March for Science:Forscher brauchen Freiheit

Wissenschaft muss unbequem bleiben und darf nicht durch die Politik instrumentalisiert werden. Doch in vielen Ländern geraten Forscher immer stärker unter Druck - selbst in der Europäischen Union.

Gastbeitrag von Martin Stratmann

Freiheit ist ein wertvolles Gut. Sie bedeutet, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. Deutschland garantiert seinen Bürgern die Freiheit verfassungsgemäß in Form von Grund- beziehungsweise Freiheitsrechten. Dazu gehört neben der Meinungs- und Pressefreiheit auch die Wissenschaftsfreiheit.

Letztere hat aus gutem Grund Eingang in unser Grundgesetz gefunden: Vor dem Hintergrund der ideologischen Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus sollte die Wissenschaftsfreiheit grundrechtlich abgesichert werden. Sie wirkt daher als Abwehrrecht gegenüber dem Staat dort, wo ein Wissenschaftler nicht mehr frei ist in der Auswahl und Durchführung seiner Forschungsprojekte. Sie fordert aber auch, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, die freies Forschen ermöglichen. Das ist die Basis, auf der Universitäten und Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft heute arbeiten.

Wissenschaft braucht einen geschützten Raum - weil sie unbequem sein kann, manchmal sogar sein muss! Sie fördert Erkenntnisse zutage, die nicht jeder akzeptieren möchte. Das betrifft Themen wie Klimawandel, Umweltschutz, soziale Ungleichheit, Migration. Verstöße gegen die Wissenschaftsfreiheit richten sich vor allem gegen jene, die die staatliche Autorität herausfordern.

Repressalien gegen Forscher nehmen zu

Mit großer Sorge sehen wir, wo die politische Freiheit und gleichzeitig auch die Wissenschaftsfreiheit immer mehr eingeschränkt werden: In Ägypten hat das Regime kritische Wissenschaftler mit Berufs- oder Ausreiseverboten belegt. In der Türkei wurde ein Ausreiseverbot für das gesamte Lehrpersonal der Hochschulen verfügt. Seit dem Putsch sind 15 Universitäten geschlossen und mehr als 7000 Hochschulangestellte per Notstandsdekret entlassen worden. In China - ohnehin kein Hort von Meinungs- und Pressefreiheit - haben die Behörden ihre Kontrolle über akademische Einrichtungen und Hochschulen in den vergangenen Jahren verschärft. Und in Ungarn, immerhin Teil der Europäischen Union, kollidieren autokratische Bestrebungen mit dem Anspruch der Wissenschaft, international und offen zu sein.

Wir spüren den Druck auf Wissenschaftler auch bei uns. Denn in der Max-Planck-Gesellschaft arbeiten Forscherinnen und Forscher aus mehr als 100 Ländern dieser Erde. Und selbstverständlich registrieren wir, wenn türkische Gastwissenschaftler ihre Forschungsprojekte bei uns abbrechen müssen, weil sie in die Türkei zurückbeordert werden, die Reisemöglichkeiten ausländischer Max-Planck-Wissenschaftler durch verschärfte Einreisebestimmungen beschränkt oder der Austausch und die offene Diskussion über bestimmte Themen behindert werden. Wir sind frei, über jedes Thema zu sprechen und zu schreiben. Doch außerhalb Deutschlands können die Gesetze eines Landes sowie kulturelle Verbote eine ganz andere Situation schaffen. Manch ausländischer Wissenschaftler bleibt seiner Heimat daher für immer fern. Deutschland hat einen solchen Exodus schon einmal zu Beginn der 1930erJahre erlebt - mit all seinen Folgen.

Es reicht nicht aus, Erkenntnisse zu publizieren. Wir müssen die Menschen auch davon überzeugen

Wir sollten daher wachsam sein, um einer schleichenden Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit gerade in Europa rechtzeitig entgegenzutreten. Wie die Meinungs- und die Pressefreiheit ist die Freiheit der Wissenschaft ein Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft. Diese profitiert vom kritischen Denken, von der sachkundigen Analyse, der Bereitstellung von Fakten, die Grundlage für politische Entscheidungen sind. Das gilt für die Naturwissenschaften gleichermaßen wie für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Es ist eine fatale Entwicklung, wenn Politik unbequeme Einsichten leugnet, wenn autokratische Strukturen wichtige demokratische Kontrollinstrumente außer Kraft setzen und Expertenwissen mit "alternativen Fakten" gleichgestellt wird.

Daraus erwächst eine Aufgabe für uns Wissenschaftler hierzulande: Es reicht nicht aus, dass wir wissenschaftliche Erkenntnisse in Fachzeitschriften publizieren. Wir müssen die Menschen auch überzeugen, dass diese Erkenntnisse wirklich wertvoll sind, dass sie einen Beitrag leisten können zur Lösung vieler Probleme. Wissenschaft muss sich erklären, aber sie darf nicht mit akademischer Überheblichkeit belehren. Denn: Auch Wissenschaft kann irren! Unser Wissen reicht immer nur so weit, wie es unsere derzeitigen wissenschaftlichen Methoden zulassen. Und - ganz wichtig: Wissenschaft muss sich gegenüber der Gesellschaft legitimieren, nur dann wird die Gesellschaft ihr auch weiterhin Vertrauen und Unterstützung angedeihen lassen.

Der Elektrochemiker und Materialwissenschaftler Martin Stratmann, 63, ist seit Juni 2014 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, einer der wichtigsten deutschen Forschungsinstitutionen.

Aktuelles Lexikon: March for Science

Wenn Wissenschaftler der Welt etwas zu sagen haben, schreiben sie in der Regel einen Brief. Früher wurden solche Appelle an Staatsoberhäupter geschickt. Zuletzt hatte sich der Abdruck in Fachjournalen etabliert. Am kommenden Samstag soll nun eine öffentlichkeitswirksamere Ära des wissenschaftlichen Widerstands beginnen: In weltweit mehr als 500 sogenannten Marches for Science gehen Menschen für die Belange der Wissenschaft auf die Straße. Forscher und Bürger wollen öffentlich für die Anerkennung der Wissenschaft durch Politik und Gesellschaft demonstrieren. Den Anstoß hatte der 45. Präsident der USA gegeben: Donald Trump zweifelt öffentlich den Klimawandel an, beschäftigt in seinem Stab Leugner der Evolution und bezieht sich gerne auch mal auf "alternative Fakten" - was anderswo schlicht Lüge heißt. Forscher und Freunde der Wissenschaft haben deshalb im Januar den Muttermarsch der Marches for Sciences ausgerufen, der in Washington stattfinden wird. Doch auch anderswo hat die Wissenschaft Probleme. In der Türkei werden Forscher verhaftet, in Ungarn Universitäten geschlossen. Und weltweit verdrängen Verschwörungstheorien, was Wissenschaftler sorgfältig belegt haben, auch in Deutschland. Deshalb gibt es auch in der Bundesrepublik 20 Märsche für die Wissenschaft. Der wohl größte findet in Berlin statt. Der kleinste auf Helgoland. Kathrin Zinkant

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