Frage der Woche:Können Tiere rechnen?

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Zwei und zwei sollte man schon zusammenzählen können - und Fünfe lassen nur sehr großzügige Menschen grade sein. Aber wie ist das eigentlich bei Tieren?

Markus C. Schulte von Drach

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte ein Pferd die Wissenschaftswelt vor ein Rätsel. Der "Kluge Hans" des Herrn Wilhelm von Osten war ganz offensichtlich in der Lage zu rechnen.

Selbst vor komplizierten Multiplikationen schreckte der Unpaarhufer nicht zurück. Ein großes Publikum verfolgte staunend, wie das Tier auf jede Frage - unabhängig davon, ob sie von Herrn von Osten, einem Wissenschaftler oder einem Besucher gestellt wurde - die richtige Antwort mit dem Huf auf den Boden klopfte. Manchmal lag er um einen Hufschlag daneben - aber das war angesichts seiner Herkunft und Ausbildung verzeihlich.

1904 begann eine Kommission von Wissenschaftlern das Phänomen zu untersuchen - und die Fachleute stellten fest: Es war kein Betrug. Das Tier kam zum richtigen Ergebnis, selbst wenn der Besitzer nicht anwesend war.

Ein Pferd, fähig zu höherer Mathematik?

Leider nein. Wie Oskar Pfungst, Professor für Psychologie an der Universität Berlin schließlich feststellte, konnte der "Kluge Hans" nur dann richtig antworten, wenn der Fragesteller für das Tier gut sichtbar war und das Ergebnis der Rechenaufgabe selbst kannte.

Kein Rechen- sondern ein Wahrnehmungskünstler

Wie Pfungst schließlich Anfang des letzten Jahrhunderts herausfand, reichte es dem Pferd, dass der Fragesteller sich leicht nach vorn beugte, um den Huf zu beobachten. Das Tier klopfte dann sogar los, ohne dass eine Frage gestellt wurde. Und selbst ein Hochziehen der Augenbrauen reichte, um das Tier auf die richtige Lösung zu bringen.

(Schließlich übernahm Pfungst sogar selbst die Rolle des "Klugen Hans" und klopfte Rechenergebnisse mit der Faust auf den Tisch, an die seine Versuchsteilnehmer nur dachten. Er klopfte so lange, bis er das Gefühl hatte, eine Veränderung bei seinen Versuchsobjekten wahrzunehmen. Meistens lag er richtig.)

Doch auch wenn der "Kluge Hans" weniger ein Rechen- als vielmehr ein Wahrnehmungskünstler war: Für viele Tiere ist es in der Tat wichtig, zumindest in einem gewissen Rahmen die Fähigkeit zu besitzen, zu zählen und zu vergleichen - sei es, um ihre Energieaufnahme zu maximieren, Kosten und Nutzen bei der Nahrungssuche abzuwägen oder Konkurrenzsituationen einzuschätzen.

Wie groß diese Fähigkeiten in der Praxis sind, zeigen Freilandversuche. Und welche Kapazitäten die Tiere tatsächlich besitzen, wird seit Jahrzehnten im Labor überprüft.

Bei wilden Schimpansen etwa wird ein Eindringling oder ein Mitglied einer anderen Gruppe nur angegriffen, wenn sich für die Attacke mindestens drei ausgewachsene Männchen zusammenfinden. Ähnlich ist es bei Löwen, wo fremde männliche Tiere von den Weibchen einer Gruppe angegriffen werden, wenn die Zahl der Verteidiger größer ist als die Zahl der Angreifer.

Und innerhalb sozialer Verbände findet man immer wieder, dass sich zwei oder mehr Tiere zusammentun, um einen dritten Artgenossen zu unterdrücken. Bei Delphinen wurde sogar schon beobachtet, dass zwei bis drei Männchen eine Koalition gebildet und sich dann mit einer zweiten Koalition verbündet haben, um eine dritte Gruppe zu vertreiben.

