Erbgut-Forschung:Die Spur der Gene

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Wer ist Finne, wer ist Italiener? Das Erbgut verrät viel über ihre Träger. Forscher können damit sogar die Europäer unterscheiden.

Hanno Charisius

Im Mittelalter wären Anne Wojcicki und Linda Avey wohl als Hexen verdächtigt worden. Sie sehen gut aus, sind intelligent und charmant. Sie sammeln Spucke von ihren Mitmenschen. Und sie behaupten, in die Zukunft sehen zu können.

Geschichte aus dem Reagenzglas: Gene verraten viel über Herkunft und Vergangenheit von Menschen. (Foto: Foto: AP)

Auch im Jahr 2008 führt die Geschäftsidee der Biologinnen immerhin noch zu Streit. Aus Speichelproben der Kunden gewinnen sie in ihrem Institut "23 and Me" Erbmaterial und suchen nach Hinweisen auf Krankheitsrisiken - was Kritiker als Scharlatanerie abtun.

Doch ein Stück Vergangenheit lässt sich aus den Genen lesen, das zeigen zwei aktuelle Studien. Zumindest in Europa ist das Erbgut einer Person eng mit ihrer geographischen Herkunft verknüpft. Während die eine Forschergruppe um den kalifornischen Evolutionsgenetiker John Novembre behauptet, sie könne teils bis "auf wenige hundert Kilometer genau" feststellen, wo in der Europäischen Union eine Testperson geboren ist, gibt sich das andere Team zurückhaltender:

"Wir können mit einiger Sicherheit bestimmen, ob eine Person aus Süd-, West-, Ost- oder Nordeuropa stammt", sagt Studienleiter Manfred Kayser von der Erasmus Universität in Rotterdam. Noch grober gerastert schafft es auch der Service von Wojcicki und Avey. In ihrer anonymisierten Datenbank können Kunden nach ihren genetischen Wurzeln suchen.

Wirklich überrascht geben sich die Forscher nicht von ihren Ergebnissen. Frühere Studien hatten bereits darauf hingewiesen. Es sei naheliegend gewesen, sagt Kayser, dass es "sehr kleine, aber doch messbare Erbgutvariationen" gibt, durch die sich Bevölkerungsgruppen unterscheiden lassen.

Finnen heben sich ab

Verhältnismäßig deutlich heben sich etwa die Gene der Finnen, die lange Zeit relativ isoliert lebten und auf eine kleine Gruppe von Siedlern zurückgehen, vom restlichen Erbgut Europas ab. Auch feine genetische Unterschiede zwischen Italienern und den restlichen Europäern hat Kayser beobachtet. Kleiner sind die Unterschiede zwischen der nord- und süddeutschen Bevölkerung. In der Schweiz will John Novembre gar Unterschiede zwischen den deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Gruppen erkennen.

Theoretisch sei sogar eine noch feinere Auflösung möglich, vermutet Michael Krawczak von der Universität Kiel, der zweite führende Kopf hinter Kaysers Studie. In Kiel werde zum Beispiel selten über die Förde hinweg geheiratet, die die Stadt in zwei Hälften teilt. Diese Separation könnte bereits genügen, um Spuren im Erbgut der Bevölkerung zu hinterlassen.

Die Kriminalpolizei dürfte sich über solche Details freuen, sollte die Methode einmal zuverlässige Ortsbestimmungen zulassen. Auch Pharmafirmen schauen sich die Ergebnisse interessiert an. Einige der Erbgutvarianten könnten entscheidend dafür sein, wie ein Medikament wirkt - je nach Herkunft des Patienten.

Im Süden Europas registrierten beide Arbeitsgruppen eine größere genetische Vielfalt als in nördlichen Ländern. Für Manfred Kayser ist das ein Beleg dafür, dass Europa tatsächlich vor mehreren zehntausend Jahren von Süden aus besiedelt wurde, so wie es in den Lehrbüchern steht. Demnach liegen die Ursprünge der Menschheit in Afrika. Vor etwa 60000 Jahren machte sich eine Gruppe auf und zog in den Nahen Osten.

Dann ging es weiter nach Europa, Zentralasien und schließlich nach Australien und Amerika. DNS-Analysen sollen Zwischenstationen der Wanderschaft des Menschen aufklären. Die als Genographic Project bekannte Studie will die Verbreitungsgeschichte der Menschheit aus dem Erbgut von 100000 Freiwilligen herauslesen

Zurück bis zu den Ur-Ahnen

Ein spezieller Teil des Erbguts lässt Forscher bei diesem Vorhaben hunderttausend Jahre und weiter in die Vergangenheit blicken. Während der größte Teil des Genoms von Generation zu Generation aus den Genen der Eltern neu zusammengemixt wird, gibt es zwei Konstanten. Einmal kleine Erbgutschnipsel, sogenannte mitochondrielle DNS, die ausschließlich von der Mutter an ihre Kinder vererbt wird.

Und das Y-Chromosom, das jeder Sohn vom Vater erhält. Beide werden praktisch unverändert von Generation zu Generation weitergegeben. So kann man seine genetischen Vorfahren bis zu dem Punkt zurückverfolgen, an dem zufällig eine Mutation stattfand. Und von dort weiter in die Vergangenheit. So konnten Forscher die mütterliche Ahnenlinie der Menschheit bis zu einer Frau nachzeichnen, die vor etwa 150.000 Jahren gelebt hat. Der älteste männliche Universal-Ahn lebte vor etwa 35.000 bis 90.000 Jahren.

Jeder Mensch trägt noch heute Spuren dieser Vorfahren in sich. Dass aus den Genen auch Auskünfte über die Zukunft der Menschheit gelesen werden könnte, bezweifelt aber Manfred Kayser. Trotz fortschreitender Globalisierung werde man die genetischen Unterschiede vermutlich auch noch in einigen Generationen finden können. "Auch wenn der Arbeitsmarkt immer globaler wird, heißt das noch nicht, dass auch die kulturellen Barrieren abgebaut werden."

© SZ vom 15.09.2008/ssc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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