Fallin-Walls-Konferenz:Es bröckelt

Auf der Falling-Walls-Konferenz in Berlin versuchen angesehene Forscher aus aller Welt die Trennwände zwischen ihren Fächern niederzureißen. Manche legten mit schwerem Gerät los, andere klopften mit einem Hämmerchen.

Patrick Illinger

Zu Beginn dieser Woche sind in Berlin erneut Mauern gefallen. Sie waren zwar nicht aus Beton, so wie jener Wall, der bis 1989 die Stadt teilte. Doch die soziale, ökonomische, technische oder medizinische Bedeutung einiger der am Montag durchbrochenen oder zumindest angeknacksten Mauern lässt sich durchaus vergleichen mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West.

Verbindung Nerven Chips

Die israelische Wissenschaftlerin Yael Hanein aus Tel Aviv berichtete, wie sich Sensorchips mit Sehnerven verbinden lassen könnten, um Menschen mit zerstörter Netzhaut wieder sehen zu lassen.  Es ist ihr bereits gelungen, neuronale Zellen von Ratten mit Nano-Kohlenstoffröhren zu verbinden (Bild).

(Foto: AFTAU)

In den beeindruckenden Räumen eines ehemaligen Wasserwerks waren Wissenschaftler aufgefordert, Trennwände niederzureißen - jene zwischen Blinden und Sehenden, zwischen Empathie und Egoismus, zwischen Genen und Umwelt, zwischen Judentum und Islam, zwischen Zeitverzug und Pünktlichkeit, zwischen Viren und Impfstoffen, zwischen Umwelt und Atommüll, zwischen Lehrplan und Lernspaß.

Nach dem beeindruckenden Erfolg im vergangenen Jahr ist es der Falling-Walls-Stiftung und ihrem Kopf Sebastian Turner auch in diesem Jahr gelungen, fast zwei Dutzend angesehene Forscher aus aller Welt in Berlin zu versammeln und deren Botschaften in einem einzigen Tag unterzubringen.

Die Experten waren offenbar mit Nachdruck auf das Veranstaltungsformat eingeschworen worden. Sie hielten sich auf erfrischend unakademische Weise an die Vorgabe von 15 Minuten pro Vortrag, wobei sie die vor ihnen stehenden Mauern mit unterschiedlich starkem Werkzeug bearbeiteten: Manche legten mit schwerem Gerät los, andere klopften mit einem Hämmerchen.

Zum Auftakt referierte die Psychologin Tania Singer mit Charme und Wortgewalt über die Wurzeln menschlicher Empathie. An ihrem Max-Planck-Institut in Leipzig blickt sie Menschen mit Kernspin-Tomographen tief ins Gehirn, wo sie etwa erschreckende Unterschiede zwischen männlicher Rachsucht und weiblichem Mitgefühl entdeckte. Dabei betonte sie, dass bei aller Zuwendung die Grenzen zwischen den Menschen erhalten bleiben sollten. Dieses rechte Maß lässt sich erlernen, was unter anderem Experimente mit buddhistischen Mönchen in Singers Labor gezeigt haben.

Der Soziologe Dalton Conley erklärte schlüssig, warum weder Gene noch Umwelt allein menschliches Verhalten determinieren, sondern nur deren Kombination. Yael Hanein aus Tel Aviv berichtete, wie sich Sensorchips mit Sehnerven verbinden lassen könnten, um Menschen mit zerstörter Netzhaut wieder sehen zu lassen. Mit einem dringlichen Aufruf wandte sich die Ethnologin Julie Livingston an das Auditorium, um ein in der Dritten Welt vernachlässigtes medizinisches Problem zu umreißen: das unermessliche Leid von Krebskranken im palliativen Zustand.

Erschütternd war ihr Bericht über das Schrei-Zimmer in einem vietnamesischen Krankenhaus, in dem Kranke unbehandelt ihre letzten Lebenswochen durchleiden. Ernüchternd waren ihre Zahlen: In Deutschland werden jährlich pro Einwohner im Schnitt mehr als 400 Milligramm Morphine oder verwandte Stoffe verabreicht, schon in Polen liegt der Verbrauch bei einem Zehntel davon, in Indien sind es 0,2 Milligramm. "Das Leben in Deutschland ist aber nicht Tausend Mal schmerzhafter als in Botswana", sagte Livingston. Medizinische Hilfe für die Dritte Welt dürfe nicht nur in der Bekämpfung von Malaria und Aids bestehen.

