Functional Food:Der probiotische Gummibär

Mit Milchsäurebakterien versetzten Joghurt findet man bereits in jedem Kühlregal. Bald könnten auch Salami, Bier und Gummibärchen angereichert sein mit angeblich gesunden Zusätzen. "Functional Food" nennt die Lebensmittel-Industrie das.

Von Tina Baier

Es gibt kein Entrinnen. Die Lebensmittelindustrie ist entschlossen, den Menschen nicht nur satt, sondern auch gesund zu machen.

Functional Food: Sind die roten Gummibären bald pre-, und die gelben probiotisch? Functional Food macht's möglich.

Sind die roten Gummibären bald pre-, und die gelben probiotisch? Functional Food macht's möglich.

(Foto: Foto: dpa)

Wer einen Joghurt will, der nicht probiotisch ist, also künstlich mit Milchsäurebakterien angereichert, muss inzwischen suchen. Menschen über 50 bekommen leicht ein schlechtes Gewissen, wenn sie normale Butter kaufen statt cholesterinsenkende Margarine.

Und seit einiger Zeit fragen sich Eltern vor dem Regal mit Babynahrung, ob ihr Nachwuchs ernsthaften Schaden nimmt, wenn er keinen pro- oder prebiotischen Brei bekommt.

"Babys und Kinder sind ein großer Markt"

Bis zum Jahr 2010 soll solches "Functional Food" ein Viertel aller Lebensmittel ausmachen. Der Nestlé-Konzern schätzt den Marktanteil der Produkte, die künstlich mit gesundheitsfördernden Substanzen angereichert werden, bis zum Jahr 2050 sogar auf 50 Prozent.

Er stellt sich schon jetzt darauf ein, indem er intensiv an einem Imagewandel zum Gesundheits- und Wohlfühlunternehmen arbeitet. "Wir sind gerade dabei, unsere gesamte Produktpalette zu durchforsten und zu überprüfen, was sich davon verbessern lässt", sagt Heribert Watzke vom Néstle-Forschungszentrum in Lausanne.

"Babys und Kinder sind ein großer Markt für Functional Food", bestätigt Arthur Ouwehand, der beim Lebensmittelhersteller Danisco in Finnland Probiotika erforscht.

Pro- und Prebiotika für die Darmflora

Beinahe alle großen Hersteller von Babynahrung haben neuerdings entsprechende Milchpulver und Babybreie auf dem Markt: Probiotische Produkte werden mit lebenden Milchsäure- oder Bifidobakterien angereichert; prebiotische enthalten Ballaststoffe, in der Regel Inulin oder Oligofructose.

Beides soll für eine gesunde Darmflora sorgen und auf diese Weise Durchfall verhindern. Dass Probiotika Allergien und sogar schweren Krankheiten wie Morbus Crohn oder Autismus vorbeugen, wird vermutet.

"Untersuchungen haben ergeben, dass allergische Kinder eine andere Darmflora haben als Kinder ohne Allergien", sagt Ouwehand. Man erhoffe sich nun, mit Hilfe von Pro- und Prebiotika bei Säuglingen, die mit einem sterilen Darm geboren werden, von Anfang an die "richtigen" Keime zu etablieren.

Angereicherte Chips und Gummibärchen

Doch ob die Zusätze die erwünschte Wirkung haben, ist ungewiss. "Das Einzige, was man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ist, dass sie nicht schaden", sagt Ouwehand.

"Man würde sich mehr Studien wünschen, bevor solche Produkte auf den Markt kommen", fügt die Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel von der Technischen Universität München hinzu.

Nach Einschätzung von Ouwehand werden sich Probiotika schon bald nicht mehr nur in Milchprodukten und Müslis finden, sondern in allen möglichen Lebensmitteln; in Salami beispielsweise und in Sauerkraut.

In Australien gibt es schon jetzt probiotisches Brot; in Spanien sind probiotische Chips auf dem Markt und in Japan probiotische Gummibärchen.

Selbst Alkohol wird "gesundgeredet"

Bei dieser Vorstellung graust es Angelika Michel-Drees vom Verbraucherzentrale-Bundesverband. "Ernährungsphysiologisch ungünstigen Produkten soll auf diese Weise ein besseres Image verpasst werden", sagt sie.

Süßigkeiten und Knabbereien würden durch den Zusatz von Probiotika aber nicht gesünder. "Der Fett- und Zuckergehalt bleibt schließlich derselbe." Die Verbraucherschützerin fordert deshalb Gesetze, die verbieten, dass solche Produkte künstlich angereichert werden.

Der probiotische Gummibär

Besonders bedenklich findet Michel-Drees die Vermarktung alkoholischer Getränke als Functional Food, etwa das Weihenstephaner Wellness-Bier. Darin enthaltene Flavone schützen angeblich vor Krebs. "Alkohol wird auf diese Weise gesundgeredet", sagt Michel-Drees. "Und weil es so gesund ist, lässt sich auch rechtfertigen, viel zu trinken."

