Evolution des Menschen:Der Neandertaler in uns

Forscher haben das Genom des Neandertaler entziffert - sein Erbgut unterscheidet sich nur um 0,2 Prozent von dem des modernen Menschen.

Hubert Filser und Katrin Blawat

Wir sind Neandertaler. Wenigstens ein bisschen. Das kann nun jeder Europäer von sich behaupten.

Neandertaler, dpa

Ein bis vier Prozent unseres Erbguts stammen vom Neandertaler.

(Foto: Foto: Johannes Krause/Atelier Daynes/Kovacic/Radovcic/dpa)

Damit ist zugleich eine Frage geklärt, die wohl seit dem ersten Neandertaler-Knochenfund im Jahr 1856 bei Düsseldorf die Öffentlichkeit beschäftigt hat: Ja, Menschen und Neandertaler hatten einst tatsächlich Sex miteinander, vor rund 50.000 Jahren irgendwo im Nahen Osten.

Svante Pääbo drückt es als Wissenschaftler etwas charmanter aus: "Diejenigen von uns, die außerhalb Afrikas leben, tragen ein kleines bisschen Neandertaler in sich", sagt der Leipziger Paläogenetiker vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Ein bis vier Prozent unseres Erbguts stammen vom Neandertaler, berichten die Forscher in der aktuellen Titelgeschichte des Fachmagazins Science. Vier Jahre lang hat ein internationales Team das Neandertaler-Genom sequenziert, vier Milliarden Basenpaare daraus haben die Wissenschaftler mit dem Erbgut heute lebender Menschen verglichen.

Genaustausch vor 60.000 Jahren

Die Analyse besagt, dass sich vor 500.000 Jahren die Entwicklungslinien von Mensch und Neandertaler getrennt haben. Bei früheren Untersuchungen des Erbguts in den Mitochondrien der Neandertaler hatten die Forscher keine Hinweise darauf gefunden, dass sich unsere Vorfahren mit dem Neandertaler vermischt haben könnten.

Eine zweite Forschergruppe um Jeffrey Long allerdings hatte kürzlich - basierend auf einer anderen Methode - ebenfalls einen Genaustausch zwischen Mensch und Neandertaler vor 60.000 Jahren im östlichen Mittelmeerraum vermutet.

Indem die Forscher um Pääbo nun das Kern-Erbgut des Neandertalers mit dem von fünf heute lebenden Menschen aus Süd- und Westafrika, China, Papua-Neuguinea und Frankreich verglichen, konnten sie zudem ungefähr ermitteln, wann und in welcher Region der Erde Mensch und Neandertaler miteinander Kinder zeugten.

Überrascht waren die Forscher, als sie erkannten, dass der Neandertaler den Menschen außerhalb Afrikas genetisch näher war als den Afrikanern. Zugleich ähnelt das Neandertaler-Genom der Sequenz von Europäern im gleichen Ausmaß wie der von Ostasiaten.

"Neandertaler haben sich wahrscheinlich mit frühen modernen Menschen vermischt, bevor sich homo sapiens in Europa und Asien in verschiedene Gruppen aufspaltete", sagt Pääbo.

Graben in den Genen

Vermutlich vor 100.000 Jahren waren moderne Menschen aus Afrika in den Nahen Osten eingewandert und dort auf Neandertaler getroffen. Sie bewohnten dann 50.000 Jahre gemeinsam die Region.

Statistische Modelle legen nahe, dass schon wenige sexuelle Begegnungen zwischen beiden Gruppen genügt haben könnten, um bis heute Spuren in unserem Erbgut zu hinterlassen.

Längst ist die Paläogenetik eine Schlüsseldisziplin, wenn es um die Verzweigungen des menschlichen Stammbaums geht, um die großen Wanderungen aus Afrika und um die kleineren Bewegungen innerhalb der Kontinente.

Vor allem der Erbgutvergleich mit den vor 30.000 Jahren ausgestorbenen Neandertalern verspricht neue Erkenntnisse über unsere Evolution, sind sie doch unsere nächsten Verwandten.

38.000 Jahre alte Knochenstücke

"Wir graben nicht in Höhlen, sondern in den Genen", lautet ein hübsches Bonmot von Pääbo. Es verrät viel über das wachsende Selbstbewusstsein seiner Disziplin.

Zumindest ein wenig Knochenmaterial aus den Höhlen brauchten die Paläogenetiker allerdings schon. In den Kellerräumen der Leipziger Forscher lagern die wertvollen Fragmente im schützenden UV-Licht unter möglichst sterilen Bedingungen.

So hatten Pääbo und seine Kollegen eine gute Auswahl, als sie nach geeigneten Neandertalerproben suchten. Vor allem die Funde aus einer Höhle im heutigen Kroatien sind gut erhalten. Drei 38.000 Jahre alte Knochenstücke erwiesen sich als tauglich für die Erbgut-Analyse.

Sie stammen von Neandertalerfrauen, zwei der Individuen könnten sogar über die mütterliche Linie miteinander verwandt gewesen sein. Aus diesen drei Knochenstücken nahmen die Forscher neun Proben, bohrten 50 bis 100 Milligramm Knochenpulver heraus.

Insgesamt haben die Paläogenetiker im Lauf der vier Jahre nicht einmal ein halbes Gramm Knochen verbraucht - eine sparsame Methode, die allerdings auch nur geringe Mengen Erbgut liefert.