Der New Yorker Historiker Frederik Cooper zeigte, wie Frankreich im Laufe des 20. Jahrhunderts zwischen multikulturellen und isolationistischen Vorstellungen hin und her taumelte. Überhaupt offenbarte der Blick in die Vergangenheit während der Konferenz erstaunliche Risse in dem Gefüge der Weltkulturen.

Radioaktiven Müll umwandeln

Sabine Schmidtke von der FU Berlin lieferte erstaunliche Beispiele aus vergangenen Jahrhunderten, in denen jüdische und moslemische Gelehrte sich nicht nur gegenseitig beeinflussten, sondern sogar die Werke der anderen fortführten, übersetzten und wechselweise philosophische Strömungen induzierten. Den vermeintlich historisch begründbaren, jahrhundertealten Wall zwischen Judentum und Islam zerstörte Schmidtke in ihrer Viertelstunde.

Eine Vision der abfallfreien Fabrik umriss der aus Tokio angereiste Ingenieur Ichiro Inasaki. Die Logistikerin Katja Windt ebnete den Weg zu effizienten Produktionsprozessen und ließ ahnen, welch ungeheurer Aufwand vonnöten ist, um ein einziges Stück Stahl zur rechten Zeit am rechten Ort abzuliefern.

Die Schattenseiten des Bildungsdrucks an Deutschlands Schulen beleuchtete der Münchner Erziehungswissenschaftler Manfred Prenzel: Zwar zeigten viele Schüler dank vertiefter Lehrpläne messbar verbesserte Kenntnisse zum Beispiel in Mathematik oder Physik. Dafür war ihnen die Lust am Fach schlicht vergangen.

Wie sehr Naturwissenschaften begeistern oder auch langweilen können, demonstrierten die drei Physiker des Tages: Der Belgier Daniel Vanmaekelbergh verlor sich in den Details seiner Quantenmikroskopie und konnte auf Nachfragen nicht erklären, wozu man seine Technik brauchen könnte. Hingegen brannte Helmut Dosch vom Hamburger Forschungszentrum Desy zum Thema Röntgenlaser ein wahres Feuerwerk von einer Präsentation ab. Nicht wenige der Diplomaten und Politiker im Auditorium bekamen den Eindruck, sie hätten ein Stück Grundlagenphysik verstanden. Joachim Knebel vom Forschungszentrum Karlsruhe skizzierte eine ausgefallene Methode, die radioaktiven Abfall so umwandeln könnte, dass er nicht mehrere Zehntausende Jahre lang strahlt, sondern womöglich nur einige Hundert Jahre.

Von den Mauern, die im Kampf gegen HIV noch überwunden werden müssen, berichtete der Berliner Hämatologe Eckhard Thiel. Der Saarbrücker Informatiker Thomas Lengauer erläuterte, wie man mit Computeralgorithmen die Schwachstellen von HIV suchen kann. Wie Völker in Asien ihre begrenzten Naturgüter verwalten, ohne diese auszubeuten, könnte auch ein Vorbild sein für den globalen Erhalt der zunehmend umkämpften Ressourcen, erklärte die in Zürich lehrende indische Anthropologin Shalini Randeria.

Erfreut registrierten die Anwesenden den Besuch von Bundespräsident Christian Wulff auf der Konferenz, der in seinem Grußwort die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der Wissenschaft betonte. Zugleich mahnte er die Forscher, sich nicht hinter den Mauern der Fachgrenzen zu verschanzen. Wehmütig erinnerte er an die Zeit, in der noch Universalgelehrte die Herrschenden berieten, zu viel sei in den vergangenen Jahren auf die reinen Naturwissenschaften verlagert worden. Immerhin bekundete er seinen eigenen Wunsch nach interdisziplinärer Beratung: Wulff kündigte an, die Manuskripte der Konferenz von seinem Amt auswerten zu lassen.

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