Beim Wellness-Bier dürften sich allerdings auch starke Alkoholiker schwer tun, einen anderen Effekt zu erzielen, als betrunken zu werden. Die Flavone sind nämlich so niedrig konzentriert, dass man täglich 300 Liter trinken müsste, damit sie wirken.

Ein Problem mit der richtigen Dosis hat auch die cholesterinsenkende Margarine Becel pro-activ von Unilever. Vor der Markteinführung wurde in aufwändigen Studien nachgewiesen, dass die zugesetzten Phytosterine tatsächlich die Aufnahme von Cholesterin im Darm verhindern und dass der Cholesterinspiegel im Blut dadurch sinkt.

Zu viel Cholesterinsenker verhindert Vitaminaufnahme

Umso größer war das Erstaunen, als nach der Markteinführung bei Becel-Konsumenten manchmal kein Effekt nachgewiesen werden konnte. Das Problem: Die Entwickler waren davon ausgegangen, dass Becel-Kunden täglich 25 Gramm Margarine essen; doch tatsächlich schmierten sie sich im Durchschnitt nur zehn Gramm aufs Brot.

Deshalb empfiehlt Unilever jetzt, zusätzlich zur Margarine täglich einen Becher cholesterinsenkenden Pro-activ-Joghurt zu essen und ein Glas cholesterinsenkende Pro-activ-Milch zu trinken.

Aber was passiert, wenn man zu viel Cholesterinsenker isst? Die Phytosterine verhindern dann die Aufnahme wichtiger Substanzen, etwa fettlöslicher Vitamine.

Unilever rät deshalb auf der Verpackung, neben der Margarine viel Obst und Gemüse als Vitaminlieferanten zu essen. "Wenn die Kunden das von vornherein getan hätten, hätten sie weniger Probleme mit ihrem Cholesterinspiegel", sagt Daniel.

Reiner Marketing-Trick

Fragt man Ernährungswissenschaftler, ob man Functional Food überhaupt braucht, antworten die meisten mit einem klaren Nein.

Viele halten für bedenklich, dass unkontrolliert immer mehr Lebensmittel mit den verschiedensten Zusätzen in den Supermarkt kommen, von denen kein Mensch weiß, ob und wie sie miteinander wechselwirken.

Im Augenblick arbeiten mehrere Lebensmittel-Konzerne an blutdrucksenkenden Produkten, die bald auf den Markt kommen werden. "Der Hinweis der Hersteller auf den mündigen Verbraucher, der selbst entscheiden könne, ist oft scheinheilig", sagt Michel-Drees. Schon jetzt haben selbst Fachleute Schwierigkeiten, die Übersicht zu behalten.

Viele Verbraucherschützer halten die Idee vom Functional Food denn auch für einen reinen Marketing-Trick der Lebensmittel-Industrie.

Überlebensstrategie für übersättigte Märkte

Denn die hat in Westeuropa gleich mehrere Probleme: Billiganbieter wie Aldi und Lidl dominieren den Markt. Die Verbraucher sind nicht mehr bereit, für Markenprodukte viel Geld auszugeben. Gleichzeitig müssen viele Hersteller Miete bezahlen, damit sie ihre Produkte überhaupt ins Supermarkt-Regal stellen dürfen.

Dazu kommt, dass sich nur etwa ein Drittel der neu entwickelten Produkte auf dem übersättigten Markt hält. Functional Food ist da eine gute Möglichkeit, teure Lebensmittel an den Kunden zu bringen.

Wissenschaftler der Lebensmittelkonzerne, die riesige Summen in die Entwicklung von Functional Food stecken, glauben dagegen nicht nur an das wirtschaftliche Potenzial.

Mit dem Gentest in den Supermarkt

"Wir können Kranke nicht heilen, aber wir können den Gesunden helfen, gesund zu bleiben und gesund zu altern", sagt Martin Kussmann, Wissenschaftler bei Nestlé. Er träumt von Nutrigenomics - von individuellen Lebensmitteln für Menschen, die aufgrund genetischer Veranlagung ein spezielles Gesundheitsproblem haben, und von Produkten, die solche Probleme lösen, indem sie Gene beeinflussen.

Schon jetzt verkauft die Firma Sciona in Großbritannien ein Test-Set für den Hausgebrauch, mit dem jeder seine genetische Veranlagung etwa für Herzkrankheiten bestimmen kann. Je nach Ergebnis werden Ernährungsempfehlungen gegeben.

Kussmann stellt sich die schöne neue Ernährungswelt ungefähr so vor: Vom Arzt erfährt der Kunde sein genetisches Risiko. Mit dieser Information wendet er sich vertrauensvoll an seinen Nestlé-Konzern, etwa über das Nestlé-Ernährungsstudio im Internet. Dort bekommt er gesagt, welche speziellen Produkte er früh, mittags und abends essen sollte - alle natürlich von Nestlé.

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