Erster Mensch am All:"Wir waren die ersten Raumfahrer"

Kurz bevor "Sputnik" 1957 den Orbit erreichte, berührten zwei Amerikaner mit Heliumballons den Rand des Weltraums. Doch heute kennt sie kaum noch jemand.

Daniel Münter

Den Mann, den die New York Times 1957 als den "First Space Man", den ersten Raumfahrer, feiert, kennt heute kaum noch jemand. "Er hat die Reise für uns alle gewagt", jubelt die Zeitung, und für die Universal Wochenschau ist er "der lebenden Beweis, dass der Mensch seine eigene Atmosphäre in das Vakuum des Weltraums tragen kann".

Dennoch steht der Name von David Simons nicht in den Geschichtsbüchern.

Ende der 1950er-Jahre schweben er und sein Kollege Joe Kittinger mit einem Heliumballon über dem Planeten, sieht zum ersten Mal die Krümmung des Erdballs und vermisst die Schwelle zum Weltraum.

Simons und Kittinger lernen sich 1954 auf der abgelegenen Luftwaffenbasis Holloman in der Wüste von New Mexico kennen. Kittinger wird dort als Testpilot der U.S. Air Force stationiert; Simons ist Arzt und leitet ein Projekt des Luftfahrtmedizinischen Forschungslabors.

Seine Aufgabe ist es, die obere Atmosphäre zu erforschen, um mehr über die noch kaum bekannte kosmische Strahlung herauszufinden - vor allem, ob sie einem Menschen gefährlich werden könnte. Kittinger wird der Einheit als Begleitpilot zugeteilt.

Er eskortiert im Flugzeug die riesigen, mit Helium gefüllten Ballons im ersten Teil ihres Aufstiegs auf über 30 Kilometer Höhe. An den Ballons hängen kleine Gondeln mit Messgeräten und Sauerstoffversorgung, denn meist reisen Mäuse, Hamster oder Affen in die Stratosphäre. Nach ihrer Rückkehr werden sie auf Strahlenschäden untersucht.

"Raumfahrt war für die Generäle ein Unwort"

Die Ballonflüge sind Anfang der 1950er-Jahre eines der wenigen Raumfahrtprojekte in den USA. Die Nasa gibt es noch nicht, ihre Vorgängerorganisation ist an Raketentechnik nur im Zusammenhang mit dem Transport von Bomben interessiert.

Kaum 50 Meilen vom Luftwaffenstützpunkt Holloman entfernt hatten die Raketenforscher um den Deutschen Wernher von Braun mit dem Nachfolger der Nazi-Rakete V2 experimentiert.

Doch die Regierung in Washington hält es nicht für nötig oder gar möglich, Mensch und Material in den Weltraum zu befördern. "In den frühen Fünfzigern war ,Raumfahrt' für die Generäle noch ein Unwort - ein Fall für Science-Fiction-Romane", erinnert sich der 85-jährige David Simons heute.

"Wir waren die ersten Raumfahrer"

Trotzdem machen die Forscher auf der Luftwaffenbasis Holloman weiter. Im Sommer 1955 fällt die Entscheidung, einen Menschen in die Stratosphäre zu schicken. Joe Kittinger meldet sich freiwillig und wird neben David Simons als Ballonpilot in das Projekt aufgenommen, das den Codenamen "Man High" erhält.

Doch bevor sie Richtung Weltraum abheben können, brauchen sie ein Raumschiff. Die Ingenieure der Air Force entwickeln eine kleine, geschlossene Kapsel, die den Piloten mit Sauerstoff versorgen und vor dem lebensfeindlichem Weltraum schützen soll. Auf ihrem Flug wird die Außentemperatur bis auf minus 70 Grad Celsius sinken. Mit 79 Jahren ist Joe Kittinger heute noch stolz auf die Leistung der Ingenieure: "Das war das erste Raumschiff. Und wir waren die ersten Raumfahrer."

