Evolution:Pilgerreise zum Anfang des Lebens

Richard Dawkins' "Geschichten vom Ursprung des Lebens" ist das zur Zeit lesens- und bedenkenswerte Buch über die Evolution überhaupt.

Cord Riechelmann

Vielleicht, es könnte ja sein, sind Wolken und Regen Anpassungen, "mit denen Mikroorganismen für ihre eigene Verbreitung sorgen".

Evolution: Giftstacheln etwa sind in der Evolution mindestens zehnmal bei verschiedenen Arten, unabhängig voneinander, entstanden - so auch beim Rotfeuerfisch.

Giftstacheln etwa sind in der Evolution mindestens zehnmal bei verschiedenen Arten, unabhängig voneinander, entstanden - so auch beim Rotfeuerfisch.

(Foto: Foto: dpa)

Richard Dawkins hat, als er diese Vermutung in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Geschichten vom Ursprung des Lebens" äußert, bereits eine lange Reise hinter sich.

Er hat die große Katastrophe der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren inspiziert, sich Gedanken über jene Abbildungen gemacht, die die Entwicklung des Menschen von einem gebückt gehenden haarigen Wesen bis zum heutigen Menschen im Anzug zeigen, hat die Geschichte der Heuschrecken erzählt und die Geschichte des Lebens zu einer Geschichte der Vererbung umgedeutet.

Auf mehr als 900 Seiten ist Dawkins der Evolution der Lebewesen nachgefahren und hat dabei all das vermieden, wofür er sonst berüchtigt ist. Er hat weder, wie in seinen Büchern über den "Gotteswahn" und das "egoistische Gen", die Religion in Bausch und Bogen verdammt, noch die Geschichte auf einen Molekülmotor eingedampft, der die Lebewesen zu Vehikeln der Gene macht, versehen mit der einzigen Anweisung, ihre eigenen Gene möglichst zahlreich in die Welt zu schleudern.

"Es geschieht nichts Neues unter der Sonne"

Auf den ersten Blick scheint Dawkins in manchen Passagen des Buches sogar das Gegenteil seines Wissenschaftsatheismus für möglich zu halten. So zitiert er zustimmend in einer seiner schönsten Geschichten, der Geschichte des Flusspferdes, den Prediger Salomo: "Es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: 'Sieh, das ist neu'? Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind."

Geschichte soll sich also wiederholen und nichts anderes tun, als einen alten Schöpfungsplan immer wieder abzuspulen? Hatte nicht gerade Charles Darwin jeden Plan aus der Entwicklungsgeschichte des Lebendigen genommen und die andauernde Veränderung der Lebewesen postuliert? Und ist nicht Richard Dawkins der entschiedenste und radikalste Darwinist unserer Tage?

Ja doch, so ist es, und genau darin liegt das Problem und die Größe von Dawkins' Opus magnum, als das man dieses Werk bezeichnen muss. Natürlich ist Dawkins, der an anderer Stelle auch noch den Propheten Hesekiel zu Wort kommen lässt und die Texte des Alten Testaments wegen ihrer "herrlichen sparsamen Sprache" lobt, keinen Millimeter von seinem Atheismus abgerückt.

Ein Mensch, der in einem Garten zuerst eine Inventur der dort zu sehenden Pflanzen vornimmt, sie in die bestehenden biologischen Systeme einordnet, ihre physiologischen Leistungen bewundert - Dawkins ist ein Fan der Konstruktionsleistungen des Blumenkohls -, ist ihm immer noch lieber als ein Dichter, der sofort, ohne Ahnung, von Elfen zu faseln beginnt.

Wie erklärt man die "Reime" der Evolution, wenn man Atheist ist?

Nur, und da unterscheidet er sich von deutschen Darwinisten wie dem Kasseler Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera, sieht Dawkins die Schwierigkeiten: Wie kann man mit einem reinen Zusammenspiel des Zufalls, der alle Lebenserscheinungen hervorbringt, und der Selektion, die in die zufälligen Hervorbringungen der Natur eine Richtung schlägt, den Beginn des Lebens und damit das Leben überhaupt erklären?

Zudem kann Dawkins lesen, eine Fähigkeit, die im deutschen Biologiestudium weder geschätzt noch ausgebildet wird. Und beim Lesen ist ihm ein fundamentaler Widerspruch aufgefallen. Charles Darwin - im nächsten Jahr wird sein 200. Geburtstag und der 150. Geburtstag von "Über die Entstehung der Arten" gefeiert -, Darwin wollte ausdrücklich nicht von der Entstehung des Lebens handeln, das hielt er für so überflüssig wie das Nachdenken über den Beginn der Materie.

