwegen verschwinden immer wieder Schiffe. Die Ursache sind mysteriöse kleine Hurrikane, die plötzlich aufziehen und rasch wieder verschwinden.

Axel Bojanowski

Mehr als das Bermuda-Dreieck fürchten Seefahrer das Nordmeer. Zwischen Grönland und Norwegen verschwinden regelmäßig Schiffe, ohne dass die Ursache der Havarien bekannt wird. 342 Seefahrer ertranken in dem kalten Gewässer allein im vergangenen Jahrhundert, 56 Boote sanken im gleichen Zeitraum.

Gefahr für die Schifffahrt: Immer wieder sinken Schiffe vor der norwegischen Küste.

Immer wieder sinken Schiffe vor der norwegischen Küste.

(Foto: Foto: AP)

Kapitäne berichten von gewaltigen Schneestürmen, die aus heiterem Himmel aufzogen und ebenso plötzlich wieder verschwanden. Die Stürme ließen das Meer gefrieren, so dass auf einmal Eisschollen umher trieben. Fischer stachen bei blauem Himmel und Südwind in See, um von Schneesturm aus Nord, Gewittern, mächtigem Wellengang und Windhosen überrascht zu werden. Im 17. Jahrhundert starben 500 Fischer in einem jäh aufziehenden Orkan im Nordmeer.

Nicht nur ihr plötzliches Aufziehen und rasches Verschwinden macht die Nordmeer-Stürme so mysteriös, auch ihre geringe Ausdehnung. Boote seien im Schneesturm gekentert - in der Nähe anderer Schiffe, die nichts von dem Unwetter abbekamen, erzählen Seefahrer.

Im Februar 1969 erreichte ein Schneesturm in Schottland eine Windgeschwindigkeit von 218 Kilometern pro Stunde - die zweithöchste Hurrikanstärke. Meteorologen standen vor einem Rätsel, dachten sie doch, Hurrikane gebe nur in den Tropen.

Noch zeichneten keine Satelliten das Wettergeschehen in hohen Breiten auf. Die Forscher konnten nicht sehen, dass tatsächlich ein Mini-Hurrikan aus der Arktis übers Land gefegt war.

Stürme in Form eines Kommas

In den 1970er Jahren aber zeigten Satellitenbilder über dem Nordmeer zuweilen sonderbar kreisende Tiefdruck-Gebiete. Die sogenannten Polartiefs gerieten in den Verdacht, für Schiffskatastrophen verantwortlich zu sein. Die Wolkenwirbel verfügen zuweilen über ein Auge in ihrer Mitte, sie ähneln damit kleinen Hurrikanen. Andere haben die Form eines Kommas.

Tatsächlich können Polartiefs, die auch Arktis-Hurrikane genannt werden, offenbar viele Havarien erklären. Eine deutsche Forscherin hat nun auf Satellitenbildern entdeckt, dass Polartiefs viel häufiger vorkommen als bisher angenommen.

2004 und 2005 wirbelten 90 von ihnen über dem Nordmeer und der angrenzenden Barentssee, berichtet Anne-Marlene Blechschmidt von der Universität Hamburg im Fachblatt Geophysical Reserach Letters (Band 35, Seite L09815, 2008). Die Meteorologin hat ermittelt, welche Windstärke diese Stürme hatten.

"Polartiefs können Hurrikanstärke erreichen", fand Blechschmidt heraus. Dabei nahmen Forscher bisher an, Hurrikane könnten nur über warmem Wasser entstehen. Die Wirbelstürme bezögen schließlich ihre Energie aus dem erhitzten Meer. Nun fragen sich die Experten, wie Polartiefs über dem kalten Nordmeer auf Hurrikanstärke beschleunigen können.

Blechschmidt arbeitete wie eine Detektivin, um die 7000 Satellitenbilder aus den Jahren 2004 und 2005 auszuwerten. Dabei kam sie auch der Entstehung der arktischen Wirbelstürme auf die Spur. Angekurbelt werden die Polartiefs demnach von kalten Fallwinden, die von Grönland aus übers Meer in Richtung Süden fegen. Den Arktis-Hurrikanen ginge meist solch ein sogenannter Kaltlufteinbruch voraus, berichtet Blechschmidt.

