Ernährung:Am Anfang war der Käse

Wann hat der Mensch das Melken erfunden und was hat er mit der Milch gemacht? Schließlich vertrugen erst in der Jungsteinzeit die ersten Menschen Frischmilch. Dank neuester naturwissenschaftlicher Methoden und akribischer Spurenlese entwickelt sich langsam ein Bild von der frühen Milchwirtschaft.

Mike Schäfer

"Sehen Sie mal, wie die Schwänze der Kühe hier über den Köpfen der Melker liegen!" Die Anthropologin Ruth Bollongino von der Universität Mainz zeigt auf die Abbildung einer Melkszene auf einem sumerischen Relief aus dem Tempel der Fruchtbarkeitsgöttin Ninhursag. Dort sitzen zwei Melker nicht neben, sondern direkt hinter den Kühen. "Vermutlich wird hier das sogenannte Kuhblasen gezeigt, die Melker blasen den Kühen in die Vagina oder den After, um die Milchproduktion zu stimulieren."

VW UND STADT WOLFSBURG SIEDELN AUEROCHSEN AN

Alle Rinder der Welt stammen von Auerochsen - hier eine Rückzüchtung - ab, die frühe Bauern vor gut 10.000 Jahren in Anatolien erstmals domestizierten. Bislang war unklar, weshalb Rinder vor Urzeiten überhaupt gehalten wurden: Ging es nur um das Fleisch oder wurden die Tiere auch gemolken?

(Foto: DPA/DPAWEB)

Als Bauern noch keine Hochleistungskühe gezüchtet hatten, war das Abmelken größerer Milchmengen offenbar ein komplizierter Vorgang. Dann fällt der Forscherin noch ein Detail auf: "Die Kälber - unmittelbar neben der Kuh! Beim frühen Hausrind mussten die Kälber nah bei den Müttern stehen, damit diese Milch geben konnten."

Die Analyse von Bollongino zeigt, wie man mit der Hilfe von interdisziplinärem Wissen und genauer Beobachtungsgabe zu weitreichenden Schlüssen kommen kann. So war sich die Fachwelt lange Zeit einig, dass das 4400 Jahre alte Relief einer der frühesten historischen Belege für das Melken von Tieren ist. Doch Bollongino wollte sich mit diesem Datum nicht zufriedengeben.

Sie gehört nämlich zu einem Forscherteam, das anhand von Genuntersuchungen an jahrtausendealten Rinderknochen erstmals die Herkunft des europäischen Hausrindes aufklären konnte. Das Ergebnis war spektakulär: Demnach stammen alle unsere Hausrinder von weniger als 100 weiblichen Auerochsen aus Anatolien ab.

Das bedeutet: Die Domestizierung des wilden Auerochsen ist in Europa vermutlich nur an diesem einzigen Ort gelungen. Für Bollongino ist das gut nachvollziehbar: "Der Auerochse war ein mächtiges Tier mit einer Schulterhöhe von bis zu 1,80 Meter. Wir vermuten, dass er sehr schwierig zu handhaben war." Als die Viehhalter mit ihrem kostbaren Zuchterfolg nach Europa einwanderten, sorgten sie deshalb dafür, dass sich ihre Rinder nicht mehr mit wilden Auerochsen zurückkreuzten. "Sie mussten sie also streng absondern, in Gehegen zum Beispiel."

5000 Jahre Rinderhaltung ohne Milchwirtschaft?

Und dieser ganze Aufwand nur, um das Fleisch der Rinder zu nutzen - nicht aber die nahrhafte Milch? Wieso fanden sich in der Jungsteinzeit bislang keine Spuren von Milch und Käse? "Unsere Forschung zeigt, dass der Mensch vor 10.500 Jahren die ersten Rinder domestizierte", resümiert Bollongino. "Soll er etwa über 5000 Jahre Rinder gehalten haben, ohne sie zu melken?" Kaum zu glauben.

Bis vor wenigen Jahren stellte dieser Sachverhalt Prähistoriker und Archäozoologen vor ein großes Rätsel: Wann hat der Mensch das Melken erfunden, und was hat er mit der Milch gemacht? Doch dank neuester naturwissenschaftlicher Methoden und akribischer Spurenlese können sich Forscher mittlerweile langsam ein Bild von der frühen Milchwirtschaft machen.

Einen wichtigen Erfolg erzielten dabei Kollegen Ruth Bollonginos am Nationalen Museum für Naturgeschichte in Paris. Die Archäozoologen dort entwickelten in vielen Jahren neue Methoden, wie man selbst an uralten Tierknochen verlässlich Spuren der Milchwirtschaft herauslesen kann: So weiß man zum Beispiel, dass ein bestimmtes Schlachtalter bei Kälbern nur dann sinnvoll ist, wenn die Muttertiere viel Milch geben sollen.

Wenn man nun nachweisen könnte, dass tatsächlich viele Jungtiere regelmäßig in diesem Alter getötet wurden, wäre dies ein starkes Indiz für das Melken. Tatsächlich gelang genau dies einer Forschergruppe um den Archäozoologen Jean-Denis Vigne. Sie fanden an 6000 bis 8000 Jahre alten Fundstätten zahlreiche Rinderknochen mit deren Hilfe sie eine jungsteinzeitliche Schlachtstatistik erstellen konnten. Ergebnis: Dort starben viele sehr junge Kälber und alte Muttertiere.

Roz Gillis, Knochenspezialistin aus Vignes Team, sagt: "Diese Kälber wurden nur gehalten, damit die Kühe Milch geben konnten, danach wurden sie nicht mehr gebraucht und geschlachtet. Das tut man nur, wenn man ausschließlich an der Milchnutzung interessiert ist."

Ein Makel aber blieb bei den faszinierenden Knochenfunden. Sie konnten die Milchnutzung nur indirekt belegen. Milch und Käse selbst bleiben bei diesem Verfahren weiterhin unsichtbar.

Durchbruch mit Tonscherben

Britische Archäologen der Universität Bristol schafften hier den Durchbruch: Das Team um den Biochemiker Richard Evershed hatte in zahlreichen Tonscherben von jungsteinzeitlichen Fundstätten winzige Fettreste entdeckt. Sie entwickelten ein chemisches Analyseverfahren, mit dem sie zuverlässig unterscheiden konnten, ob die Fettreste von fleischlichen Fetten oder von Milchfetten aus vergorener Milch stammten.

So konnten die Wissenschaftler erstmals an 6000 bis 8000 Jahre alten Geschirrresten direkte Spuren von Milch beziehungsweise ihren weiterverarbeiteten Produkten nachweisen. "Wir haben jetzt anerkannte chemische Nachweisverfahren," sagt Richard Evershed. "Wir reden hier also wirklich von harten Beweisen und nicht von irgendwelchen Interpretationen."

Doch woher stammt die vergorene Milch? Von frischer Trinkmilch, die in den Tongefäßen langsam vergärte oder von gezielt hergestellten Milchprodukten wie zum Beispiel Joghurt oder Käse? "Wir vermuten, dass sie von Milchprodukten und nicht von frischer Trinkmilch stammt, aber beweisen kann unser Verfahren das nicht", schränkt Richard Evershed ein, "auch wenn die Art der untersuchten Tongefäße darauf hindeutet, dass es um die Weiterverarbeitung von Milch ging und nicht nur um den Transport."

Das neue Gen verbreitete sich extrem schnell in Europa

Selbst die Milchfette konnten also noch nicht klären, was die frühen Viehhalter beim Melken ihrer Kühe gewinnen wollten: Trinkmilch, Käse oder beides? Diesmal waren es wieder Forscher der Universität Mainz, die den fehlenden Puzzle-Stein lieferten - durch die Analyse menschlicher Gebeine.

Das Team um den Anthropologen Joachim Burger war nämlich auf der Suche nach den Ursprüngen des Milchtrinker-Gens, einer Genmutation, die es in der Jungsteinzeit einigen Europäern erstmals ermöglichte, auch als Erwachsene Frischmilch zu trinken. Denn sie konnten dank dieses neuen Gens Laktose - also Milchzucker - verdauen. Wer hingegen dieses mutierte Gen nicht in sich trägt, den plagen nach Frischmilch-Konsum Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen; er ist laktoseintolerant.

Evolutionär ist Laktoseintoleranz eigentlich der menschliche Normalzustand. Nach den ersten Kinderjahren schaltet ein Gen das Verdauungssystem um, ab dann kann keine Laktose mehr verdaut werden. Menschen mit Laktoseintoleranz können deshalb als Erwachsene nur Milchprodukte aus vergorener Milch konsumieren, denn beim Vergären wird die Laktose abgebaut. Menschen mit dem mutierten Milchtrinker-Gen hingegen können ihr ganzes Leben lang auch Frischmilch genießen.

Die Mainzer Anthropologen suchten nun in zahlreichen Knochenfunden aus ganz Europa nach diesem Gen. Dabei fanden sie heraus, dass die Genmutation erst vor etwa 7000 Jahren in Südosteuropa auftrat - von dort aus breitete sie sich dann nach West- und Nordeuropa aus. Heute besitzt in diesen Regionen die überwiegende Mehrheit der Menschen dieses Gen. "Aus evolutionärer Sicht hat es sich extrem schnell verbreitet, das weist auf einen hohen positiven Selektionsdruck hin." Joachim Burger ist sich seiner Sache sicher: "Menschen mit dem Milchtrinker-Gen hatten in dieser Region einen Überlebensvorteil!"

Das Wissen um die Entstehungszeit und die Verbreitung der Mutation belegt nun zwei entscheidende Sachverhalte: Zum einen muss die Milchnutzung schon vor 7000 Jahren in Europa mehr als nur eine marginale Bedeutung gehabt haben. Aber: Vor dem Auftreten des Gens kann Frischmilch gar nicht das Ziel der frühen Viehhalter gewesen sein.

Das führt die Wissenschaftler zu einer logischen Schlussfolgerung: "Nach dem Einzug der ersten Bauern in Mitteleuropa müssen diese über mindestens 2000 Jahre lang vergorene Milchprodukte zu sich genommen haben, das heißt Joghurt, Dickmilch, Sauermilch, Käse", fasst Joachim Burger zusammen. "Das kann man gar nicht anders erklären, weil sie überhaupt nicht in der Lage waren, Frischmilch zu konsumieren."

Oder zugespitzt formuliert: Den ersten Milchmelkern ging es vor allem um den Käse. Das Milchtrinken kam erst sehr viel später.

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