Das Alte Testament aber handelt von der Schöpfung, also vom Beginn des Lebens. Wer wie Dawkins über diesen Beginn handeln will, ohne religiös zu werden, setzt sich zwangsläufig in ein Verhältnis zur Schöpfungslehre und zu ihrer heute entwickeltsten, der "Intelligent Design"-Theorie.

Und da wird es jetzt wirklich kompliziert. Für reine Zufallsapolegeten wie den Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould würde sich nichts in der Evolution noch einmal so ereignen, wie es geschehen ist: Begänne die Evolution von vorne, brächte sie gewiss nicht noch einmal ein Lebewesen wie den Menschen hervor - weil sie eben ohne Plan vorgeht.

Und genau in dem Punkt ist sich Dawkins nicht sicher: Ob es nicht doch Wiederholungen und "Reime" in der Entwicklungsgeschichte des Lebendigen geben könnte? Zu ähnlich sind sich manche Strukturen wie die Augen bei verschiedenen Lebewesen, die zudem noch völlig unabhängig in nicht miteinander verwandten Tierstämmen entstanden sind. Wie erklärt man Phänomene wie die vierzigfache unabhängige Entwicklung des "Auges", wenn man ohne intelligenten Designer der Lichtverarbeitungsapparaturen auskommen muss, weil man Darwinist ist?

Das Prinzip alles Lebendigen ist die Vererbung

Mit dem Zufall allein kommt man da nicht sehr weit, was schon Darwin ahnte, dem beim Anblick des Säugetierauges ganz schwindelig um seine Theorie wurde. Dawkins' Lösungsverschlag für die Entstehung ähnlicher Strukturen bei nicht verwandten Gruppen des Tierreichs nun ist das zur Zeit lesens- und bedenkenswerteste in der gesamten Biologieliteratur überhaupt.

Hierzulande muss man das betonen, weil erst kürzlich wieder in einer liberalen Wochenzeitung zu lesen war, dass die Evolutionstheorie mit Darwin ihren Newton gefunden hätte und jetzt nur noch auf ihren Einstein warte. Eine Analogie, die komplett in die Irre führt, weil die Biologie eben keine Physik ist, allerdings natürlich auch von physikalischen Gesetzen und Phänomen abhängt.

Dawkins, der öfter auf physikalische Theorien eingeht und sie knapp in ihre Grenzen weist, wenn es um das Leben geht, sagt es so: "Eine Tätigkeit wie das Sehen kann nur in einem Universum ablaufen, in dem Sterne das sind, was man sieht. Aber es gibt noch ein wenig mehr zu sagen."

Pilgerreise zum Anfang des Lebens

Zum Beispiel dies: In der biologischen Evolution gibt es keine bevorzugte Abstammungslinie und kein vorherbestimmtes Ende. Was es aber gibt, sind wiederkehrende Strukturen. Die Echoortung hat sich unabhängig bei Fledermäusen und Walen entwickelt. Giftstacheln, mit denen sich ein Gift unter die Haut injizieren lässt, sind in der Evolution mindestens zehnmal unabhängig aufgetaucht: bei Quallen, bei Spinnen, Skorpionen, Hundertfüßern, Insekten, Weichtieren (Kegelschnecken), bei Schlangen, Rochen, Knochenfischen (Steinfisch), Säugetieren (Schnabeltiermännchen) und Pflanzen (Brennnessel).

Das Geräuscherzeugen zu sozialen Zwecken hat sich unabhängig bei Vögeln, Säugetieren, Heuschrecken und Grillen, Zikaden, Fischen und Fröschen entwickelt.

Dawkins zählt noch eine Reihe anderer Phänomene wie den "Flatterflug" und die Elektroorientierung auf und schreibt, dass man sehr lange suchen müsse, um Einmaligkeiten in der Evolution zu finden. Auch das tut er nicht ohne Beispiel: Die Wasserspinne, eine ins Wasser zurückgekehrte Spinne, löst ihr Sauerstoffproblem einmalig. Sie spinnt sich aus Seide eine Taucherglocke, verankert sie unter Wasser an einer Pflanze, füllt sie mit Sauerstoff von oben aus der Luft, wartet in der Taucherglocke auf Beute, die sie dort nach dem Fang auch verstaut und frisst.

Seltene Einmaligkeiten, häufige Ähnlichkeiten

Es gibt also Einmaligkeiten, aber wesentlich häufiger separat entstandene Ähnlichkeiten. Dawkins' Erklärung dafür ist so einfach wie erprobt. Wenn man die Geschichte des Lebens zum Ursprung zurückverfolgt, kommt man immer zum Einen, mit dem alles anfing und aus dem alles hervorging.