Großer Temperaturunterschied

Über dem Meer beschleunigen Polartiefs dann auf unterschiedliche Weise. Die Stürme, die ein Auge in der Mitte des Wirbels haben, nehmen Fahrt auf, indem sie sich wie ihre großen Geschwister in den Tropen mit Wärmeenergie vollsaugen.

Entscheidend ist dabei offenbar nicht die absolute Temperatur des Wassers, sondern der große Temperaturunterschied zu der grönländischen Kaltluft. Die feuchte Luft steigt auf, und sobald sich Wolken bilden, setzt die Luft Energie frei, die den Aufstieg der Luft weiter antreibt. Die Erddrehung zwingt die aufsteigenden Wolken in eine Kreisbewegung. Das Zentrum des Wirbels - sein Auge - saugt immer mehr Luft an, so dass die Luftmassen immer stärker wirbeln.

Arktis-Hurrikane hingegen, die wie ein Komma geformt sind, entwickeln sich aus gewöhnlichen Tiefdruckgebieten. Die Kaltluft erhöht den Temperaturunterschied zwischen Nord und Süd - der Wind beschleunigt sich. Ab 54 Kilometern pro Stunde - also bei Windstärke sechs bis sieben - wird der Wirbel als Polartief oder Arktis-Hurrikan bezeichnet.

Hurrikane über der Arktis

Südlich der Arktis und über Land erlahmen die Stürme jedoch rasch. Dennoch bringen ihre Ausläufer zuweilen Chaos über Nordeuropa. Im Januar 2003 fegte am Rande eines Polartiefs ein heftiger Schneesturm - ein sogenannter Blizzard - über Großbritannien. Vom Londoner Flughafen Heathrow konnten keine Flugzeuge mehr starten, die U-Bahnen der Stadt und Schulen wurden geschlossen, der Straßenverkehr und die Stromversorgung in Großbritannien brachen zusammen.

Trotz ihrer Auswirkungen wurden Polartiefs bislang kaum systematisch untersucht. Die Erforschung der Wirbel ist mühsam. Sie sind selbst auf Satellitenbildern nur schwer zu entdecken. Das abgelegene Nordmeer wird nur von wenigen Beobachtungs-Satelliten überflogen. Zudem entstünden Polartiefs vor allem im Winter, wenn es eher dunkel ist, sagt Blechschmidt. Außerdem sind die Wirbel meist nicht größer als 300 Kilometer.

Rätselhafte Lebensdauer

Besonders rätselhaft erscheint den Meteorologen die kurze Lebensdauer der arktischen Hurrikane von rund 15 Stunden. Hurrikane in den Tropen bestehen dagegen viele Tage. Manche Polartiefs würden über Land gebremst, wo die Zufuhr von Wärmeenergie aus dem Meer abgeschnitten werde, erläutert Blechschmidt. Das Werden und Vergehen der Stürme müsse jedoch noch erforscht werden. Ihre Studie ermögliche es nun, die Arktis-Wirbel am Computer besser zu simulieren.

Entsprechende Simulationen an der Universität Bergen hätten gezeigt, dass zwei Schiffskatastrophen im Nordmeer wohl von Polartiefs verursacht wurden, berichtet Erik Wilhelm Kolstad von der Universität Bergen. Der Untergang des Fischkutters Gaul mit 36 Mann Besatzung im Jahr 1974, als auch das Verschwinden von sieben Schiffen binnen eines Tages im Jahr 1954 vor Ost-Grönland lasse sich auf Arktis-Hurrikane zurückführen.

Um vor den Unwettern warnen zu können, müsse man zuerst besser verstehen lernen, wie sie entstehen, sagt Kolstad. Eine Vorhersage sei aber dringender denn je nötig, schließlich kreuzten immer mehr Schiffe das Nordmeer; außerdem würden weitere Öl- und Gasbohrinseln errichtet.

Eine Warnung vor den Unwettern bleibt aber schwierig. Kaltlufteinbrüche aus Grönland Richtung Süden seien immerhin ein Alarmsignal, sagt Blechschmidt. Daraufhin könne das Wetter im Nordmeer binnen einer Stunde umschlagen kann - von blauem Himmel zum Hurrikan.

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