Evolution im Internet:"Darwin hat sich um Religion nicht gekümmert"

Während in den USA die Evolutionsgegner auf dem Vormarsch sind, hat der britische Historiker John van Wyhe das komplette Werk von Charles Darwin ins Internet gestellt. Jetzt kann sich jeder selbst ein Bild von der Arbeit des Naturforschers machen.

Markus C. Schulte von Drach

Es ist eine einzigartige Sammlung von Darwin-Werken, die auf den Seiten des Centre for Research in the Arts, Social Sciences, and Humanities der University of Cambridge zu finden ist - angeboten als formatierte Texte und häufig auch als digitalisierte Abbildungen der Originale.

Charles Darwin

Charles Darwin in seinen späten Jahren.

(Foto: Foto: dpa)

Etwa 50.000 Seiten und 40.000 Bilder beinhaltet die Internetseite "The Complete Work of Charles Darwin Online" - das meiste Material steht zum ersten Mal im Internet. Es handelt sich um die größte Sammlung von Werken des Begründers der Evolutionstheorie weltweit. Alle Inhalte sind kostenlos zugänglich, viele Texte lassen sich sogar als Audio-Files herunterladen.

Begonnen hat der Historiker John van Wyhe das Projekt aus Frust.

sueddeutsche.de: Fast 150 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins wichtigstem Buch "Vom Ursprung der Arten" haben Sie das komplette Werk des Naturforschers ins Internet gestellt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

John van Wyhe: 2002 habe ich an der Universität Singapur gearbeitet. Ich wollte die Geschichte von Charles Darwin erforschen. Aber in der Bibliothek gab es nur einen Originaltext von ihm - sein Buch über Würmer. Das war nicht besonders hilfreich. Es gab natürlich moderne Ausgaben seiner Werke. Aber ich brauchte die Originaltexte.

Auch im Internet gab es fast nichts brauchbares. Vieles war bearbeitet, nur in Auszügen veröffentlicht, verändert oder sogar verfälscht worden. Oft fehlten Seitenzahlen und Fußnoten. Für einen Historiker war das alles ziemlich nutzlos.

Da habe ich gedacht: Dann mache ich das selbst. Ich begann, Leuten weltweit von meiner Idee zu erzählen und sie um Hilfe zu bitten.

sueddeutsche.de: Wer hat Ihnen geholfen?

van Wyhe: Viele Menschen in Großbritannien, aber auch in anderen Ländern. In Australien zum Beispiel tippt eine Dame als Hobby historische Bücher ab. Umsonst. Anfänglich hatte ich keine finanzielle Unterstützung, so dass ich darauf angewiesen war, die Texte kostenlos zu bekommen. Seit einem Jahr ist das jetzt anders.

sueddeutsche.de: Wie weit ist das Projekt fortgeschritten?

van Wyhe: Wir haben mindestens eine Ausgabe aller Bücher, alle Zeitschriften-Artikel von Darwin, es ist alles komplett da. Was wir noch hinzufügen wollen sind weitere Ausgaben bereits veröffentlichter Werke und Übersetzungen. Außerdem alle seine Manuskripte. Auch da ist schon viel passiert. Wir haben zum Beispiel schon neunzehn Bücher und kürzere Stücke in deutscher Sprache in der Sammlung.

sueddeutsche.de: Wen wollen Sie mit dem Angebot erreichen?

van Wyhe: In erster Linie natürlich Historiker. Aber die Sammlung soll jeden ansprechen. Sie ist kostenlos zugänglich. Und wir haben uns sehr bemüht, das Angebot auch für Nicht-Historiker attraktiv zu machen. Es gibt zum Beispiel für jedes Buch Übersichtsseiten nur mit den darin enthaltenen Bildern.

sueddeutsche.de: Wie wurde das Projekt bislang angenommen?

van Wyhe: Schon am ersten Tag hatte die Website mehr als fünf Millionen Hits, inzwischen sind es zwölf Millionen.

sueddeutsche.de: Was sind die Höhepunkte der Sammlung? Darwins Notizbuch, das er während seiner Reise mit der Beagle zu den Galapagos-Inseln dabei hatte, und das jetzt erstmals im Internet steht?

van Wyhe: Das ist natürlich sehr interessant. Allerdings ist es für den normalen Leser sehr schwer zu entziffern. Wir haben es deshalb auch abgetippt. Viel besser zu lesen ist zum Beispiel Darwins Beagle-Tagebuch. Ein sehr spannendes und interessantes 800-Seiten-Buch, das der Forscher während seiner Reise um die Welt geschrieben hat.

sueddeutsche.de: Wie sind Sie eigentlich an die Galapagos-Feldnotizen Darwins gekommen? Das Buch wurde doch in den 80er Jahren gestohlen.

van Wyhe: Das stimmt. Aber in den 60er Jahren wurde es auf Mikrofilm aufgenommen. Darauf konnten wir zugreifen. Wir hoffen übrigens, dass das Original jetzt vielleicht wieder auftaucht. Die Information, dass es geklaut wurde, verbreitet sich auch mit der Berichterstattung über unsere Seite.

sueddeutsche.de: Zur Zeit befinden sich Evolutionsgegner und Kreationisten vor allem in den USA in der Offensive. Konservative Christen fordern dort sogar, Intelligent Design - eine neue Form des Kreationismus - neben Darwins Evolutionstheorie an den Schulen zu lehren. Kann man Ihr Projekt als Versuch betrachten, den Vertretern dieser Vorstellungen etwas entgegenzustellen?

van Wyhe: Sicher. Viele Leute, die starke Abneigungen gegen Darwin und seine Theorie haben, kennen das, was er gesagt und gewollt hat, nur aus zweiter Hand. Jetzt kann sich jeder selbst ein Bild davon machen, was er eigentlich geschrieben hat. Was er eigentlich wollte.

