Ethnologie:Geschichten aus dem Regenwald

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Fast schon vergessen: Die Totempfähle kehren zurück nach Alaska.

Text und Fotos von Heidi und Hans-Jürgen Koch

Der Wald ist eine Kathedrale. Die Bäume sind so hoch. Überall Wurzeln, Moose, Farne, Gestrüpp und Flechten, Nebel. Das Fell der Bären ist durchnässt. Zwischen den Inseln ziehen Schwertwale, in Flüssen schwimmen Lachse, Biber tauchen in den Seen. Über den Baumkronen kreisen Weißkopfseeadler. Und der große schwarze Rabe ruft.

An der entlegenen Küste Südost-Alaskas erstreckt sich einer der seltensten Waldformen des Planeten, der temperierte Regenwald. Von allen Wäldern hat dieser kühle Dschungel die größte Menge an lebendem wie an totem Holz. Mehr Biomasse gibt es in keinem anderen Ökosystem. Dieser Wald ist ein Ort, an dem Grenzen verschwimmen, an dem Tod und Leben nebeneinander existieren. Dies ist seit 10 000 Jahren der Lebensraum der Haida, Tlingit und Tsimshian. Es ist auch die Heimat jener monumentalen, irritierenden, verblüffenden und meist missverstandenen Objekte, die wir Totempfähle nennen.

Wenn der Vogel blinzelte, zuckten Blitze, wenn er seine Schwingen schlug, donnerte es

Hydaburg, auf der Prince-of-Wales-Insel. Keine 400 Seelen. Der Ort ist eingekesselt von Wald und Wasser. Die Wolken hängen tief, wie meist. Nieselregen. Die Zeremonie ist beendet, Trommeln und Gesänge sind verstummt, die Tänzer erschöpft. Der neue Totempfahl steht, geformt aus einer Zeder. "Wir errichten die nächste Generation kultureller Krieger", verkündet Tony Christianson. Der Bürgermeister vom Stamm der Haida meint es ernst. Das, was in der Vergangenheit geschah, soll sich niemals wiederholen. Beinahe hätten die Indianer ihre Geschichte verloren. Die Totempfähle schwiegen.

Ihre Vorfahren konnten unglaubliche Dinge erzählen. Es war eine erschreckende und komplizierte Welt. Alles konnte sich in jedes verwandeln. Die Landotter-Leute waren besonders schlimm. Sie sahen aus wie Otter, aber auch wie Menschen, je nachdem, manchmal sogar wie Mitglieder der eigenen Familie oder wie gute Freunde. Sie waren Gestalt-Wandler. Und kidnappten Menschen. Sie stahlen deren Seelen und machten die Unglücklichen allmählich zu ihresgleichen. Dann war, wie jeder wusste, die Chance auf ein ewiges Leben dahin. Allein die Vorstellung war ein Grauen.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Ganz besondere Hölzer wachsen im üppigen Grün des temperierten Regenwaldes: Riesen-Lebensbäume, Westamerikanische Hemlocktannen, Sitka-Fichten liefern die Stämme...

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

...aus denen Künstler wie Harley Bell-Holter vom Clan des Doppelköpfigen Adlers auch heute wieder Totempfähle schnitzen. Er arbeitet gerade einem zwölf Meter langen Pfahl.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Lange Zeit vergessen, werden im Totem-Park von Hydaburg wieder die traditionellen Pfähle aufgestellt.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Sie stehen nicht für die Ewigkeit, sondern kommen nach einigen Jahrzehnten ins Museum.

Der Donnervogel hingegen war majestätisch. Seine Flügelspannweite war mindestens so groß wie zwei Kriegskanus. Er ernährte sich von Walen, die er mit den Fängen aus der See holte und in sein Nest transportierte, hoch, in den Bergen. Wenn dieses übernatürliche Wesen blinzelte, zuckten Blitze, wenn es mit seinen Schwingen schlug, grollte Donner. Regen fiel aus seinem Gefieder.

Und immer wieder dieser Rabe, der große Trickser mit zweifelhaftem Charakter und dem Hang zu tollkühnen Abenteuern. Sein allumfassender Appetit war legendär. Er war Genie, Schurke und Held. Mit ihm begann alles. Die Welt verdankte ihre Gestalt dem Raben. So brachte er einst das Licht in die Finsternis, indem er die Sonne stahl. Jeder kannte diese Geschichte: Es gab einmal eine Zeit, da war es dunkel und kalt auf der gesamten Welt. Denn ein habgieriger Häuptling bewahrte die Sonne, den Mond und die Sterne in drei Holzkisten auf. Eifersüchtig bewachte er seine Kostbarkeiten. Der Rabe hörte davon und entwickelte einen Plan. Die Tochter des Häuptlings ging jeden Tag hinunter zum Fluss, um Wasser zu holen. Der Rabe verwandelte sich in eine Tannennadel und ließ sich treiben. Mit dem geschöpften Wasser trug die junge Frau auch den Raben in das Haus. Sie war durstig, schluckte die Tannennadel mit hinunter und wurde schwanger. Die Häuptlingstochter gebar ein dunkles Kind mit hinterlistigen Augen.