Und selbst Eidechsen sind in der Lage, die Zahl von verfügbaren Beutetieren, die sie an zwei verschiedenen Zielorten sehen, zu vergleichen und sich für das Ziel zu entscheiden, das mehr Nahrung verspricht.

Im Labor wurden diese Fähigkeiten bei verschiedenen Tieren gezielt getestet und trainiert - mit verblüffenden Ergebnissen.

Bereits in den vierziger Jahren etwa brachte der deutsche Verhaltensbiologe Otto Koehler seinem Raben Jakob bei, nur eine bestimmte Anzahl von Samenkörnern zu verzehren - und dann aufzuhören. Auch Tauben und Ratten lernen in sogenannten Skinnerboxen, mit einer exakten Häufigkeit auf einen Schalter zu drücken - und nicht einmal mehr - um Futter zu bekommen.

Bei Primaten sind die mathematischen Fähigkeiten zwar ausgeprägter als bei den meisten anderen Tieren - doch sie stoßen an enge Grenzen. Das zeigen zum Beispiel Studien an Rhesusaffen. Zeigt man den Tieren zum Beispiel zwei Früchte, lässt sie hinter einem Schrim verschwinden und entfernt diesen dann, erwarten die Tiere weiterhin zwei Früchte. Liegen dort nun aber mehr oder weniger Früchte, so fällt ihnen dies auf.

2 + 2 ist zu schwierig

Offenbar verstehen die Tiere weitere simple Rechenaufgaben wie 1 + 2 = 3 oder 2 - 1 = 1. Aber 2 + 2 = 4 ist ihnen bereits zu hoch. Und haben sie die Wahl zwischen zwei Boxen, in denen sich drei oder vier Apfelscheiben befinden, wählen sie die mit der größeren Menge aus. Auch drei und fünf Scheiben unterscheiden die Affen, doch bei vier versus fünf steigen sie bereits wieder aus.

Demnach sind manche Tiere in der Lage, zumindest eine übersichtliche Anzahl von Gegenständen spontan zahlenmäßig abzuschätzen.

Aber verstehen sie auch das Konzept der Zahl? Dass eine Vier für eine Anzahl von irgend etwas - vier Artgenossen, vier Futterpellets, vier Lichtsignale - steht?

Tatsächlich konnte Schimpansen bereits beigebracht werden, arabische Ziffern von 0 bis 8 mit der zugehörigen Anzahl von Gegenständen zu assozieren. Und einige Rhesusaffen haben gelernt, Zahlen zwischen eins und neun der Größe nach anzuordnen, wenn der Wert durch eine Anzahl von Symbolen angezeigt wird - unabhängig von der Art der Symbole.

Es scheint demnach so, als würden sich Tiere, wenn sie überhaupt Mathematik betreiben, auf die Einordnung "Eins, zwei, drei, ganz viele" beschränken sowie größere Mengen in einem gewissen Rahmen vergleichen.

In einer Gruppe von 50 Pavianen, so stellte der Harvard-Wissenschaftler Marc D. Hauser einmal fest, bemerken die Tiere vielleicht, dass einer von ihnen verschwindet. Aber, so Hauser, es ist unwahrscheinlich, dass sie denken: "He, wir sind nur noch 49. Damit sind wir im Vergleich zu unseren Nachbarn, die noch 50 sind, im Nachteil."

Bei Menschen ist das spontan ganz ähnlich. Auch wir tendieren dazu, jenseits der drei oder vier von "mehreren" und "vielen" zu sprechen. Es gibt sogar Indianer in Brasilien, deren Sprache keine Worte für Zahlen größer als zwei enthält. Doch wir - oder die meisten von uns - sind prinzipiell zu großen Rechenleistungen fähig. Vor allem, wenn wir auch noch Papier, Bleistift und Logarithmustafel zur Hand haben.

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