Gebärdensprache:Hochdeutsch für Gehörlose

In Hamburg und München sieht der Sonntag anders aus: Auch in der Gebärdensprache gibt es Dialekte. Ein Lexikon soll nun die Vielfalt ordnen.

Christiane Langrock-Kögel

Wenn es in München um die Wurst geht, führt ein gehörloser Mensch Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand ans Ohr. In Hamburg sieht die Gebärde ganz anders aus. Beide Hände formen vor der Brust eine angedeutete Wurst. Noch ein Beispiel: Den Begriff "Sonntag" gebärdet ein Hamburger mit einem sanften Streichen über Brust und Bauch und deutet damit das gute Sonntagshemd an. In Bayern faltet ein Gehörloser die Hände vor der Brust, Sonntag ist Kirchgang.

Gebärdensprache: "I love you" signalisert diese Gebärde in den USA.

"I love you" signalisert diese Gebärde in den USA.

(Foto: Foto: Reuters)

Nicht nur das gesprochene Deutsch, auch die deutsche Gebärdensprache (DGS) kennt Dialekte. Diese Tatsache ist Hörenden kaum bekannt, wird aber jedem klar, der sich mit dem Wesen der Gebärdensprache befasst.

Sich visuell auszudrücken - sprich, zu gebärden - ist die natürliche Sprache, in der sich ein gehörloses Kind mitteilt. Kleinkinder fangen von ganz alleine an, zu gebärden, heißt es in einem Prospekt des Deutschen Gehörlosen-Verbands - auch, wenn sie keine allgemeingültigen Gebärden benutzen.

So entwickeln sich immer wieder eigene Zeichen, kleine sprachliche Besonderheiten, die durch die Kommunikation mit anderen Gehörlosen erweitert und verfestigt werden. Und irgendwann entsteht ein regionaler Dialekt.

Für die 80000 gehörlosen Menschen, die in Deutschland leben, sowie die vielen Schwerhörigen, Dolmetscher und Eltern gehörloser Kinder, die ebenfalls die Gebärdensprache benutzen, gibt es einige Gebärdensammlungen, die zu deutschen Begriffen die passenden Gebärden liefern.

Das Hamburger Institut für deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS) hat in den vergangenen Jahren Fachgebärdenlexika für die Berufsausbildung Nichthörender erstellt, zum Beispiel für die Bereiche Psychologie, Tischlerei/Schreinerei und Sozialpädagogik.

Es fehlt ein umfassendes Wörterbuch

Aber der Gemeinschaft der Gebärdensprachler fehlt ein umfassendes Wörterbuch, das nicht vom deutschen Wort ausgeht, sondern von den tatsächlich benutzten Gebärden. Die Frage ist: Welche Gebärden werden in den verschiedenen Regionen Deutschlands tatsächlich verwendet?

Wie groß ist der Ausdrucksreichtum? Ein einheitliches Nachschlagewerk, eingesetzt im Gebärdensprachunterricht, hat einen standardisierenden Effekt. Und verbessert so, durch ein besseres Verständnis von Nord bis Süd, die immer noch eingeschränkten Chancen Nichthörender in Bildung und Beruf.

Diese lexikalische Lücke will die Hamburger Akademie der Wissenschaften nun mit einem auf 15 Jahre angelegten Großprojekt schließen. Seit dem 1. Januar sammeln die Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Gebärdensprache in einem deutschlandweit einmaligen Projekt systematisch gebärdensprachliche Daten - die Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern hat dafür 8,5 Millionen Euro bewilligt.

250 gehörlose Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet werden für das Projekt beim Gebärden gefilmt. Die Gehörlosen-Linguisten analysieren die Filme anschließend und transskribieren sie mittels spezieller Notationssysteme. Die Sprachwissenschaftler rechnen mit schätzungsweise 6000 Einträgen, nach denen von zwei Seiten aus - einem Wort oder einer Gebärde - in einer elektronischen Datenbank gesucht werden kann. Nach fünf Jahren, so die Projektvorgabe, muss ein Grundwortschatz veröffentlicht werden.