Der Junge war eine Plage. Er schrie und jammerte immerzu, jeden Tag, er wolle endlich mit der leuchtenden Kugel in der Box spielen. Eines Tages hielt der Großvater das Betteln seines Enkels nicht mehr aus und gab nach, nur dieses eine Mal. Zu spät. Der Rabe transformierte sich augenblicklich zurück in seine Vogelgestalt, schnappte mit seinem Schnabel das strahlende Ding und verschwand durch den Rauchabzug. Der Rabe flog immer höher und immer weiter und verbreitete so das Licht: Dann schleuderte er den feurigen Globus in den Himmel, wo er die Menschen bis heute erfreut und wärmt.

Das Holz des Baumes lässt sich schnitzen wie kalte Butter, es war ein Geschenk des Rabens

Bei den Küstenindianern gab es keine schriftlichen Überlieferungen. Ihre Botschaften und Geschichten schnitzten sie bevorzugt in den Stamm der Western Red Cedar, dem Riesen-Lebensbaum. Er wächst gemeinsam mit andere Koniferen, wie Douglaskiefern, Hemmlocktannen und Sitka-Fichten, aber diese Zeder übertrifft sie alle. Ihre ätherischen Öle schrecken Schädlinge ab und schützen vor frühzeitigem Verfall. Sie hat einen sehr geraden Wuchs, bis zu 80 Meter hoch. Ihr Holz besitzt eine einheitliche Textur und einen sanften Glanz. Die Farbpalette reicht von Zimtrot bis zu einem sattem Sienabraun. Das Holz lässt sich problemlos spalten und so leicht schnitzen wie kalte Butter. Dieser Baum war auch ein Geschenk des Raben.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Alte Lehre: Dieser 1941 errichtete Pfahl berichtet, wie einst ein Meister den Haida-Leuten das Schnitzen beibrachte.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Das Seemonster: Der Adler auf der Spitze zeigt die Zugehörigkeit zum Clan der Wölfe an. Der Schmuckhut der Frau darunter repräsentiert Reichtum und Status. Ganz unten sitzt Gonaqadate, der Chef der Killerwale.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Drei Legenden: Dieser Pfahl erzählt, wie der Schamane die Geister unterworfen hat, vom Kampf des Riesenoktopus mit den Killerwalen und vom jungen Häuptling und dem Adler.

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Vögel und Menschen: Gut zwölf Meter misst der Pfahl. Die Frauen, das Kind und der Sprecher ganz oben stehen für einen Stamm.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Memorial: Erinnerung an einen Mann, rechts unten, der beim Oktopus- Fischen, ums Leben kam. Eine Riesenauster hielt ihn fest, die Flut kam.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Schamane an der Spitze: Ein eindrucksvoller, über 20 Meter hoher Pfahl, auf dem ein Schamane in seinem Zeremonialgewand steht. Die weiteren Figuren geben Geschichten wieder, etwa die vom Raben, dem Bären und dem Kormoran.

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(Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Der Rabe und seine Kinder: Dieser Gedächtnispfahl ist mehr als 100 Jahre alt. Oben thront der Sonnenrabe, die menschlichen Figuren sind seine Kinder. Das runde Gesicht gehört zur sogenannten Froschfrau.

Totempfähle waren Kommunikationsmittel. Sie wurden entworfen, um Tote zu ehren, sie proklamierten Eigentum und kündeten vom Rang innerhalb der Gesellschaft. Totempfähle dienten vor allem als visuelle Unterstützung, um mündlich überlieferte Geschichten weiterzugeben. Die mächtigen Master Carver hüteten diese Tradition. Wappen- oder Familienpfähle erzählten von der Familie, von der Herkunft des Clans und ihrer Wappentiere. Gedenk-Pfähle wurden für bedeutende Clanmitglieder errichtet, um Freunde zu ehren, an gute Taten oder große Ereignisse zu erinnern. Begräbnispfähle markierten den Ort der Bestattung oder beherbergten Asche und Knochen der Verstorbenen. Unbezahlte Darlehen, gebrochene Versprechen oder anderweitig unakzeptables Verhalten wurden durch Scham- oder Spottpfähle öffentlich bestraft.

Ein Totempfahl kann nicht wie eine Schrift gelesen werden. Die Figuren sind zwar als Bär, Adler, Rabe oder übernatürliches Wesen zu auszumachen, ihre Bedeutung jedoch nicht. Der Totempfahl ist ein Code. Nur derjenige, der die Historie des Pfahls kennt, ist in der Lage, den Zusammenhang der Symbole zu entschlüsseln. Alle wesentlichen Informationen wurden mündlich, von Generation zu Generation weitergegeben. Geschah dies nicht, waren die Geschichten verloren. Ein solcher Totempfahl würde für immer schweigen.