Anfang der 50er-Jahre ist die Frage, wo der Weltraum beginnt, allerdings völlig offen. Alle Untersuchungen weisen bereits darauf hin, dass die Atmosphäre der Erde keine scharfe Grenze hat, sondern mit zunehmender Höhe nur immer dünner wird. Der deutsche Wissenschaftler Hubertus Strughold, der später als "Vater der Weltraummedizin" bekannt wird, vertritt die Ansicht, schon ab 15 Kilometern Höhe herrschten weltraumähnliche Bedingungen.

Ein Mensch ohne Sauerstoffversorgung wird in dieser Höhe fast augenblicklich bewusstlos. Der Direktor der amerikanischen Air-Force-Akademie für Luftfahrtmedizin, Harry Armstrong, schlägt als Grenze 19,2 Kilometer vor: Hier beginnt wegen des geringen Luftdrucks Wasser bereits bei 37 Grad Celsius zu kochen - der Temperatur menschlichen Blutes.

"Kommt und holt mich!"

Die Ballonpioniere auf dem Stützpunkt Holloman wollen diese Marken weit hinter sich lassen: Sie planen einen Aufstieg auf 30 Kilometer Höhe, oder genauer 100.000 Fuß. Am frühen Morgen des 2. Juni 1957 ist es soweit: Testpilot Kittinger, Ballon und Kapsel sind startklar. Zunächst verläuft der Aufstieg ohne Probleme.

Dann fällt Kittingers Funkgerät aus - er kann die Bodencrew noch hören, sich ihnen aber nur noch per Morsezeichen mitteilen. Kurz darauf bemerkt er, dass die Sauerstoffvorräte der Kapsel viel zu schnell schwinden. "Ich entschied mich, denen unten nichts zu sagen, um das Unternehmen zu retten. Schließlich hatte ich noch die Sauerstoffversorgung meines Raumanzuges", sagt er heute.

Nach gut zwei Stunden hat er sein Ziel erreicht: Er schwebt in einer Höhe von 29.260 Metern. Doch der Sauerstoff wird so knapp, dass er nach wenigen Minuten den Abstieg beginnen muss. Jetzt bemerkt auch die Flugleitung das Problem, und Simons beordert Kittinger barsch per Funk nach unten. Der quittiert den undankbaren Befehl mit trockenem Humor. Er morst, schon auf dem Weg nach unten: C-O-M-EA-N-D G-E-TM-E. Kommt und holt mich.

Trotz des Problems mit der Sauerstoffversorgung wertet die Air Force den Raumflug von "Man High I" als Erfolg. Joe Kittingers Reaktion aber wird im Team ausführlich diskutiert. Seinen flapsiger Funkspruch, den er bis heute als Scherz darstellt, interpretieren manche Kollegen als ein "break-away"-Phänomen, eine Art Höhenrausch mit drohendem Kontrollverlust.

In einem zweiten Flug am 20. August 1957 soll diese Hypothese getestet werden: David Simons erklärt sich bereit, über 24 Stunden im Weltraum zu verbringen, sich selbst, die Stratosphäre und den Weltraum zu beobachten.

Am 19. August 1957 startet er zu seinem Flug. Diesmal funktioniert die Kapsel ohne Probleme. Nach knapp zwei Stunden knackt er die 30-Kilometer-Marke. Und er hat im Gegensatz zu Kittinger einen geeichten Höhenmesser an Bord, gesponsort vom Magazin Life: So wird er statt Kittinger zum Medienstar.

Doch zunächst umfängt ihn das All. "Der Himmel war nicht dunkelblau, er war tiefschwarz", erinnert sich Simons. "Es gab nur dieses dünne blaue Band am Horizont. Ich konnte die leichte Krümmung erahnen. Dieser Anblick war überwältigend."

Die nächsten Stunden hängt die Gondel fast unbeweglich in der Stratosphäre, wo kaum Wind die dünne Luft bewegt. Der Forscher hat eine Liste von 25 Experimenten, die er abarbeiten will. Er beobachtet als erster feine Wolken in der Stratosphäre, misst den Ozongehalt und protokollierte seine eigenen Körperreaktionen auf die Stresssituation. Dann geht erst die Sonne und später der Abendstern Venus in einem spektakulären, unverfälschten Farbenspiel unter.

