Exotische Kreaturen:Sie sind unter uns

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Aliens vor Mallorca, Südseeschwärme in der Nordsee - Klimawandel und Schiffsverkehr treiben exotische Kreaturen an die Küsten Europas.

Titus Arnu

Deutsche Taucher waren überrascht, wen sie in der Bucht von Puerto de Andratx trafen. In 15 Meter Tiefe kam ihnen ein Weißspitzenriffhai entgegen. Der Räuber, der etwa zwei Meter groß wird, ist für Menschen zwar ungefährlich - das Unheimliche an der Begegnung aber war, dass dieses Tier normalerweise nicht vor Mallorca, sondern vor den Malediven und vor Australiens Küsten lebt.

Wie der Hai aus dem Pazifik in das beliebte Badegebiet deutscher Urlauber gelangte, ist bis heute nicht geklärt. Sollte er vom Roten Meer bis Mallorca geschwommen sein, wäre das eine Sensation. Bisher wusste man nur von seinem Verwandten, dem Schwarzspitzenriffhai, dass er diesen Weg genommen hat.

Erst am vergangenen Donnerstag entdeckten Biologen des italienischen Forschungszentrums CTS einen jungen Weißen Hai von 1,50 Meter Länge vor den Pelagischen Inseln. Dessen Eltern dürften nicht weit sein.

Immer öfter werden in mediterranen Badegewässern solche exotischen Gäste gesichtet. Ein neun Meter langer Riesenhai ist vor drei Jahren Fischern in der nördlichen Adria ins Netz gegangen. Weitere Exemplare dieser Spezies, die eigentlich im Atlantik lebt, seien im Norden des Mittelmeers entdeckt worden, sagt der kroatische Ozeanologe Jakov Dulcic.

15 Meter lang

Das in der Adria gefangene Exemplar sei nicht einmal ein großer Vertreter seiner Art gewesen, bemerkt Dulcic: "Der Riesenhai kann bis 15 Meter lang werden und acht Tonnen wiegen."

Fest steht: Im Mittelmeer leben inzwischen mehr Haiarten und andere Störenfriede, als Touristen eigentlich wissen möchten. Kaum ein Urlauber, der sich im Wasser treiben lässt, ahnt nur ansatzweise, wie viele fremdartige Wesen unter ihm schwimmen.

Von den 12.000 verschiedenen Spezies aus Flora und Fauna, die im Mittelmeer leben, sind fast ein Zehntel eingewanderte Arten. So wird das östliche Mittelmeer von der Qualle Rhopilema nomadica heimgesucht, die bis zu einem Meter groß wird und Menschen mit ihren Nesseln schwer verletzen kann.

Vor der türkischen Küste wurde ein Barrakuda gefangen, der Raubfisch stammt ursprünglich aus dem Indopazifik. In Italiens Badebuchten wuchern giftige Algen.

Und vor der israelischen Küste gingen einem Fischer ein giftiger Rotfeuerfisch und ein Igelfisch ins Netz - ein Exot, der eigentlich im Indischen Ozean zu Hause ist. Im Abstand von wenigen Monaten tauchen immer wieder neue Bewohner im Mittelmeer auf, zuletzt der gestreifte Korallenwels, die Seepferdchenart Hippocampus fuscus Rüppell und der Blauband-Papageienfisch. Alle stammen aus dem Indischen Ozean. An der ligurischen Küste wurde ein Hammerhai aus dem Atlantik gesichtet.

Die Invasion der fremden Tiere und Pflanzen läuft diskreter ab als der jährliche Ansturm menschlicher Touristen, hat aber schlimmere Folgen. Die Exoten senken die Fischerträge um bis zu 90 Prozent und zerstören ganze Ökosysteme.

Nach einem Bericht der Nasa, die invasive Organismen per Satellit aus dem All verfolgt, verursachen eingewanderte Arten weltweit einen Schaden von mehr als 80 Milliarden Euro pro Jahr.

Meeresbiologen haben in den vergangenen zehn Jahren mehr als 120 neue Fischarten im Mittelmeer registriert, die meisten davon stammen aus dem Roten Meer. Anfang 2005 zählten Forscher fast 50 fremde Muschelarten im Mittelmeer.

Die europäische Meeresforschungsgesellschaft CIESM dokumentiert den Artenzuwachs im "Atlas der exotischen Fische". Als "Alien" gilt eine Art, wenn sie außerhalb ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets gefunden wird, als "invasiv", wenn sie sich aggressiv ausbreitet und einheimische Arten verdrängt.