Das menschliche Gesicht prangt auf einem alten Pfahl, der in Hydaburg geschnitzt wurde; mittlerweile liegt er am Boden im Wald von Totem Bight State Historical Parc. Er diente als Wappenpfahl, sein Thema sind die Leute des Landotters. Diese waren sehr gefürchtet, weil man ihnen nachsagte, dass sie Menschen einfangen und ertränken oder sie in otterähnliche Wesen vewandeln. (Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Die Europäer erfuhren von den exotischen Holzsäulen erstmals, als die Expedition von Kapitän James Cook im Jahr 1778 die pazifische Nordwestküste erreichte und Illustrationen mitbrachte. In den folgenden Jahrzehnten betrieben Weiße und Indianer intensiven Handel. Viele indianische Familien kamen zu Reichtum. So kam es zu einem Wettbewerb um die aufwendigsten Feste und die spektakulärsten Totempfähle. Außerdem waren die neuen eisernen Werkzeuge der Fremden eine technische Revolution. Sie änderten das früher mühselige Schnitzen fundamental. Historische Fotografien aus den 1880er- und 1890er-Jahren zeigen Alleen von Totempfählen entlang der Küste. Totempfähle boomten, es war ihr goldenes Zeitalter.

Sie wurden silbrig-weiß, so wie menschliches Haar. Dann fielen sie. Staub zu Staub

Der Kontakt mit den Weißen hatte jedoch seinen Preis. Pocken, Masern, Diphtherie, Lungenentzündung, Polio, Tuberkulose brachen aus und löschten ganze Dörfer aus. Mit den Seuchen kamen die Missionare. Sie verdammten die Totempfähle als heidnische Symbole, ließen die Pfähle zerhacken und verbrennen. Später veränderte eine Politik der kulturellen und sozialen Assimilation das Leben der Indianer weiter zum Schlechteren. Ihre Zukunft war hoffnungslos und auch die Totempfähle alterten. Ihr Holz wurde silbrigweiß wie menschliches Haar. Dann fielen sie. Länger als 80 oder 100 Jahre überlebte kein Totempfahl in diesem widrigen Klima. Der Tod gehörte zum Kreislauf des Lebens. Das war schon immer so. Staub zu Staub. Aber jetzt, da verrotteten mit den verbliebenen Totempfählen auch die Erinnerungen.

Die Renaissance begann in den 1930er-Jahren. Mit dem Indian New Deal sollte die gescheiterte Assimilation der Indianer in die amerikanische Gesellschaft rückgängig gemacht werden. Die Stämme erhielten ihre Souveränität zurück, ihre Kultur sollte massiv gefördert werden. Das hatte auch den Effekt, dass die weiße Gesellschaft den indianischen Look jetzt geradezu chic fand.

Um zu retten, was noch übrig war, wurden Totempfähle vom Indian Civilian Conservation Corps lokalisiert, restauriert und reproduziert. Die Pfähle wurden von ihren Originalstandorten in Totem-Parks verlegt. Hier waren sie nun für Touristen zugängig, und sie konnten auch den Indianern erklärt werden, die nicht mehr mit ihrer eigenen Kultur vertraut waren.

Eine Pyramide der Tiere zeigt dieser Totempfahl im Potlach Park in Ketchikan auf Revillagigedo Island: Auf dem Biber am Boden steht ein zähnebleckender Wolf, der wiederum mit seinen Pfoten einen Frosch hält. (Foto: Heidi & Hans-Jürgen Koch)

Die heute in Alaska existierenden Totempfähle sind das Resultat der damaligen Rettungsaktionen. Das Projekt war ein Erfolg, hatte aber Konsequenzen. Da die Pfähle aus ihrem ursprünglichen Kontext entfernt wurden, veränderte sich auch ihre Bedeutung. Ihr Code wurde weiterentwickelt. Totempfähle sind jetzt vor allem Ausdruck einer neuen indianischen Identität, sie demonstrieren ein robustes Selbstbewusstsein. Der Master-Carver Nathan Jackson drückt es so aus: "Einen Totempfahl zu errichten heißt, ein Zeichen setzen, eine Markierung hinterlassen. Er sagt, wer wir sind, was wir sind, wohin wir gehören, und mit was wir geboren wurden." Und es werden ganz neue Totempfähle geschnitzt - mit neuen Geschichten.

Mit Geschichten wie dieser: Auf der Fähre, welche die Inseln Prince of Wales und Revillagigedo verbindet, stirbt der 22-jährige Jimmy an einer Überdosis Kokain. Seinem Vater, dem Tsimshian Master-Carver Stan Marsden, bricht es das Herz. Er braucht Jahre, um sich wieder an einen Stamm zu wagen. Aus einer 500 Jahre alten Zeder wird ganz allmählich der Healing Heart Totem Pole. Stan arbeitet zunächst allein und einsam, will aufgeben, dann helfen Menschen aus der ganzen Gemeinde und erzählen sich gegenseitig von ihren Leben. Gemeinsam entsteht ein Totempfahl für alle, die ähnliches Leid durchleben mussten. Als die Haida Älteste Clara Natkong davon erfährt, ist sie verblüfft: "Wir haben alle Arten von Totempfählen, aber ich habe noch nie von einem heilenden Totempfahl gehört. Das ist eine gute Idee."

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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