Hinzu kommt, dass die isolierte DNS teilweise zu mehr als 99 Prozent von Mikroorganismen stammte. Diese DNS von der eigentlich gesuchten zu trennen, ist eine der größten Herausforderungen.

Um das reine Neandertalergenom zu entziffern, pickten sich die Forscher immer wieder zufällig kleine DNS-Abschnitte heraus. Manche Stückchen erwischten sie öfter, andere nie. Daher sind einige Abschnitte des Neandertalergenoms nun mehrfach entziffert, andere hingegen gar nicht.

Im Anschluss mussten die vielen einzelnen DNS-Stückchen wieder zusammengepuzzelt werden, dabei diente das Genom des modernen Menschen als Vorlage. Insgesamt konnten sie so knapp 70 Prozent des Neandertalergenoms entziffern.

0,2 Prozent Unterschied

Was unterscheidet uns moderne Menschen vom Neandertaler? "Das herauszufinden, war unsere eigentliche Motivation", sagt Pääbos Mitarbeiter Johannes Krause.

Auf den ersten Blick offensichtlich sind diese Unterschiede nämlich nicht. In vielen Abschnitten ähneln sich das Erbgut eines Neandertalers und das eines modernen Menschen stärker als die Genome zweier Vertreter von homo sapiens.

Das Erbgut des Neandertalers unterscheidet sich nur um 0,2 Prozent von dem des modernen Menschen. Diese Zahl allein sagt allerdings wenig darüber aus, wie stark sich die Abweichungen im Erbgut bemerkbar machen. Nicht jede Abweichung ist gleich bedeutsam. Daher können auch 0,2 Prozent Unterschiede im Erbgut dazu geführt haben, dass die Entwicklung des modernen Menschen einen neuen Weg einschlug.

Um die genetische Grundlage dieser neuen Entwicklung zu finden, verglichen die Forscher die Erbgut-Sequenzen von Schimpanse, Neandertaler und modernem Menschen. Ihre Suche galt jenen Abweichungen, die es allein beim Menschen gibt, egal ob er aus Südafrika oder Frankreich stammt, während das Neandertalergenom an den jeweils entsprechenden Stellen noch die ursprüngliche Sequenz aufwies, wie sie auch der Schimpanse hat.

Diese Erbgutabschnitte sind es vermutlich, die dem modernen Menschen zu Beginn seiner Evolution einen Vorteil brachten. "Der Neandertaler ist unsere einzige Ressource, die uns den Blick in diese Zeit der Menschheitsentwicklung ermöglicht", sagt Krause.

Das Gen AUTS2 macht vermutlich gesellig

Ganz oben auf der Kandidatenliste stehen Gene, die die kognitive Leistung beeinflussen und deren Mutation zu Krankheiten wie Autismus oder Schizophrenie führt.

"Vielleicht sind diese Erbanlagen dafür verantwortlich, dass sich der moderne Mensch so schnell und weiträumig auf der Erde ausbreiten konnte", spekuliert Krause.

Nach Ansicht mancher Forscher zeigen Schimpansen einige autistische Verhaltensweisen, beispielsweise kommunizieren sie nicht oder nur sehr selten über Blickkontakt, wie es unter Menschen üblich ist. Gut möglich also, dass Homo sapiens seine Fähigkeit und seinen Drang zur Gemeinschaft auch dem Gen AUTS2 verdankt.

In den meisten Fällen bleiben die Leipziger Forscher jedoch die Erklärung schuldig, welchen Vorteil die neuen Gene den ersten modernen Menschen boten. Mit der Entzifferung des Erbguts und der Identifikation einiger bedeutsamer Gene allein ist das Menschsein noch nicht erklärt.

Mindestens ebenso spannend ist die Frage, warum sich manche Gene im Erbgut des Menschen durchgesetzt haben, während der Neandertaler auch gut ohne sie auskam. Antworten darauf liefert die Arbeit aus Leipzig bislang jedoch nur sehr vage.

Andere Gene, die dem Menschen während der Frühzeit seiner evolutionären Entwicklung geholfen haben könnten, beeinflussen zum Beispiel die Beschaffenheit der Haut, regulieren den Energiestoffwechsel oder bestimmen mit über die Form von Brustkorb und Schädelknochen.

Mutieren sie, kann auch homo sapiens jene vorspringende Stirn ausbilden, wie man sie nur mit Urmenschen in Verbindung bringt. Doch welchen Vorteil könnte ein weniger markanter Stirnknochen dem modernen Menschen gebracht haben?

"Ich glaube nicht, dass die Form des Stirnknochens der eigentliche Grund war, warum sich das entsprechende Gen durchgesetzt hat", sagt Krause. "Sie war vermutlich eher ein Nebenprodukt der Evolution."

Fünf weitere der typisch menschlichen Gene steuern andere DNS-Abschnitte, legen Erbgut-Abschnitte still oder aktivieren sie. Solche regulatorischen Gene können die Entwicklung einer Art stark beeinflussen, doch wie dies im Fall von Homo sapiens genau ablief, ist ebenfalls noch unbekannt.

Eines aber wissen die Forscher schon jetzt: Sie graben zwar in den Genen der Urmenschen. Was sie dort finden, erzählt aber vor allem etwas über uns selbst.

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