Dorade vor Sylt

Meeresbiologen beobachten auch vor deutschen Küsten einen regen Besucherverkehr. Forscher des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) ließen vor Sylt ein Fangnetz auf den 15 Meter tiefen Meeresgrund hinunter. Nach zehn Minuten holten sie das Netz wieder ein. Zwischen Seesternen, Krebsen und Wattmuscheln fanden sie eine Dorade aus dem warmen Mittelmeer.

"Seit 2003 beobachten wir auch im Wattenmeer sehr starke Phasen von warmem Wasser, die im Sommer auftreten. Das bedeutet, dass die Fische gute Überlebenschancen im Bereich der südlichen Nordsee haben und nicht mehr durch kalte Temperaturen vertrieben werden", sagt Harald Asmus vom AWI.

Der Klimawandel ist nach Meinung von Experten der Hauptgrund für die Erwärmung der Nordsee. Häufiger als früher drückt der Westwind warmes Wasser aus dem Ostatlantik in die Nordsee. Sardinen und Sardellen, die Schwarmfische des Südens, wandern ein.

Meeräschen und rosafarbene Streifenbarben verbringen den Sommer in der Deutschen Bucht. Dafür wird es den heimischen Arten, wie dem Kabeljau, zu heiß - sie flüchten in den hohen Norden.

Wenn sich das Meer bei Ebbe zurückzieht, werden die Einwanderer im Schlick sichtbar: Zu den neudeutschen Watt-Siedlern gehören Schwertmuscheln und Pantoffelschnecken aus Amerika sowie australische Seepocken. Die Pazifischen Austern verbreiten sich besonders aggressiv im Watt und sind schon jetzt deutlich dominanter als die Miesmuscheln.

Der Meeresbiologe Karsten Reise vom AWI vermutet, dass die Auster den Platz der Miesmuschel einnehmen wird. Für viele Meeresvögel wäre das ein Problem.

Auch der Export neuer Arten funktioniert. Die europäische Strandkrabbe krabbelt heute nicht nur über europäische Strände, sondern auch auf amerikanischen, südafrikanischen, australischen und japanischen Küsten. Auf ihrer Weltreise hat die Krabbe neue Gewohnheiten entwickelt.

In amerikanischen Gewässern ernährt sie sich am liebsten asiatisch - sie frisst Muscheln, die aus Korea eingeschleppt wurden. "Das Einschleppen schädlicher Wasserorganismen und Bakterien gehört zu den größten Bedrohungen der Ozeane", sagt Efthimios Mitropoulos, Generalsekretär der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO.

Warum die weltweite Verbreitung von Meereslebewesen so stark zunimmt, lässt sich am Mittelmeer besonders gut beobachten. Die Zahl der Einwanderer steigt dort schneller als anderswo.

Wie in der Nordsee heizen auch im Mittelmeer ansteigende Temperaturen die Wanderung der Wasserwesen an. An der spanischen Küste wurden im Hitzesommer 2003 Wassertemperaturen von 30 und stellenweise sogar von 32 Grad Celsius gemessen - die höchsten Werte seit 50 Jahren. Normalerweise ist das Wasser dort im Sommer 25 bis 26 Grad warm.

Der italienische Meeresbiologe Nike Bianchi hat festgestellt, dass die Temperatur im gesamten Mittelmeer in den vergangenen zehn Jahren um etwa zwei bis drei Grad angestiegen ist. In der Adria hat sein Kollege Giambattista Bello bereits eine "Tropikalisierung" der maritimen Fauna beobachtet.

Den Einwanderern aus dem Roten Meer, die sehr salziges Wasser gewohnt sind, kommt zugute, dass der Salzgehalt des Mittelmeers stetig zunimmt. Das Wasser verdunstet schneller, als es nachfließt.

Verhindern lässt sich die Invasion kaum. Durch die Meerenge von Gibraltar fließen pro Sekunde 1,5 Millionen Kubikmeter Wasser, das entspricht rund 500-mal der Wassermenge der Niagarafälle.

Seit 1869 der Suezkanal eröffnet wurde, steht den Nomaden der See auch der Weg vom Indischen Ozean ins Mittelmeer offen. Der Suezkanal ist eine gigantische Wasserstraße, bis zu 365 Meter breit und über 20 Meter tief.

Durch ihn gelangte auch die Qualle Rhopilema nomadica ins östliche Mittelmeer. Schwimmer fürchten das gallertartige Wesen, denn seine giftigen Nesseln können böse Wunden hervorrufen. Israels Strände sind immer wieder wegen Quallenalarm gesperrt.

Auch Fischer hassen die Glibber-Monster, denn sie stören das ökologische Gleichgewicht. "Es ist eine Pest", klagt die israelische Meeresforscherin Bella Galil, "die Schwärme sind wie Staubsauger und fressen alles leer."

Die bis zu einem Meter großen Tiere verstopfen auch Wasserzuleitungen von Elektrizitätswerken und Kühlsysteme von Schiffsmotoren.

Wahrscheinlich reiste Rhopilema auch per Schiff in einem Ballasttank an. Passagier- und Frachtschiffe pumpen je nach Ladung und Seegang Meerwasser in verschiedene Kammern, um sich zu stabilisieren. Der deutsche Meeresbiologe Stephan Gollasch hat nachgewiesen, dass täglich 4000 Arten in den Ballasträumen und an den Außenwänden von Schiffen um die Welt schippern.

Allein in deutschen Gewässern werden 20 Millionen Tonnen Ballastwasser pro Jahr abgelassen. Durch den Suezkanal fahren pro Jahr mehr als 15.000 Frachter, Tanker und Passagierdampfer. Der Schiffsverkehr hat nach Auskunft der CIESM bereits mehr als 500 Arten von Algen und Meerestieren aus Übersee an die Küsten Europas gebracht.

Der Nemo-Effekt

Gefahr droht nach Meinung der Forscher auch durch den Nemo-Effekt: Menschen halten exotische Lebewesen in Aquarien und kippen den Inhalt irgendwann einfach in einen See. "Die lebenden Korallen, tropischen Fische und bewachsenen Steine stellen für fremde Territorien immense Risiken dar", sagt Dianna Padilla von der Stony Brook University in New York.

Während in Ballastwassertanks eine natürliche Mischung von Arten transportiert wird, sind es im Aquarienbereich vor allem kräftige, fortpflanzungsfähige Tiere, die den langen Transportweg überleben. Sie stellen die größte Bedrohung für heimische Arten dar.

Ein Drittel der von der International Union for the Conservation of Nature (IUCN) gelisteten 100 gefährlichsten Bioinvasoren im Wasser stammt aus Aquarien oder offenen Schaubecken. Auch in Deutschland sind Zwergwelse, Störe und Blaubandbärblinge aus Aquarien in fließende und stehende Gewässer geraten.

Sogar wärmebedürftige tropische Fische wie Piranhas finden in Mitteleuropa mancherorts ideale Bedingungen - etwa dort, wo Kraftwerke ihr erhitztes Kühlwasser zurück in die Flüsse leiten.

Wie gefährlich Aquarienbewohner in der Freiheit werden können, hat die Grünalge Caulerpa taxifolia bewiesen. Mitte der 80er Jahre gelangte die tropische Pflanze in italienische Gewässer, vermutlich aus Aquarien, in denen sie ihrer kräftigen grünen Farbe wegen gerne gehalten wird.

Wo Caulerpa einmal wächst, sind 75 Prozent der heimischen Arten bedroht; das hat der auch als Killeralge bekannt gewordenen Seepflanze einen unangefochtenen Spitzenplatz auf der Liste der hundert schlimmsten invasiven Arten der Erde gesichert.

Manche Forscher prophezeien schon ein neues Erdzeitalter, das "Homogozän", die Ära, in der überall auf der Erde die gleichen Tier- und Pflanzenarten vorkommen. Über Meerbarben aus dem Roten Meer, Taschenkrebse aus dem Atlantik und Riesengarnelen aus Ostasien freuen sich Fischer und Köche allerdings.

Mehr als die Hälfte der Garnelen, die im Mittelmeer gefangen werden, sind mittlerweile die bei Feinschmeckern beliebten Tigergarnelen. Auch die Horror-Qualle Rhopilema nomadica sei essbar, sagt die israelische Meeresforscherin Galil.

Die Schwärme wären im Mittelmeer leicht zu dezimieren, würden die Europäer so viele Quallengerichte verspeisen wie die Japaner. Galil hat ihr Forschungsobjekt schon öfter gekostet und war angetan.

"Als Suppe oder Salat schmeckt Qualle gar nicht so schlecht", sagt sie. "Vielleicht wäre das eine gute Idee: Esst die Aliens einfach auf!"

© SZ vom 15.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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