"Wir waren die ersten Raumfahrer"

Doch das Glück des Raumfahrers scheint sich zu wenden: Tief unter ihm zieht eine Schlechtwetterfront viel schneller als berechnet in das Fluggebiet. Im letzten Tageslicht kann er die hohen Türme der Gewitterwolken erkennen und auch die Blitze, die sich in den Wolken entladen.

"Wir nahmen an, dass die Wolken nicht höher als 20 Kilometer steigen und ich war ja noch auf mindestens 27 Kilometern Höhe. Ich genoss also die Show", sagt er.

Doch das Team hatte einen Faktor unterschätzt: Die Wolken schneiden den Ballon von der Wärmeabstrahlung der Erde ab. Das Helium kühlt ab, der Ballon schrumpft und sinkt. Mitten in der Nacht findet sich David Simons plötzlich zwischen den höchsten Gewitterwolken wieder. Er muss befürchten, von einem Blitz getroffen oder von starken Abwinden in das Gewitter gezogen zu werden.

Er wirft sämtlichen Ballast ab, doch der Ballon gewinnt kaum an Höhe. Für den Rest der langen Nacht hängt Simons nur knapp über den bedrohlichen Blitzen. "Dann sah ich den schönsten Anblick meines Lebens: Sonnenaufgang. Als sie für ein paar Minuten oben war, wusste ich: Wir haben es geschafft!"

Nach seiner Landung ist er der Held der Öffentlichkeit. Er ist auf dem Titelblatt von Life, wird befördert und ausgezeichnet. Die Ballonpioniere sind jedoch enttäuscht, dass die Medien den Flug nur als Rekordjagd und nicht als wissenschaftliche Pioniertat wahrnehmen.

Auch das Interesse der Militärbürokratie bleibt gering - die Finanzierung weiterer Flüge lehnt sie ab. Den endgültigen Todesstoß erhält das Programm "Man High" sechs Wochen nach Simons' Flug durch eine kleine Metallkugel. Mitten im Kalten Krieg fühlen sich die USA durch den russischen Satelliten Sputnik bedroht - kein Ort in Amerika scheint mehr vor einem Angriff der Sowjets sicher zu sein.

Die Pioniere werden beseite geschoben

In aller Eile gründet die US-Regierung die Raumfahrtagentur Nasa. Sie nutzt die Erkenntnisse der Ballonfahrer, schiebt die Pioniere selbst aber beiseite.

Schließlich widerfährt ihnen noch eine letzte Ungerechtigkeit: 1960 setzt der Weltluftsportverband FAI die Grenze zum Weltraum auf 100 Kilometer Höhe fest. Die USA halten sich zwar bis heute nicht daran - dort dekoriert man die eigenen Helden schon ab 50 Meilen oder etwas über 80 Kilometern als Astronauten - doch Simons und Kittinger wird diese Ehre verweigert.

Kittinger hält zwar bis heute den Rekord für den höchsten Fallschirm-Absprung, weil er 1960 in einer Höhe von 31.332 Metern mit einem Druckanzug aus der Ballonkapsel steigt und fünf Minuten frei zur Erde fällt (außerdem hat er 1984 als erster Mensch den Atlantik mit einem Ballon überquert).

Aber als Raumfahrer bleibt beiden nur der Trost, früher als andere die Zukunft der bemannten Raumfahrt erkannt zu haben. "Wir bekamen genug Bestätigung", sagen sie heute. "Die Nasa profitierte von unserer Arbeit. Wir waren ein kleiner Teil des Raumfahrtprogramms."

Von Autor Daniel Münter ist am 9.Oktober um 14Uhr sowie am 17. Oktober um 10.50Uhr bei Arte der Dokumentarfilm "Die ersten Raumfahrer" zu sehen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: