Frage der Woche:Kann man Zeugen trauen?

Immer wieder kommen Menschen zu Unrecht ins Gefängnis, weil Augenzeugen sich irren. Dabei wissen Psychologen schon lange, wie leicht wir uns täuschen - und wie man falsche Aussagen vermeiden kann.

Markus C. Schulte von Drach

Entsetzt verfolgten die Studenten, wie während ihrer Vorlesung zwei Kommilitonen zu diskutieren begannen, bis schließlich einer einen Revolver zog und feuerte.

Augenzeugen

Wie hilfreich sind Zeugenaussagen wirklich?

(Foto: Foto: dpa)

Dann klärte Franz von Liszt, Professor für Straf- und Völkerrecht die erschütterten Zuschauer auf: Die Szene war gestellt. Nun sollten die angehenden Juristen festhalten, was sie beobachtet hatten. Und dabei bestätigte sich, was von Liszt erwartet hatte: Sie widersprachen sich sowohl über die Ursache als auch den Verlauf des Streits.

Bereits 1902 hatte der Rechtswissenschaftler an der Berliner Universität so gezeigt, was in den letzten Jahren vor allem DNA-Analysen immer wieder belegt haben. Es ist wenig Verlass auf Augenzeugen - mit häufig fatalen Folgen: 90 Prozent aller erkannten Justizirrtümer, so zeigte etwa eine US-Studie, gehen auf eine falsche Identifizierung zurück. Und vermutlich wird ja nicht jeder Irrtum aufgeklärt.

Warum die Erinnerung uns so häufig täuscht, untersuchen Psychologen schon seit Jahrzehnten. Es hängt damit zusammen, dass wir das, was wir erleben, nicht wie auf Filmrollen gespeichert irgendwo im Gehirn ablegen. Unsere Erinnerungen sind vielmehr eine Sammlung von Erfahrungen, die sich überlagern und gegenseitig beeinflussen.

Falsche Erinnerungen

Eindrucksvoll zeigen dies etwa Studien von Experimentalpsychologen wie Elizabeth Loftus von der University of California in Irvine. Demnach lassen sich Zeugen leicht dazu verleiten, zu glauben, sie hätten ein Auto mit einer bestimmten Farbe oder eine Person mit einer bestimmten Frisur beobachtet.

Selbst falsche Erinnerungen an Erlebnisse während unserer Kindheit können entstehen, wenn uns etwa ein Verwandter davon erzählt. Und Erinnerungen an sexuellen Missbrauch während der Kindheit wurde in einigen Fällen von wohlmeidenden Psychiatern "ausgelöst".

Problematische Gegenüberstellungen

Aber auch unsere Wahrnehmung selbst spielt uns häufig Streiche. Gerade bei Gegenüberstellungen von Zeugen und Tatverdächtigen kommt es aus ganz einfachen Gründen zu falschen Identifizierungen: Wird ein Beschuldigter zusammen mit Vergleichspersonen gezeigt, so befindet er sich häufiger in der Mitte der Reihe - dem Bereich, den die Zeugen besonders intensiv betrachten.

Auch zeigen die Beschuldigten häufig eine andere Körperhaltung, was sich zum Beispiel durch den Stress erklären lässt, dem sie ausgesetzt sind. Sie fallen demnach auf. Und zwar so deutlich, dass sogar Versuchspersonen, die keine Täterbeschreibung kennen, Verdächtige auf Fotos von Gegenüberstellungen sehr häufig identifizieren. Deshalb gilt die sogenannte simultane Gegenüberstellung inzwischen als überholt.

Aber selbst geringe Veränderungen in der Körperhaltung oder der Mimik eines Ermittlers beim Anblick des tatsächlich Verdächtigen führte in Experimenten dazu, dass dieser erheblich häufiger identifiziert wurde. Ein weiteres Problem ist es, dass Angehörige einer Ethnie Probleme haben, Menschen anderer Volksgruppen zu unterscheiden.