Das Eine hat sich sehr schnell aufgespalten, ging hier hin, da hin, ließ manches liegen - die meisten Arten sind ausgestorben -, verfolgte anderes weiter, spaltete sich wieder ab, landete auf Inseln ohne und mit Konkurrenz, blieb wie es war oder veränderte sich in der Konkurrenz. Das ist nichts anderes als die Geschichte der Arten, wie sie auch andere erzählen: Am Anfang war die Einheit alles Lebendigen, und heute freuen wir uns an der Vielfalt.

Dawkins' Erklärung, wie aus dieser Einheit dann Ähnlichkeiten und Wiederholungen in der Vielfalt entstehen, ohne dass er den Zufall ganz ausschließt, machen ihn zum einzig ernstzunehmenden Strukturalisten der Gegenwartsbiologie.

An den Anfang, als Einheit, setzt Dawkins nämlich keine Lebewesen, sondern eine Struktur. Den Anfang bildeten Stoffe, die sich selbst replizieren konnten, das war nicht die heutige DNA oder RNA. Die ursprünglichen Replikatoren waren vielleicht anorganische, mineralische Kristalle.

Dawkins hält das für möglich, meint aber, dass der Stoff, der die Replikation und damit die "echte" Vererbung in die Welt gebracht hat, nicht so wichtig und sowieso nicht mehr rekonstruierbar sei. Wichtiger ist, dass damit das Prinzip, die strukturelle Gemeinsamkeit alles Lebendigen entstanden sei: die Vererbung.

Damit verabschiedet Dawkins auch den Lebensbegriff aus der Geschichte der Lebensformen und ersetzt ihn durch die Geschichte der Vererbung. Er trennt die Stammbäume der Lebewesen von den Stammbäumen der genetischen Information. Leben als solches sei nicht eindeutig definiert, Vererbung schon.

Pilgerreise zum Anfang des Lebens

Auch damit steht er natürlich nicht allein. Die moderne Biologie arbeitet nicht mehr mit dem Lebensbegriff, sie ersetzt ihn durch Reaktionen, autopoietische Systeme, Funktionen oder Mechanismen.

Neu an Dawkins' Erklärung ist nur, dass einsichtig wird, wie die aus der Einheit hervorgegangenen Lebewesen so viele ähnliche Strukturen unabhängig voneinander hervorbringen konnten und wahrscheinlich immer wieder können werden. Die aus der Einheit kommende Vielfalt trägt immer noch die Informationen vom Anfang mit sich und kann sie dann an vielen verschiedenen Orten und in vielen verschiedenen Arten jeweils spezifisch, aber doch ähnlich, realisieren.

Wiederholungen, aber nie gleich

Es gibt also Wiederholungen in der Evolution, nur sind sie nie gleich. Weil jede neue aus der Einheit hervorgegangene Lebensform die Atmosphäre, die Lebensumstände verändert, und zwar einfach nur dadurch, dass sie da ist. Aufeinanderfolgende Wiederholungen fallen deshalb in der Biologie nie gleich aus.

Es macht einen Unterschied, ob sich etwas unter zehn verschiedenen Arten wiederholt, oder ob es sich mit Millionen verschiedener Arten wiederholt. Biologisch bleibt an dieser Konzeption der Wiederholungen die Unvorhersehbarkeit. Es gibt keine Möglichkeit, aus der Kenntnis der Struktur der Mechanismen der Vererbung vorherzusagen, was demnächst sich entwickeln wird. Das Zusammenspiel von Lebensformen und ihren Umwelten ist konstitutiv unberechenbar. Das unterscheidet biologische Gegenstände prinzipiell von physikalischen.

Die Geschichte der Lebewesen muss also immer wieder neu erzählt werden, darf aber ruhig auf erprobte Erzählformen zurückgreifen. Das tut Richard Dawkins auch. Er nennt seine Reise von heute zum Anfang des Lebens eine Pilgerreise. Die Blaupause dafür liefern ihm Geoffrey Chaucers "Canterbury Tales".

Dawkins beginnt seine Reise bei Craig Venter und seinem Pudel und steigt immer weiter herab, über die Geschichte der Schimpansen, der Lemuren, der Beuteltiere bis zu den Bakterien. 3,5 Milliarden Jahre fasst er zusammen und erzählt die Geschichte der Sexualität genauso wie die der Fossilien. Mehr kann man zur Zeit in einem Buch nicht lesen. Das ist dem Reichtum seines Gegenstands angemessen.

RICHARD DAWKINS: Geschichten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Ullstein, Berlin 2008. 928 Seiten, 29,90 Euro.

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