Hochdeutsch für Gehörlose

"Es ist ein einmaliges, riesengroßes Projekt", gebärdet Christian Rathmann, der Institutsleiter. Er ist selbst gehörlos, eine Gebärdendolmetscherin ermöglicht das Gespräch.

Seit April ist Rathmann der erste nichthörende Professor Deutschlands - einen Titel, den er nicht betonen möchte. Für ihn sei die Berufung "ein Signal in Richtung Normalität". Sein Lebenslauf unterscheidet sich nicht von dem eines normal hörenden Wissenschaftlers.

Rathmann hat lange in den USA studiert und gelehrt - und erlebt, dass die gesellschaftliche Anerkennung der Gebärdensprache dort weiter ist. Rathmann freut sich deshalb über die Aufmerksamkeit, die das 8,5-Millionen-Euro-Projekt der Gebärdensprache in Deutschland verschafft.

Den größten Nutzen sieht er - außer für die Gehörlosen - "für Dolmetscher und Pädagogen". Rathmann plädiert für eine "bilinguale Erziehung" gehörloser Kinder: "Die Gebärdensprache ist ein tragfähiges Fundament fürs Erlernen der Lautsprache."

Visuelles Sprachsystem mit eigener Grammatik

Überall, wo Gruppen Gehörloser zusammenkamen, hat sich in den vergangenen Jahrhunderten Gebärdensprache entwickelt - Ausdrucksweisen, die von Person zu Person weitergegeben wurden. Ihre Benutzer mussten sich lange gegen das Vorurteil wehren, bloße Pantomimen zu sein.

Doch die Gebärdensprache ist wesentlich mehr: ein visuelles Sprachsystem mit eigener Grammatik; ein verlässliches Kommunikationsmittel für Nicht- oder Schwerhörende; und die Grundlage einer ganz eigenen Kulturgemeinschaft.

All das ist heute weitgehend gesellschaftlicher Konsens, seit 1998 haben einzelne Bundesländer die Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt, seit 2002 ist sie im Sozialgesetzbuch und im Gleichstellungsgesetz verankert. Und doch müssen die Verbände und Vereine der Gehörlosen noch sehr viel leisten, um deren Akzeptanz und Einsatz zu erweitern.

Noch ist das Gebärden in vielen Gehörlosen-Schulen nicht die offizielle Unterrichtssprache - zu lange herrschte unter den Gehörlosenpädagogen die Annahme, dass das Gebärden einem Rückzug aus der hörenden Mehrheitswelt gleichkomme.

Mittlerweile haben Studien jedoch eindeutig bewiesen, dass ein Nichthörender die Lautsprache wesentlich leichter auf Basis der Gebärdensprache als Muttersprache erlernt. Ein Nichthörender hat auch heute noch ein sehr begrenztes Recht auf einen Gebärdendolmetscher, beispielsweise für Behördengänge. Noch ist der Zugang Gehörloser und Schwerhöriger zu Medien und kulturellen Angeboten äußerst eingeschränkt.

Susanne König ist seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Gebärdensprach-Instituts. Lexikographie und Schriftsysteme für Gebärdensprachen sind ihre Arbeitsschwerpunkte. König hat an verschiedenen Fachgebärdenlexika mitgearbeitet - "Fingerübungen für das neue Projekt", sagt sie.

Die 250 Gebärden-Muttersprachler, die wichtigste Informationsquelle der Hamburger Linguisten, sollen in einem mobilen Studio gefilmt werden. Ein Moderator regt sie an, sich über bestimmte Themen zu unterhalten - so sei die Wahrscheinlichkeit groß, sagt König, dass sich ein Grundwortschatz abbilden lasse.

"Bislang haben Gebärdensprachlehrer wenig Grundlagen für den Unterricht. Unser Wörterbuch soll helfen, eine geordnete Basis zu schaffen."

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