Sollte man deshalb auf Zeugenaussagen als Beweismittel in Strafverfahren verzichten? Natürlich nicht, denn unsere Erinnerungen täuschen uns häufig, aber nicht immer und nicht in allen Punkten.

Zeugen helfen, ohne sie zu beeinflussen

Besser ist es deshalb, den Augenzeugen den Weg zur Beschreibung eines Täters oder eines Vorfalles zu ebnen, ohne sie zu beeinflussen. Deshalb müssen sie vor einer Gegenüberstellung zum Beispiel immer den Täter selbst möglichst genau beschreiben. Erst dann werden Vergleichspersonen gesucht, die alle dieser Beschreibung - selbst in Bezug auf Aspekte wie Kleidung, Attraktivität oder Tätowierungen entsprechen.

Die Gegenüberstellung erfolgt schließlich nicht mehr simultan, sondern nacheinander, so dass der Zeuge alle präsentierten Personen einzeln mit seiner Erinnerung vergleicht, und nicht untereinander.

Um von Zeugen möglichst viele Informationen über ein Ereignis zu erhalten, gilt es heute als sinnvoll, sie nach der Tat zuerst frei erzählen zu lassen. Anschließend werden sie gezielt befragt, und zwar in Form eines sogenannten kognitiven Interviews.

Kann man Zeugen trauen?

Dabei werden die Zeugen aufgefordert, chronologisch zu erzählen, was sie beobachtet haben. Die Ermittler unterbrechen nicht und orientieren sich bei ihren Fragen an den Gedankengängen des Zeugen.

Augenzeugen, Phantombild

Dieses Phantombild der Polizei Dillingen sollte bei der Suche nach einem Mörder helfen. Zur Identifizierung von Verdächtigen sind Beschreibungen häufig hilfreicher.

(Foto: Foto: dpa)

Noch nicht angesprochene mögliche Beobachtungen dürfen vom Befrager nicht vorweggenommen werden. Und die Ermittler sollten sich bemühen, keine negativen Fragen wie "Haben Sie nicht gesehen, wie der Täter . . ." zu stellen.

Suggestivfragen wie "Der Mann zog dann eine Waffe, oder?" sind besonders gefährlich, wie die Untersuchungen zur Gedächtnisbildung zeigen.

Die auch in Krimis häufig geäußerte Bitte, der Zeuge solle versuchen, sich an alles zu erinnern - auch an offenbar unwichtige Dinge - hat in der Realität große Bedeutung. Menschen nutzen auch unbewusst Erinnerungshilfen.

Das heißt, denkt jemand an einen Gartenzaun am Tatort, der für den Ablauf der Ereignisse keine Rolle gespielt hat, fällt ihm vielleicht ein, dass der Täter ursprünglich hinter diesem Zaun gestanden hat. Selbst die eigenen Empfindungen während des Vorfalls zu schildern, ist hier hilfreich.

Phantombild oder Beschreibung?

Um möglichst gute Angaben über das Gesicht eines Täters zu erhalten, sollten Zeugen es spontan schildern und anschließend noch einmal ausführlich beschreiben. Und zwar von unten nach oben. Dann, so haben französische Forscher festgestellt, erhalten die Ermittler präzisere Informationen über die untere Gesichtshälfte, die sonst häufig relativ vage bleibt.

Das durchschnittliche Phantombild übrigens ist nicht hilfreicher als die mündliche Beschreibung eines Täters, wie britische Wissenschaftler zeigen konnten. Ihre Studenten erkannten die gesuchten Personen auf Porträts mit Hilfe der schriftlichen Beschreibung weit häufiger wieder als anhand eines danach angefertigten Bildes.

So häufig heute noch Menschen zu Unrecht beschuldigt werden, ein Verbrechen begangen zu haben - mit Hilfe der Psychologie lässt sich dies heute jedenfalls öfter vermeiden als noch zu Zeiten eines Franz von Liszt.

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