Erdbeben-Prognose:Wo die Erde aufreißen wird

Welche Orte haben das höchste Risiko, Opfer eines verheerenden Erdbebens zu werden? Geologen kennen die Gefahren der Zukunft.

Ch. Schrader

Jedes Erdbeben teilt für seine Opfer die Zeit. Im "Davor" wissen sie meist nichts von der Gefahr, im "Danach" beherrschen die Folgen ihre Existenz, selbst wenn rechtzeitig Hilfe kam und sie die Katastrophe überlebt haben. Für die Menschen in Erdbeben-Regionen wäre es daher unglaublich wertvoll, auch nur ein wenig Zeit vom "Danach" ins "Davor" zu verschieben. Eine Minute nur, dann könnten sich viele aus den einstürzenden Häusern in Sicherheit bringen.

Erdbeben-Prognose: Die gefährdetsten Orte und die schwersten Beben der Vergangenheit: Die Eintragungen in der Karte sind aus Kombinationen etlicher Einzelstudien entstanden.

Die gefährdetsten Orte und die schwersten Beben der Vergangenheit: Die Eintragungen in der Karte sind aus Kombinationen etlicher Einzelstudien entstanden.

(Foto: Grafik: SZ)

Geologen wissen also genau, warum sie viel Zeit und Energie in die Frage investieren, ob sich Erdbeben vorhersagen lassen. Idealerweise würden die Wissenschaftler ankündigen, dass in den kommenden zwei Wochen Erdstöße drohen, und dann sensible Messgeräte installieren, die bei den ersten Anzeichen sofort das Signal zur Flucht geben. Doch bisher gibt es keine verlässliche Methode, Beben vorzeitig zu erkennen. Dabei haben die Forscher den Grundwasserspiegel, die elektrische Spannung und mechanische Dehnung des Untergrunds und sogar Tiere untersucht, deren Verhalten sich angeblich vor Erdstößen ändert.

So bleibt den Wissenschaftlern nur, allgemein vor einer Erdbebengefahr zu warnen. "Es gibt große Erdbebengürtel auf der Welt", sagt Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum Potsdam. "Einer spannt sich rings um den Pazifik, der zweite geht durch das Mittelmeer bis zum Himalaya." Aber der Professor weiß auch, dass gerade die Menschen in ärmeren Ländern anderes zu tun haben als ihre Häuser für ein Erdbeben vorzubereiten, dass irgendwann in ihrer Lebenszeit kommen könnte. "Da muss erstmal das Brot auf den Tisch."

Gerade in den armen Ländern mit ihren enorm wachsenden Städten aber wird aus der Erdbebengefahr ein Erdbebenrisiko. Für Geologen beinhaltet es auch Informationen über die Zahl der bedrohten Menschen und ihres Lebensumfeldes. Wohnen sie in armseligen Hütten oder solide gebauten Häusern? Drohen nach dem Erdbeben Schlammlawinen, Flutwellen oder Feuer? Gibt es ein funktionierendes Gemeinwesen, Rettungsdienste und Krankenhäuser? An einer Weltkarte des Erdbebenrisikos, das solche Faktoren aufnimmt, arbeiten die Geologen noch.

Einer Gesamtschau am nächsten war 2001 die Organisation Geohazards International gekommen, die Büros in Palo Alto, Kalifornien und der indischen Hauptstadt Delhi unterhält. Sie hatte für 21 Städte, die sich um die Teilnahme beworben hatten, ein umfassendes Erdbebenrisiko berechnet, bis hin zur Zahl der möglichen Toten.

Ganz oben auf der Liste stand damals Nepals Hauptstadt Kathmandu. Die Experten rechneten hier mit 70.000 Toten, gut vier Prozent der Bevölkerung. Tatsächlich liegt Kathmandu in der am stärksten für Erdbeben anfälligen Zone des Himalaya.

Auf dem zweiten Platz stand Istanbul mit 55.000 möglichen Toten. Etwas südlich der türkischen Metropole verläuft die Nordanatolische Verwerfung. "Hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten viel schwere Erdbeben gegeben, genau der Reihe nach von Osten nach Westen", sagt Tobias Hergert vom Karlsruhe Institut für Technologie. "Nur südlich von Istanbul ist eine Lücke."

Erdboden "nahe dem Versagen"

Hergert hat die Geologie der Region soeben per Computer simuliert, weil sich die Verwerfung im Marmara-Meer in drei Linien aufteilt (Nature Geoscience, online). Am wahrscheinlichsten sei ein Beben ausgerechnet in der nördlichsten, die der Metropole am nächsten liegt, sagt er. Seit Jahren geben Geologen das Risiko für Istanbul mit 60 Prozent an, innerhalb von 30 Jahren ein Beben mit der Stärke von 7,0 oder größer zu erleben. Und schon die Flutwelle im September 2009 hatte gezeigt, dass viele Häuser der Stadt schlecht gebaut sind.

Erdbeben in Haiti, Reuters

Ein Bild der Verwüstung hinterließ das Erdbeben in Haiti.

(Foto: Foto: Reuters)

Große Sorgen macht den Geologen auch die Stadt Padang auf Sumatra. Sie liegt gleich an zwei Erdbebenlinien, der Nord-Sumatra-Verwerfung und dem Sunda-Graben. Hunderte Kilometer nördlich von Padang wurden an Weihnachten 2004 die gewaltigen Tsunamis ausgelöst. Seither hat die Region mindestens drei weitere schwere Beben erlebt. Aber gerade die Passage des Sundagrabens vor Padang ist noch nicht gebrochen. Britische Forscher warnen daher nun ebenfalls in Nature Geosciences (online), der Erdboden sei "nahe dem Versagen"; es drohe eine Katastrophe mit ähnlich vielen Toten wie Weihnachten 2004.

Ein großes Risiko bescheinigen Erdbebenforscher auch den Städten Dehradun, im Norden Indiens in den Ausläufern des Himalaya gelegen, Teheran, Birmas größter Stadt Rangun, Manila und Karatschi. Überall dort treffen Armut, hohe Bevölkerungszahlen, schlechte Bausubstanz und Erdbebengefahr zusammen. Die Städte in Pakistan, Birma und auf den Philippinen teilen zudem einen weiteren Faktor, den sogenannten Mexiko-City-Effekt. Die Stadt wurde 1985 von einem Beben erschüttert, das seinen Herd mehr als 300 Kilometer entfernt hatte. Weiche Sedimente im Untergrund aber verstärkten die durch die Distanz abgeschwächten Erschütterung so sehr, dass viele Häuser einstürzten.

Als einzige Stadt aus einem Industrieland gehört Tokio in die Liste der Orte mit dem höchsten Risiko. Ein Beben dort ist nach Ansicht vieler Experten im Prinzip überfällig. Es würde eine Metropolregion von mehr als 30 Millionen Menschen treffen. Und auch wenn die Japaner sehr viel Geld in erdbebensichere Bauten gesteckt haben, halten es Experten wie Anselm Smolka vom Rückversicherungskonzern Munich Re für möglich, dass es "einige zehntausend Tote" geben könnte.

Hinzu kämen wirtschaftliche Schäden, die womöglich Billionen Dollar erreichen. Zur menschlichen Katastrophe käme die wirtschaftliche, die sich auf die Welt ausdehnen und zur globalen Wirtschaftskrise auswachsen könnte. Auf dem Naturgefahren-Risikoindex für Megastädte des Konzerns steht Tokio daher mit weitem Abstand auf Platz eins.

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