Es ist zum Beispiel ein weit verbreiteter Unsinn, dass Darwin gegen die Bibel oder gegen Gott war. Man muss nur ein einziges seiner Bücher lesen, um zu begreifen, dass er einfach ein sehr ernsthafter, sehr kompetenter Wissenschaftler war, der eine wichtige Theorie entwickelt hat.

"Darwin hat sich um Religion nicht gekümmert"

sueddeutsche.de: Welches Buch würden Sie diesen Leuten empfehlen?

H.M.S. Beagle

Die H.M.S. Beagle, mit der Darwin um die Welt segelte

(Foto: Quelle: The Complete Work of Darwin Online)

van Wyhe: Sie sollten "Über die Entstehung der Arten" lesen, sein erstes Buch über die Evolutionstheorie aus dem Jahre 1859.

sueddeutsche.de: Können Sie sich vorstellen, was Darwin den Kreationisten heute sagen würde?

van Wyhe: Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Er hat seinerzeit schließlich auch mit Kreationisten zu tun gehabt. Er hat als erster versucht, eine natürliche Erklärung dafür zu geben, woher alle diese verschiedenen Arten auf der Welt herkommen. Und seine Beweise waren so gut und detailliert, dass die Frage nach dem Ursprung der Arten innerhalb der Wissenschaften bereits in seiner Zeit entschieden war.

sueddeutsche.de: Und außerhalb der Wissenschaften? Schließlich stand und steht seine Theorie im Widerspruch zur Schöpfungsgeschichte der Bibel.

van Wyhe: Darwin hat sich um die religiösen Grundlagen, an denen viele Leute festhalten wollten, nicht gekümmert. Er hatte kein Interesse an einem Streit mit solchen Menschen, er hat sie einfach ignoriert. Er hat nur mit Wissenschaftlern diskutiert.

sueddeutsche.de: Aber macht es Sinn, über wissenschaftliche Erkenntnisse nur unter Forschern zu diskutieren? Muss man sich nicht irgendwann der Öffentlichkeit stellen?

van Wyhe: Darwin hat seine Argumente gegen die Vorstellungen der damaligen Kreationisten ja nicht verheimlicht, sondern aufgeschrieben und veröffentlicht. Und zu seiner Zeit war der Kreationismus nicht der Versuch, eine Religion zu verteidigen, sondern eine Vorstellung unter Wissenschaftlern. Die Erforschung von Fossilien hatte dazu geführt, dass die Fachleute von mehreren Schöpfungsperioden ausgingen. Das war eine wissenschaftliche Erklärung. Und gegen diese Vorstellung hat Darwin wissenschaftlich argumentiert.

sueddeutsche.de: Glaubten nicht viele Wissenschaftler noch an eine einzige Schöpfung - wie in der Bibel - nach der dann viele Tierarten wieder verschwunden sind?

van Wyhe: Zu Darwins Zeit war die Vorstellung, es habe nur eine Schöpfung gegeben, unter Wissenschaftlern schon lächerlich. Dabei waren diese Leute alle ernsthafte Christen, die glaubten, Gott habe die Welt erschaffen - aber mehrmals geändert. Das spiegelte die Fossiliengeschichte für sie wieder.

sueddeutsche.de: Darwin sah das als erster anders?

van Wyhe: Darwin hat diese Vorstellung nur etwas verändert. Was aussah wie viele neue Schöpfungen war für ihn ein einziger, langer Prozess, bei dem sich aus einer Art neue Arten entwickelten.

sueddeutsche.de: War Darwin selbst Christ?

van Wyhe: Zuerst ja. Aber er hat seine Religion allmählich aufgegeben und am Ende seines Lebens vielleicht sogar den Glauben an einen Gott überhaupt verloren. Aber zu der Zeit, als er "Die Entstehung der Arten" geschrieben hat, war er fest davon überzeugt, es gebe einen Schöpfer. Einen Gott, der über Naturgesetzte Ordnung in die Welt gebracht hatte.

sueddeutsche.de: Er glaubte also nicht an einen Gott, der immer wieder regelnd eingreift, sondern an einen Schöpfer, der anfänglich die Regeln festgelegt hat, nach denen das Leben auf der Erde sich abspielt?

van Wyhe: Genau. Ihm war es unwahrscheinlich vorgekommen, dass eine so komplizierte und regelhafte Welt ganz ohne Schöpfer sein könnte. Übrigens zeigt unser Projekt, dass Darwin überhaupt eine interessante Persönlichkeit war, und nicht nur dieser alte Bursche mit dem langen Bart, der die Evolutionstheorie aufgestellt hat. Er war auch Geologe, Paläontologe, Botaniker. Ein erstaunlicher Mann.

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